Es ist der neunundzwanzigste Mai. Joshuas Abiturball, sein Eintritt in das Leben, was erst nach der Schule richtig anfängt.
Wir laufen auf die Eingangsflügel der Veranstaltungshalle zu. Meine Mutter wirkt in ihrem Cocktailkleid wieder wie einundzwanzig und auch ich fühle mich zurückversetzt in meinen Abiturball letztes Jahr. Denn ich trage das bodenlange Kleid mit den Einschnitten an der Taille. Das marineblaue, welches ich damals trug, nachdem Max es mir ausgesucht hatte.
Das ist einer der Gründe, weswegen ich selbstbewusst durch das Eingangsportal stöckele, mit meinen Eltern auf den Fersen und meinem Bruder vor mir. Ich halte dem Türsteher meine geschlossene Faust hin, auf die er den roten Stempel drückt. Das Motto von Joshuas Abschlussklasse ist darauf abgebildet, jedoch betrachte ich es nicht genauer, da die Mottos unserer Schule nie besonders originell ausfallen.
Wir treten über die Schwelle des Torbogens und ein riesiger Raum erstreckt sich vor meinen Augen. Weiße Marmorwände bieten Kontrast zu dem dunklen Boden. Drei Stufen führen ganz links in der Halle hoch zur Bühne, auf der später Ballkönig und Ballkönigin gekrönt werden und auf der im Moment die Schulband spielt. Es sind bestimmt noch nicht alle angekommen, trotzdem scheint es als würde keiner mehr hier hinein passen. Schon jetzt tummeln sich dutzende große Gruppen von Leuten und weigern sich, sich an die Tische zu setzen, die über die ganze Halle verteilt stehen und den meisten Platz wegnehmen.
Erst auf den zweiten Blick registriere ich die unzähligen Kronenleuchtern an der Decke, die weit hinunterhängen und dass die gesamte Wand hinter mir von Spiegeln bedeckt ist. Womöglich handelt es sich bei dieser Halle um ein Tanzstudio. Jedenfalls war letztes Jahr für meinen Jahrgang eine wesentlich schlichtere Veranstaltungshalle gebucht gewesen.
»Aufstellen für ein Foto bitte, Familie!«, fordert uns ein Fotograf auf.
»Nein«, klagt Joshua langgezogen. Es klingt fast schon so, als wüsste er, dass er keine Chance hat.
»Komm, Joshi, mein Schatz! Abiball ist nur einmal.«
»Ein Foto, mein Sohn.«
Er verdreht seine Augen und stöhnt. Marianne zieht ihn an seiner Fliege vor sich und Ted vor den Green Screen. Ich stelle mich neben meinen Bruder, lege meine Hand auf seine Schulter und lächele stolzerfüllt in die Kamera. Letztes Jahr lag seine Hand auf meiner Schulter. Heute vor einem Jahr war so vieles noch anders. Und doch vollführe ich dieselbe Geste.
Es blitzt mehrere Male, bis der Fotograf uns ein Handzeichen gibt.
»Wir sehen uns später«, entscheidet Joshua.
»Ja, am Tisch!«, lächelt Marianne. Sie streicht ihrem Sohn über seinen Anzug und kurz über seine Haare.
Von unserem uns zugeteilten Platz habe ich einen guten Überblick über die Halle, ich sitze an der Spiegelwand. Ich sehe mich nach Viktoria um, ob sie vielleicht nahe bei uns einen Tisch hat. Statt ihr geht jemand bekanntes an mir vorbei. Ist es wirklich –
»Jeremiah!«, rufe ich. Der junge Mann wirbelt herum und tatsächlich: es ist Jeremay, der nun mit einem verdutzten Ausdruck einen Schritt auf mich zu macht. In der zwölften Klasse fanden wir zueinander - nach unserem Abschluss trennten sich unsere Wege.
»Lynn.« Er pustet sich eine Haarsträhne aus dem Mund. Ich hätte wissen müssen, dass er sich auch nach seinem Abitur nicht den heutigen Trends anpasst. Nein, Jeremiah nicht. Genau als die Bieberfrisur aus der Mode ging, ließ er sie sich schneiden und trägt sie noch Jahre danach. Doch in gewisser Weise rundet es sein Äußeres perfekt ab. Es schmeichelt den grün funkelnden Augen, dem runden Gesicht und lenkt den Fokus von der leicht schiefen Nase ab.
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September Rain
Teen Fiction"Because sometimes, 'forever' only means one infinity." Drew und Max teilten bis zu seinem tödlichen Unfall eine kleine Unendlichkeit. Als diese dann das plötzliche Ende fand, hatte Drew jegliche Hoffnung in das Schicksal verloren. Doch nach einem h...