Es war schon vorherzusehen, dass das Unwetter nicht einmal für den Tag aussetzen kann, an dem meine beste Freundin mich verlässt und nach Amerika fliegt.
Amanda neben mir auf der Rückbank wirkt ausgeglichen, trotz der bevorstehenden Veränderung in ihrem Leben. Diese quirlige, verspielte junge Frau wird in Ohio studieren, noch diesen Monat – ich kann es nicht fassen. Wenn ich sie ansehe, wie sie so neben mir sitzt, den Blick aus dem Fenster gerichtet um letzte Blicke von ihrem Heimatland zu erhaschen, kommt mir ein Bild vor Augen von einer fünfjährigen Amanda, einer Amanda, die völlig aufgelöst in meine Arme rennt, tragend zwei geflochtene Zöpfe. »Tommy hat mir an den Haaren gezogen!«, höre ich ihre hohe Stimme sagen.
»Papa, leg 'nen Zahn zu, den Ferrari da vorne wirst du wohl überholen können«, stichelt dasselbe Mädchen ihren Vater, nun vierzehn Jahre älter.
»Für gewöhnlich klar, mein Schatz, aber heute schone ich unseren Opel nur für den einen Tag, er kann nun mal nicht immer an den Sportwagen vorbeibrausen.« Niklas zwinkert seiner Tochter durch den Rückspiegel zu. Ich lehne mich glücklich zurück. Bei den Oltmanns fühle ich mich wohl, was daran liegt, dass ich seit dem Kindergarten mit Amanda befreundet bin. Ich liebe die Sticheleien, Witze und die Ironie in dieser Familie.
Annalenas Hand liegt auf Niklas' Hand, welche die Kupplung betätigt. Sie unterscheidet sich in so vielem von meiner Mutter, während Niklas ebenso eine herzliche Erscheinung wie Ted ist. Früher nannten Amanda und ich unsere Väter die ›Teddybären‹. Mit ein Grund dafür, warum ich Ted oft Ted nenne, anstatt Papa. An seinen runden, weichen Bauch kuschelte ich mich oft und vergrub meinen Kopf darin. Das konnte man so wunderbar bei ihm tun.
Wo ich über meine Familie nachdenke, vermisse ich sie und freue mich, sie gleich wiederzusehen. Sogar Joshuas schlechte Laune kann mir heute nichts.
»Entschuldige noch mal, wegen gestern«, murmelt mir Amanda zu.
»Zum hundertsten Mal, es ist okay«, beschwichtige ich sie. Tatsächlich entschuldigte sie sich mehrmals für ihren Satz auf der Feier zu Will und mir, nachdem ich ihr heute früh in ihrem Zimmer die ganze Geschichte erzählt hatte.
»Die Menschen in Ohio sollten sich glücklich schätzen, dass ich dort die nächsten zwei Jahre erstmal keinen Alkohol trinken darf«, sagt sie.
Eine kurze Weile darauf parkt Niklas am Flughafen. Eine merkwürdige Aufbruchsstimmung hängt in der Luft, als wir gemeinsam Amandas drei Koffer aus dem Kofferraum hieven. Wir wissen alle, dass sie gehen wird, vollends realisieren wie es ohne sie sein wird, tun wir aber noch nicht.
Meine Freundin quietscht wie eh und je, weil der starke Regen die zierliche Frau beinahe wegspült. Sie wirft sich ihre Jacke über und hält sich die Kapuze auf ihrem Kopf fest, während sie schnell laufend auf den gigantischen Eingang zusteuert.
Ich gehe ihr nach; hinter mir her ziehe ich so gut wie es eben mit meiner verletzten Hand geht einen ihrer Koffer, welche sicherlich allesamt Übergewicht haben. In der Eingangshalle angekommen stehen die Oltmanns und ich in einem Kreis und suchen auf Amandas Flugticket nach ihrem Gate.
»B18!«, ruft Annalena aus, ihr Finger liegt unter dem Buchstaben und den zwei Ziffern. »Hier den Gang entlang rechts.« Wir folgen den Ausschilderungen, bis wir das Gate finden und Amanda dabei zuschauen, wie sie ihr Gepäck aufgibt. Niemanden von uns wundert es, als sie dem Mann hinter dem Schalter ihre Kreditkarte geben muss, wegen den Übergewichten der Koffer. Aber ich kenne meine Freundin, sie bezahlt lieber mehr als das sie nicht ihren gesamten Kleiderschrank mit nach Ohio nehmen kann.
»So«, sagt Niklas eine halbe Stunde später vor den Bändern, die zur Sicherheitskontrolle führen. Es scheint als würden wir alle innerlich seufzen. Niklas hat seinen Arm um seine Frau gelegt. Ich stehe ein wenig abseits, denn Amandas Eltern sollen sich alleine von ihrer Tochter verabschieden. Mit gemischten Gefühlen sehe ich ihnen dabei zu. Amanda liegt minutenlang in beiden Armen. Bei allen dreien spiegelt sich Trauer im Gesicht. Mein eigenes Herz schmerzt ebenfalls, aber auch erfüllt es mich mit Stolz. Ich kenne so gut wie jede Kante und Ecke von Amanda, ihre Vergangenheit, ihre ehemaligen Liebespartner und Freunde, ihre Stärken und Schwächen. Ich kenne den Teller voller Tabletten, die sie alle vor ihrer ersten Mahlzeit am Morgen schlucken muss, ich kenne sie fast so wie ich mich kenne. Insofern weiß ich, das Ohio kein einfacher Entschluss für sie war und bin umso stolzer, dass sie ihr Schicksal in die Hand nimmt.
Es ist soweit, ich bin nun dran und halte Amanda fest in meinen Armen. Meine Nase steckt in ihren duftenden Haaren. Ich werde ihr niemals die Zeit vergessen, die sie mit mir verbrachte, die unzähligen Stunden, in denen ich ihr T-Shirt mit meinen Tränen durchnässte, im September und in den darauffolgenden schrecklichen Monaten.
»Danke«, flüstere ich simpel. Wir tauschen einen letzten tiefen Blick aus, gefüllt mit Liebe der letzten fünfzehn Jahre.
Dann geselle ich mich neben Annalena, die ihre Hand schniefend an meine Taille legt. Amanda lächelt und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie winkt uns zu. Bei dieser Bewegung bricht es auch bei mir aus. Bitterlich schluchze ich auf. Amanda dreht sich traurig lächelnd um. Durch tränengefüllte Augen blicke ich ihr hinterher. Sie, mit den kurzen widerspenstigen Haaren unter ihrer Cap, mit dem Rucksack, den sie halbherzig über einer Schulter trägt. In meinem verschwommenen Blickfeld verschwindet ihre Figur letztlich hinter einer Ecke.
Das Bild von der gehenden Amanda hat sich in meinem Kopf eingebrannt. Im Stundentakt taucht es vor meinem inneren Auge auf, noch heute, zwei Tage danach. Sie hätte bei mir bleiben müssen. Mich unterstützen. Gerade jetzt, wo ich in der Sache mit Will tief drin stecke, sollte sie dabei helfen, meinen Kopf über Wasser zuhalten.
Gedankenverloren nippe ich an meinem Eistee. Die Eiswürfel klackern in der Flasche gegen den Kunststoff, genau so wie meine Gedanken in meinem Gehirn gegen meinen Kopf.
Plötzlich erhellt sich der Bildschirmschoner von meinem Laptop neben mir auf dem Bett. Amanda ruft an. »Hi!«, trällert sie nach meiner Anrufsabnahme. »Es ist unglaublich hier!«
»Toll«, ziere ich mich zu einem Lächeln. So gern ich es auch würde, kann ich meine Gefühle nicht verbergen. Nicht vor meiner besten Freundin.
Es war vorhersehbar, dass sie es bemerkt. Ihr kann man nichts vormachen. Ihre glückliche Miene zerfällt und sie fragt: »Was ist los?«
Um meine Antwort hinauszuzögern, vor der es mir bangt, nehme ich das pinkfarbene Mundstück der Flasche in den Mund und täusche vor, Eistee zu trinken. Das Getränk schwappt an meine Lippen und ich mache kreisende Handbewegungen, die ihr bedeuten sollen, dass ich ihr sobald ich getrunken habe antworten werde. Leider ist nicht mehr viel Inhalt in der Flasche und wer trinkt schon an einem Dienstag Nachmittag Eistee auf Ex?
»Courtney, ich bin nicht blöd.« Amandas eine Augenbraue schwebt weit über ihrem Auge.
»Ist ja gut.« Ich huste, weil ich mich verschluckte.
»Einfach raus mit der Sprache.«
»Musstestdu jetzt schon gehen?«
Sie legt ihren Kopf schief und spricht mit funkelnden Augen zu mir. »Ja. Du warst bereit und stark genug. Du hast eine Familie, die dich liebt und unterstützt und ich bin nicht von der Welt, nur auf der anderen Seite.«
»Amerika ist nicht auf der anderen Seite der Welt«, werfe ich ein. »Obwohl – das liegt ganz im Auge des Betrachters.«
Amanda lacht herzlich. »Siehst du, Drew, du hast sogar dich selber, du, die von morgens bis abends philosophiert und analysiert und sich selber die größte Hilfe ist und sowieso ein starker Mensch.« Sie entlockt mir ein Lächeln, trotz der Enttäuschung, die ich noch verspüre.
»Es war richtig, dass ich gegangen bin. Du schaffst das. Für die Zukunft bleibt dir noch Will. Er wird dir jeder Zeit mit der Last deines Koffers helfen und immer, wenn du darum bittest, den anderen Henkel ergreifen.« Eine kurze Pause tritt ein, bis Amanda verblüfft den Kopf schüttelt. »Oh man, weißt du was für einen schleimigen Psychologen du aus mir gemacht hast?«
»Ja«, lache ich bitter. »Da habe ich gute Arbeit geleistet.«
Eine Stunde lang tauschen wir uns noch über die verschiedensten Dinge aus, größtenteils über ihr Studium in Ohio. Wobei sie all die schönen Worte an mich richtete, sticht etwas in mir, als wir unser Videotelefonat beenden.
»Jeder Mensch hat seine Päckchen zu tragen«,pflegt Amanda zu sagen. »Bei manchen sind es Koffer, bei anderen Pakete und bei manchen nur Briefe und was es von all dem ist, ist subjektiv. Meistens hat man alleine damit zu kämpfen, doch die Hilfe von anderen ist entscheidend für den Weg zur Akzeptanz und sollte nie vergessen werden.«
Mein Koffer wird leichter werden, das wird jede Last mit der Zeit. Amanda hat Recht: Will kann mir dabei helfen.
★
Kurzer Zwischenstand - wie gefällt's euch so? Was kann ich besser machen? Was soll ich beibehalten und gaanz wichtig: Wer ist euer Lieblingscharakter? :)
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September Rain
Novela Juvenil"Because sometimes, 'forever' only means one infinity." Drew und Max teilten bis zu seinem tödlichen Unfall eine kleine Unendlichkeit. Als diese dann das plötzliche Ende fand, hatte Drew jegliche Hoffnung in das Schicksal verloren. Doch nach einem h...