Ja. Ja, er spricht mit demselben Akzent. Aber seine Stimme liegt mindestens eine Tonlage tiefer, wodurch er älter wirkt. Ist er denn älter? Ist er Max' Bruder? Es interessiert mich brennend, alles an ihm. Er sagte Morganson. Erwähnte Max nicht auch einmal, sein Bruder hieße William oder in der Art? Er erzählte nie viel über ihn. Bloß erklärte er mir, dass er bei seiner Mutter lebte und sein Bruder bei seinem Vater in einer anderen Stadt.Mir fällt auf, dass ich nicht geantwortet habe. Auch ist Wills Hand mir noch entgegen gestreckt, welche ich jetzt unsicher ergreife. Als ich seine Haut berühre, zuckt es wie ein Stromschlag durch meinen Körper und ein wohlig warmes Gefühl breitet sich in mir aus.
»Drew«, murmele ich.
»Ich weiß«, sagt Will. Er lächelt. Er lächelt mit Grübchen. Mit süßen, atemberaubenden Max-Grübchen. »Ich bin Max' Bruder.«
Wie hypnotisiert lasse ich seine Hand los und bleibe stehen, ohne ein Wort zu sagen. Der Schock sitzt tief. Wie lange wird es sich wohl noch wie ein Traum anfühlen?
Marianne kommt mit einem großen Handtuch um die Ecke. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie weg war. »Hier, trockne dich erstmal ab.«
Ich löse meinen Blick widerwillig von Will, entledige mich meinem Cape und meinen schlammigen Boots und wickle mich in das Handtuch. Von meiner Mutter lasse ich mich ins Wohnzimmer führen, wo sie mich zum Sofa schiebt, auf das ich mich ohne ein Wort zu verlieren setze. Sofort spüre ich Wills Anwesenheit, noch bevor er sich mir gegenüber setzt. Ich spüre, wie mir das Blut wieder in Hände, Füße und Kopf schießt. Ich kontrolliere meinen Atem und massiere meine Schläfen. Was mache ich hier?, frage ich mich selber in meinem Kopf. Will ist mir gegenüber, verdammt noch mal Will, ein Morganson. Ich könnte schwören, während ich ihn ansehe, kommt mir nichts unwirklicher als das vor. Ein wenig verschwimmt sein Gesicht vor meinen Augen. Es ist, als würden mir meine Augen selber sagen, dass das hier nicht Realität ist und ich deswegen gar nicht richtig zu sehen brauche.
»Soll ich anfangen, Will?«, spricht plötzlich Marianne in die Stille. Wir sitzen zu dritt im Wohnzimmer – Joshua und Ted lassen sich nirgendwo blicken.
Erwartungsvoll beobachte ich Will und wie sein Mund sich öffnet. »Gerne, wenn du möchtest.«
Meine Haut kribbelt. Er soll nicht aufhören zu reden. Er soll nicht aufhören zu lächeln, zu sitzen, sich durch die Locken zu streichen. Hör bitte einfach nicht auf, hier zu sein, Will. Hör bitte nicht auf, hier zu sein, Max.
Ich atme hörbar aus. Hielt ich tatsächlich die Luft an, weil er sprach? Ich traue mich, ihm direkt in seine grauen Augen zu sehen. Er hält meinem Blick stand. In seinen Augen spiegelt sich ein Ausdruck von Verständnis und Unsicherheit, gleichzeitig eine Stärke, an der es mir seit sechs Monaten mangelt.
»Nun gut«, höre ich Marianne. Für mich klingt es jedoch lediglich wie ein Hintergrundgeräusch. »Schatz«, versucht sie, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Aber Will senkt seine Lider, so dass ich seine schwarzen, dichten Wimpern erkenne. Für einen Moment denke ich, ich habe etwas falsch gemacht. Doch dann hebt er wieder seinen Blick und legt ihn auf mich.
»Drewlynn-Courtney Steward!«
»Was!«, fahre ich meine Mutter an.
Ihre Miene wird weicher, beinahe mitleidig. »Du hast sicher eine Menge Fragen.«
»Ja, die habe ich«, entgegne ich unwirsch. Ohne einen mir bekannten Grund verspüre ich auf einmal eine Ablehnung gegenüber Marianne. Möglicherweise weil sie wusste, dass ich nach Hause kommen würde und sie mich nicht vorwarnte, jemand sei da, der meinem toten Freund wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Ist ihr überhaupt ansatzweise bewusst, wie sehr mich Wills Anwesenheit aus der Bahn wirft? Es fühlt sich wie ein Tornado in mir an. Glück, Freude, Angst, Sehnsucht, Liebe, Verzweiflung... Alles auf einmal zusammen, in mir. Ich fühle mich von dem jungen Mann vor mir angezogen und möchte nichts sehnlicher als ihn berühren, ihm durch seine Haare fahren und an seinen Lippen hängen, den beruhigenden, tiefen Klang seiner Stimme hören. Gleichzeitig will ich weglaufen, weit weg, weil die Ungewissheit mich plagt. Was macht er hier? Wird er wiederkommen?
Während mein Herz Saltos schlägt und meine Haut kribbelt, weil Will Morganson hier ist, sticht gleichzeitig jede Sekunde, die verstreicht etwas in meinem Brustkorb, in meinem Herzen. Der Grund dafür ist ganz einfach: In dem Mann vor mir sehe ich keinen mir fremden Menschen, den ich heute zum ersten Mal in meinem Leben sehe und bis jetzt kaum ein Wort mit ihm wechselte – nein. In ihm sehe ich Max. Niemand anderen als meinen engelsgleichen Max. Deswegen muss ich lächeln, weil ich Will lächeln sehe und verspüre zugleich dieses kurze, schwache Stechen in meiner Brust.
»Also, Drewlynn. Ich-« In dem Augenblick unterbricht ein lautes Rascheln meine Mutter. Es kommt von dem bodentiefen Fenster hinter den beiden Sesseln, auf denen Marianne und Will sitzen. Ein Zweig ist gegen die Scheibe gekommen – vermutlich auf Grund des Sturms, der gerade aufzieht. Scheinbar passt sich das Wetter meinen Gefühlen an.
»Soll das ein Zeichen sein?«, murmelt Marianne mehr zu sich selber. Sie streicht sich nervös eine Strähne hinter ihr Ohr. So erlebe ich sie nur selten. »Ich mache dir noch einen Kaffee, ja, Drewlynn?«
»Nein!«, rufe ich so laut, dass sie vor Schreck zurück in ihren Sessel fällt. Ihre Augen fixieren mich fürsorglich, eben wie die einer liebenden Mutter.
»Keinen Kaffee?«
»Keinen Kaffee.«
»Nun gut, dann...« Marianne lässt sich wieder tiefer in den Sessel sinken.
»Erzähl einfach, Mum«, bitte ich sie ungeduldig. Endlich will ich wissen, was hier vor sich geht.
»Will, trinkst du gerne Kaffee?« Ich stöhne laut auf. »Ist ja gut, ist ja gut«, seufzt sie und nippt an ihrem eigenen Kaffee in ihren Händen. »Schätzchen, wie du siehst, ist Max' älterer Bruder netterweise vorbei gekommen. Er wird dich in Zukunft öfters besuchen kommen. Warum, erfährst du von ihm.« Sie lächelt mir ermutigend zu.
Ich traue mich aber nicht, meinen Blick wieder Will zu zuwenden. Jedes Mal aufs neue habe ich Angst, ich könnte ihn nicht wieder von ihm nehmen.
»Ja«, krächzt Will. Er räuspert sich und fährt fort: »Um es kurz zu fassen: Max hinterließ mir einen Brief. In ihm heißt es, ähm...« Will zögert unsicher. »Am besten wäre es, glaube ich, wenn du ihn selber liest. Hier.«
Weil ich ihn noch immer nicht anschaue, höre ich bloß das Auseinanderfalten eines Blatt Papiers. Um es annehmen zu können, muss ich aufschauen. Kurz treffen sich unsere Blicke und mein Herz setzt einen Schlag aus. Einen weiteren, als sich für den Bruchteil einer Sekunde unsere Finger berühren.
Schnell senke ich meinen Blick auf das Blatt in meinen Händen. Ich merke, wie ich die Augenbrauen nachdenklich zusammen ziehe, weil ich versuche, Max' Schmierschrift zu entziffern.
Nach meinem persönlichen Brief für dich, Will, habe ich noch eine Bitte. Sozusagen meine letzte. Es geht um Drew.
Mein Atem stockt, als ich die nächsten Zeilen lese.
Ich werde hier keine Schnulze niederschreiben, du solltest nur wissen, dass sie das Wertvollste in meinem Leben ist. Ich liebe sie, darum wirst du dich um sie sorgen, wenn ich nicht mehr bin. Ich habe ja keine Ahnung, ob ich mittlerweile mit ihr verlobt bin. Wenn ja, dann hoffe ich doch, dass ich meinen Plan mit den Hausschweinen durchgezogen habe. Wenn nicht, kannst du mir dafür in die Eier treten, Will. Obwohl, das geht nicht mehr. Haha, dabei hattest du das doch noch vor. Du erinnerst dich, unsere Wette?
Vielleicht habe ich Drew sogar schon zu meiner Frau genommen, vielleicht trägt sie in ihrem Bauch gerade unser Baby oder unsere Kinder leben bereits auf dieser wundervollen Welt.
Etwas Nasses reißt mich aus den Zeilen. Ich bemerke, dass es eine Träne von mir war, die auf meine Hand traf. Aber ich muss weiterlesen.
Wie dem auch sei, das ist ganz egal. Was ich will ist, dass du dich um Drew sorgst. Sieh nach ihr, bitte, versprich es mir, spätestens nach einem halben Jahr, das ich nicht mehr an ihrer Seite bin. Das musst du mir versprechen, Bro. Und lass nicht locker, auch, wenn mein trotziger kleiner Engel keine Begeisterung zeigt.
Ich danke dir. Dein scheiß poetischer kleiner Bruder.
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September Rain
Teen Fiction"Because sometimes, 'forever' only means one infinity." Drew und Max teilten bis zu seinem tödlichen Unfall eine kleine Unendlichkeit. Als diese dann das plötzliche Ende fand, hatte Drew jegliche Hoffnung in das Schicksal verloren. Doch nach einem h...