Plottwist

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Es war wirklich überaus schwer zu beschreiben wie ich mich gefühlt habe. Glücklich? Erleichtert? Befreit? Befriedigt? All das würde irgendwie passen. Aber auch ängstlich. Angst war auch so ein Gefühl, dass in dem Moment in mir schlummerte. Aus welchen Gründen auch immer.
Das war also das berühmt berüchtigte erste Mal über das sich alle die Zunge zerreißen. Über das man Jahrelang nachdenkt und es selbst noch in Jahrzehnten seiner besten Freundin mit den Worten weißt du noch erzählt. Das erste Mal Sex. Das erste mal bis in die letzte Faser meines Körpers Frau sein. Das war es doch, oder?
Frau sein dürfen. Das Gefühl erleben, begehrenswert, schön, attraktiv und erotisch zu sein. Das war der erste Sex, dachte ich zumindest. In Wirklichkeit fühlte ich mich gerade ziemlich dämlich und recht wenig attraktiv. Ich fühlte mich angespannt. Wie war es gestern Nacht für ihn? War es gut genug? War es auch nur im entferntesten so schön für ihn wie es für mich war? Höchstwahrscheinlich nicht. Ich meine, dieser Mann muss hunderte Frauen im Bett gehabt haben. Er war attraktiv, schön und unfassbar charmant, wenn er nicht gerade ein Riesen Idiot war, der sich wie das letzte Arschloch verhielt.
Der Gedanke an andere Frauen jagte mir einen Schauer über den Rücken und mir wurde schlagartig übel.
Wie geht es jetzt weiter, dachte ich und starrte angespannt an die weiße Zimmerdecke von Mr. Morgan's Schlafzimmer.
Nach dem Sex hatte er mir angeboten, bei sich zu übernachten da weder er noch ich, aufgrund der Drinks auf der Party, gesetzlich in der Lage waren Auto zu fahren. Ich schlief in Unterwäsche. Nackt war mir unangenehm. Ich weiß, ich weiß, das klingt ziemlich dämlich wenn man rückblickend betrachtet, dass wir davor Sex hatten. Trotzdem fühlte ich mich so irgendwie wohler. Bekleideter. Sicherer.
Ich drehte mich zur rechten Seite und sah in das wundervoll perfekte Gesicht von Harrison und beobachtete wie sich sein Brustkorb rhythmisch hob und sank als er ruhig schlief, die Augen fest verschlossen. Seine Haare lagen strähnig in seinem Gesicht und seine linke Hand ruhte unter seinem
Kopfkissen. Umgeben von seinem betörenden Geruch lag ich also da und starrte Löcher in die Luft. Aber der Geruch hatte sich verändert. Es war fast so, als wäre der Geruch von unzähmbaren Verlangen gewichen und der Geruch nach Geborgenheit hinzu gekommen. Aber war das wirklich möglich? War es möglich, dass ich mich bei ihm so schnell so sicher und heim fühlen konnte?
Ein leises Seufzen ging von Harry aus und ich sah zu wie er die Augen zusammen kniff, fast so, als hätte er einen schlechten Traum oder ähnliche.
Ich erinnerte mich an jeden Moment des gestrigen Abends und merkte wie sehr ich mich wieder nach seiner Berührung sehnte.
Ich richtete mich zaghaft auf und fuhr mir nachdenklich durch die Haare. Was war nur passiert?
„Guten Morgen, Julia. Schön, dass du schon wach bist"
Ruckartig drehte ich mich zu Harry um und sah, dass er mit einem breiten Grinsen im Gesicht die Arme hinter den Kopf gelegt hatte.
„Morgen", antwortete ich resigniert und vermutlich ziemlich unfreundlich. Ich war mit der Situation, in Mr. Morgan's Bett zu liegen nachdem wir eine wilde Nacht hatten, einfach im Moment noch ein ganz kleines bisschen überfordert. Und die Überforderung wich garantiert nicht, wenn Harry mich so unfassbar zärtlich und liebevoll ansah. Um
Ehrlich zu sein löste es eher ein Gefühl von Panik und Unmut in mir aus. Hatte ich gestern Nacht etwas falsch gemacht?
Harry rückte näher an mich heran, griff nach meiner Hand und hauchte einen sanften Kuss auf die Innenfläche. Was war das denn jetzt?
„Du siehst wunderschön aus. Fast so wie gestern Nacht", er flüsterte fast und seine Stimme klang weich und warm.
„Danke", antwortete ich wieder resigniert und kam mir dabei ziemlich dämlich vor. Ich war noch nie wirklich gut darin, zu antworten wenn mir jemand ein Kompliment machte. Und die Betonung lag hierbei ganz klar auf wenn. Und jetzt sagt mir der hübscheste Mann ganz Londons ich sei schön. So kann sich alles endeten. Ich glaube in der Literatur nennt man das Plot twist. Auch wenn ich stark bezweifle, dass Shakespeare das als einen solchen bezeichnet hätte.
„Ich habe dich entjungfert", sagte er trocken und lies sich zurück auf sein Kissen fallen. Ah, da war der Macho ja wieder zurück. Ich hatte ihn tatsächlich schon vermisst.
Genervt und leicht belustigt verdrehte ich die Augen, schmiss die Beine über die Bettkante und stand so elegant es mir möglich war (ich und elegant...) aus dem Bett aus.
„Ey! Wo willst du hin?", rief Harry empört und schlang seine Arme um meine Hüfte um mich zurück ins Bett zu ziehen.
„Kurz ins Bad, mich frisch machen", kicherte ich und versuchte gegen seinen starken Griff anzukämpfen.
„Wo ist mein Handy?", fragte ich und lies mich zurück auf das Bett plumpsen.
Harry deutete auf ein flaches Sideboard gegenüber vom Uns. Schnell stand ich auf, bevor er wieder seine Arme um mich schlingen konnte und schnappte mir mein Handy von dem Board.
Geschockt starrte ich auf das erleuchtete Display als ich sah, dass ich 6 verpasste Anrufe von Fred hatte und unzählige WhatsApp. Nicht nur von Fred sondern zu allem übel auch noch von meiner Mutter.
Die Gedanken rasten nur so durch meinen Kopf. War etwa etwas passiert? Ging es meiner Mum gut? Was ist mit Fred? In weniger als einer Sekunde drückte ich den Grünen Hörer und rief besorgt Fred an. Es dauerte keine fünf Sekunden, da war er schon am Telefon.
„Hey", sprudelte es aus mir heraus, „ist alles okay bei dir?"
„Julia, wo bist du?", er klang ernst und beinahe böse. Irgendwie machte es mir etwas Angst.
Im Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Harry sich im Bett aufrichtete und mich aufmerksam musterte. Dabei viel mir auf, dass er nackt war, was mich im ersten Augenblick ein wenig irritierte, dann das ganze aber als einen ganz angenehmen Anblick so hin nahm. 
„Ist alles gut bei dir? Du hast mich ziemlich oft angerufen", ich entschied mich seine Frage zu ignorieren. Eigentlich erzählte ich ihm immer alle. Aber freiwillig. Und das scheint mir mehr nach Kontrolle als alles andere. Ich wusste nur noch nicht, warum Fred mich so dringend kontrollieren wollte.
„Du warst gestern aus. Mit ihm"
„Ja", stammelte ich resigniert und verwirrt, „was ist schon dabei?"
„Ihr hattet Sex"
„Selbst wenn es so wäre, dann-"
„Er macht es immer so! Julia, was soll das?", er schrie beinahe und Ich erschrak und hielt den Hörer ein wenig weg von meinem Ohr um mein Trommelfell nicht zu zerschmettern. So hatte ich Fred noch nie erlebt. Und wie kannten uns min schon geraume Zeit. Was heißen soll: mehrere Jahre.
„Fred, hör mir zu, du bist mein bester Freund, das weißt du auch, aber das ist mein-"
Harry war vom Bett aufgesprungen und neben mich geeilt.
„Hör mir jetzt mal genau zu", rief er und schien dabei ziemlich wütend, „lass sie doch einfach ihr scheiss eigenes Leben leben du Besessener!"
Die Antwort von Fred konnte ich nicht hören aber ich sah, wie Harry die Augen weit vor Entsetzen Aufriss.
„Und selbst wenn ist auch das ihre Sache", antwortete er und begann wild zu gestikulieren.
„Was ist meine Sache?", rief ich erschrocken und versuchte Harry den Hörer aus der Hand zu reißen, was, wenn man bedenkt, dass er gute zwei Köpf größer als ich war, ein äußerst schwieriges Unterfangen war.
„Du kennst sie doch gar nicht!", brüllte er ins Telefon bevor er sich dann an mich wandte:„ Julia lass mich mit ihm reden. Ich kläre das"
„Was denn klären?!", schrie ich ihn an. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein. Ich spürte regelrecht, wie das Adrenalin durch meine Adern rauschte und mir die Röte ins Gesicht stieg. Wie ich meine Hände reflexhafter zu Fäusten ballte und meine Stimme laut und energisch klang.
„Gib mir den Hörer", verlangte ich und Harry tat wie ihm geheißen, in dem er mir den Hörer aushändigte. Ich funkelte ihn böse an und lauschte.
„Ich habe deine Mutter angerufen", sagte Fred ruhig und gelassen als er bemerkte, dass ich wieder am Telefon war. Wie als wäre es das normalste der Welt. Er wusste genau so gut wie ich, dass er damit einen Fehler gemacht hatte und eindeutig zu weit gegangen war. Meine Mutter anzurufen, weil ich mit einem Typen aus war, war krank und auf eine seltsame Art und Weise widerlich.
„Du hast was?!", entsetzt riss ich die Augen auf und hielt mir mit der Hand den Mund zu, um nicht vor Panik gleich schreien zu müssen.
„Wieso in Gottes Namen hast du das getan?"
„Du hattest dich nicht gemeldet und da dachte ich-"
„Sag mal Fred, ganz ehrlich", ich versuchte wirklich ruhig zu bleiben. Ich dachte, er würde sich nur sorgen machen. Aber irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Das war verrückt. Er war ein verrückter, kontrollsüchtiger Stalker. Wieso um alles in der Welt tat er das? Es rauschten so viele Emotionen gleichzeitig durch meine Blutbahn, dass ich überhaupt nicht sagen konnte welche die Oberhand hatte. Wut, Entsetzen, Trauer, ein wenig Angst, Rage. Es waren einfach zu viele. Hitze pulsierte in meinem Kopf und benebelte meine Sinne.
„Schalt mal n Gang runter. Wir sind Freunde, okay? Aber wenn ich dir etwas nicht erzähle hat das-"
Ich spürte, wie mir der Höhrer aus der Hand gezerrt wurde. Gereizt und wütend wirbelte ich herum und beobachtete Harrison, der sich die linke Schläfe rieb und aufgebracht durchs Zimmer Schlich, wie eine Raubkatze, die auf der Lauer nach ihrer Beute lag und jeden Moment die Gelegenheit sah heraus zu springen und ihm die Haupschlagader durchzubeißen.
„Du wirst sie jetzt in Ruhe lassen. Hast du das verstanden, Frederik? Du wirst sie in Ruhe lassen und dich nicht mehr bei ihr blicken lassen. Erst recht nicht, wenn sie bei mir ist? Ich habe es dir schon mal gesagt. Ich wiederhole mich: hast du das verstanden?", die letzten Worte schrie er fast und ich zuckte merklich zusammen vor Schreck darüber, wie bedrohlich Harry wirkte wenn er wütend und in Rage war. Er legte das Telefon bei Seite und kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Ich wusste, dass er das Gespräch mit Fred beendet hatte und ich wusste ganz und gar nicht, wie ich das finden sollte. Er hatte für mich entschieden. Für mich in seinem Namen.
Er beugte sich zu mir hinunter um mir einen Kuss zu geben. Ich drehte mich allerdings weg und sah ihn aus großen Augen mit einer Mischung aus Wut und Ungläubigkeit an.
„Wieso hast du das getan?", flüsterte ich und stolperte ein paar Schritte nach hinten, sodass ich meinen Rücken gegen die Wand pressen musste.
„Ich dachte, ich kläre das besser bevor-"
„Falsch gedacht", meinte ich und bemerkte, wie meine Stimme zu zittern begann. Ob es vor Wut oder Angst war, wusste ich noch nicht.
„Julia, ich wollte nicht-", fing er an, aber ich war schon an ihm vorbei gehuscht, hatte meine Tasche von letzter Nacht gegriffen und rauschte aus seinem Appartement.
„Julia! Bitte warte!", rief er hinter mir her durch seine Wohnung aber ich hatte den Türklinke schon in der Hand und stürmte hinaus.
Draußen war es kalt. Ich verharrte einige Sekunde vor dem Haus und atmete zwei mal tief ein und aus, um mich selbst zu beruhigen, wobei ich merkte, dass ich immer noch extrem zitterig und vor allem wackelig auf den Beinen war. Ich stapfte durch den quietschenden Schnee und dachte an die letzte halbe Stunde. An die letzte Nacht. Meine Gedanken überschlugen sich rasend in meinem Kopf und ich hatte tausend Ideen was ich jetzt als nächste tun sollte. Mit Fred reden und mich entschuldigen? Nach Hause fahren und mich bei Harry entschuldigen? Aber wofür eigentlich? Fred war allen Anschein nach ein Kontrollfreak und auf eine beängstigende Weise, die mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen lies, auch eine Art Stalker. Und Harry? Hatte Harry nicht nur versucht zu helfen? Konnte er das überhaupt? Er hatte für mich entschieden und damit meine oberste Devise gebrochen. Ich bin frei, ich bin ich selbst und so entscheide ich auch. Wieso um alles in der Welt war es möglich, dass alles, was ich mir aufgebaut hatte innerhalb von wenigen Tagen komplett ins Wanken kommen konnte? Und da war ja noch ein gigantisches Problem, dem ich mir in den nächsten Stunden schnellen musste: meine Mutter. Alleine der Gedanke daran lies meinen Blutdruck ins unendliche schießen. Natürlich war es möglich, dass Fred meiner Mutter nur erzählt hat ich sei aus gegangen, es kann aber auch sein, was ich zur gegebenen Situation auch durchaus wahrscheinlicher fand, dass er ihr von Mr. Morgan erzählt hatte. Eigentlich wusste ich überhaupt nicht wieso mir dieses bevorstehende Gespräch solche Angst einflößte. Immerhin war sie meine Mutter und ich ein erwachsener Mensch, der durchaus in der Lage war eigene Entscheidungen zu treffen. Deshalb bin ich damals auch alleine nach London gezogen, habe mir Charlie als einen lieben und treuen Weggefährten besorgt und und und. Jede dieser Entscheidungen wurde von meiner Mutter missbilligt. Ganz vorne weg: meine Entscheidung Literaturwissenschaften zu studieren. Tja, wenn sie mal wüsste, dass ihre Tochter eine der renommiertesten Sex-Bloggerinnen überhaupt ist. Naja, ich gehe mal nicht davon aus, dass sie dieser Fakt stolz gemacht hätte. Wie ist es denn möglich, das ein gutes, liebes, braves Mädchen über solche Themen im Internet philosophiert?
Der Erfolg des Sex-Bloggs hatte mich übrigens in meiner Entscheidung bestärkt Literatur zu studieren. Eigentlich hatte ich schon einen Studienplatz in Liverpool für den Studiengang Marketingmanagment um nachher die Firma meines Vaters übernehmen zu können. Es war ein sicherer, zukunftsfähiger Job, sagten sie immer wieder wenn ich beteuerte wie gerne ich doch Literatur studieren wollte. Das wäre etwas für Tagträumer und Überdenker. Für Faule und Menschen mit Flausen im Kopf. Also bin ich damals gegen ihren Willen nach London gezogen und habe mich in Oxford eingeschrieben. Da wurden meine Eltern plötzlich wieder hellhörig: ein Studienplatz an einer Eliteuniversität Englands ändert die Situation natürlich wieder maßgeblich. Also ging ich alleine nach London, mit meinem Sex-Blog im Gepäck und einem Traum im Kopf. Und bis jetzt lief es eigentlich ganz gut. Bis jetzt war alles planner, kalkulierbar und geordnet. Bis jetzt.
Immer noch zitternd schob ich den Schlüssel in das Schloss meiner Apartmenttür und wurde direkt stürmisch von meinem kleinen Charlie begrüßt, der mir mit seiner Zunge direkt durch mein kaltes Gesicht schlabberte und freudig mit seiner Rute wedelte.
„Ich hab dich auch vermisst", sagte ich grinsend und kraulte ihn liebevoll den Bauch.
Ich überlegte, welcher Tag heute war wobei mir wie Schuppen von den Augen viel, dass ich noch einen Artikel für die aufkommende Woche bräuchte. Und das würde wohl oder über immer noch nicht der Sadismus-Artikel werden. Und irgendwie bezweifelte ich auch stark, dass der noch jemals online kommen würde.
Ich entschied mich stattdessen für das Thema: Was Ananas beim Oralverkehr alles ändern kann
Und verbrachte den Rest des Vormittags mit Schreiben. Wie immer. Wie es normal war. Wie ich es gewohnt war. Wie ich es liebte.
Ich brauchte Ewigkeiten um den Artikel zu schreiben. Nicht, weil es mich so viel Recherchearbeit kostete (man mag es gar nicht glauben aber es gibt erschrecken viele Menschen die es gruselig interessant finden, dass Ananas den Geschmack des Spermas positiv beeinflussen kann), sondern weil die Bilder des muskulösen Harrys die ganze Zeit in meinem Kopf erschienen wie nervige, kleine Popup Werbungen auf Amazon.
Die Harry Werbung hatte ihren Zweck erfüllt und ich griff neugierig zu meinem Handy um zu prüfen, ob er mir vielleicht geschrieben hatte.
Enttäuscht starrte ich auf das Display und las 29 neue Nachrichten von Fred, aber keine einzige von Mr. Arrogant. Er hielt es also nicht für nötig mir zu schreiben. Fein, dachte ich und legte mein Handy frustriert und leicht gereizt wieder zur Seite. Ich habe es aber auch nicht nötig.

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