Eine Nacht in Venedig

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„Meine Freigebigkeit ist so grenzenlos wie das Meer, meine Liebe so tief. Je mehr ich ihr gebe, desto mehr habe ich, denn beide sind unendlich"
„Ausgezeichnet, Mrs. Newwater. Diese Stelle stellt den perfekten Vergleich dar. Hat vielleicht noch jemand ein anderes Zitat, das ebenfalls auf das Sonett zutreffen würde?"
Selbstverständlich war es der perfekte Vergleich, dachte ich und stützte träge den Kopf auf meiner Hand ab. Es war ja auch schließlich aus Romeo und Julia. Julia, dieses kleine, naive Ding.
Die aufgehende Sonne flutete den Hörsaal mit ihrem goldgelben Licht, als Professor Clarkson vorne an der Tafel mein Zitat anschrieb.
Es war ein wunderschöner strahlender Morgen, der die Lust auf Frühling weckte. Auf Grillen im Garten, blühende Blumen und schwimmen am See.
Und trotzdem waren die Straßen noch mit einer dicken Schneeschicht bedeckt.
Verträumt blickte ich nach draußen und beobachtete die tanzenden Sonnenstrahlen auf dem Fensterglas als er sich plötzlich in ein Blickfeld drängte. Heute trug er schwarze zerrissenen Jeans und ein weißes T-Shirt, wodurch mir die Tattoos auffielen, die seinen gesamten linken Arm zierten. Seine Haare wirkten wieder umgemacht und er sah gelangweilt aus, so wie er mit seinen vor der Brust verschränkten Armen da saß.
Ich sog die Luft scharf ein, als ich seine muskulösen Oberarme begutachtete und überlegte, ob sein Bauch wohl auch so muskulös wäre. Er sah ganz anders aus als gestern in seinem adretten Anzug. Wie ein richtige Draufgänger blickte er nach vorne zur Tafel. Wie konnte er mir noch nie aufgefallen sein?
Die Stunde endete mal wieder wie im Fluge und wie jedes Mal sattelte ich als eine der ersten meine Tasche, schlüpfte in meine dicke Winterjacke und verließ den Hörsaal.
Ich war nur leider nicht die Einzigste, die den Saal so rasch verlassen hatte.

„Du bist ein ziemlich naives kleines Kind", hörte ich seine tiefe raunende Stimme hinter mir.
„Wie bitte?", fragte ich resigniert in der Hoffnung mich verhört zu haben.
„Mit 'ner Reitgerte und Handschellen? Wo hast du die Scheisse her?", er klang wütend und zugleich belustigt. Worüber belustigt? Keine Ahnung.
„I-ich weiß nicht wovon du redest", stammelte ich und drehte mich zügig von ihm weg.
„Julia Newwater, hälst du mich wirklich für dämlich?", er griff nach meinem Handgelenk und drehte mich so wieder zu ihm herum.
„Ich weiß wirklich nicht wovon du redest. Tut mir leid", die Schenkel aneinander gepresst und steht's darauf bedacht nicht zu viel von seinem betörenden Geruch einzuatmende stand ich da und blickte in die tiefsten Augen die ich je gesehen hatte.
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung von Sadismus", ich zuckte zusammen bei den Worten, versuchte aber die Fassung zu behalten.
„Stimmt. Ich weiß auch nicht wirklich warum du mich darauf ansprichst", meine Stimme wirkte so klein, schwach und brüchig. Wieso konnte ich mich nicht beherrschen?
„Du bist verdammt verklemmt und feige", er zog mich näher an seinen Körper, sodass wir nur noch Zentimeter voneinander entfernt standen. Ich spürte seinen Atem. Umhüllt von seinem Geruch. Betört von seinem Aussehen.
Er beugte sich neben mein Ohr und flüsterte leise und bestimmt: „ich wette, du bist noch Jungfrau"
Ich sog die Luft abermals scharf ein und sprang beinahe reflexartig weg von ihm.
„For fuck's sake! Was ist falsch bei dir?!", schrie ich, drehte mich schwungvoll um und stürmte davon.
Was glaubt er eigentlich wer er ist? Fein, dann hatte er halt meinen Artikel gelesen aber das befähigte ihn noch lange nicht dazu, mich auf mein Sexleben anzusprechen! Und dann auch noch so gerade heraus! Als wäre es nichts privates oder so?!
Aufgebracht stürmte ich über den Campus hin zu meinem Auto, stieg ein und knallte angewidert die Tür zu. Männer sind doch alle gleich. Perverse kleine Hurenböcke.
Eigentlich wollte ich nur Musik abspielen, als ich mein Handy entsperrte und zwei Nachrichten einflogen. Die eine war von Fred: Bock heute Abend vorbei zu schauen? Kannst auch Charlie mitbringen!:D
Die andere war von einer unbekannten Nummer: Netter Abgang, Kleine
Und ich wusste genau, von wem die Nachricht kam.

„Netter Abgang, Kleine? Netter ... Abgang?!", ich lief in meinem Apartment auf und ab, starrte gebannt auf die noch ungeöffnete Nachricht und hörte Charlie in der Küche leise winseln. Ich musste nachher dringend mit ihm spazieren gehen.
Was hatte der Typ nur für ein Problem?! Ich bin kein kleines Kind! Und naiv bin ich auch nicht. Ich bin eine starke, selbstbewusste junge Frau. Dachte ich zumindest. Also beschloss ich ihm zurück zu schreiben. Selbstbewusst. Und ihm erklären, dass ich nicht wirklich weiß, was er von mir will. Einfach mal dumm stellen und sehen was passiert. Einen weiteren Triumph wie mein hilflosen weglaufen von vorhin gönne ich diesem Lackaffen nun wirklich nicht.

Neuland ~ Lass uns spielen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt