Überlastung

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„Wieso ich mich nicht gemeldet habe? Wieso hast du dich nicht gemeldet", meine Wangen wurden feuerrot und ich schämte mich sehe. Wieso habe ich ihn nicht einfach angeschrieben? Ich meine, ich bin eine starke, unabhängige-
Wieder vereinte er unsere Lippen. Aber der Kuss war kaum mit dem ersten zu vergleichen. Er war viel intensiver, viel leidenschaftlicher als der erste. Vorsichtig gewährte ich seiner Zunge Einlass in meinen und spürte, wie sich die Spitzen unserer Zunge leicht und voller Genuss berührte.
„Ich hab dich auch vermisst", flüsterte ich dicht an seinen Lippen, atemlos und verlor mich wieder in seinen schier endlos wirkenden Augen.
„Hast du mein Portfolio nicht gelesen?", fragte er und zog dabei wieder so süß seine eine Augenbraue in die Höhe. Ach verdammt. Gab es war, was dieser Mann nicht was? Süß, sexy, heiß, arrogant, gutaussehend, charmant- ich könnte die Liste hier schier endlos weiterführten.
„Nein", gestand ich kleinlaut, „ich war sauer, dass du nicht geschrieben hast und da hab ich es erstmal weggelegt"
„Ist egal", murmelte er als er seine Hände um meinen Hals legte, „willst du mit hoch kommen? Du siehst aus als hättest du einen harten Tag gehabt. Du musst nicht. Ich hab nicht mal aufgeräumt"
Er kratzte sich mit der Hand am Hals und wurde sogar vor Scham ein wenig rot. Wer hätte das gedacht: Mr. Arrogant kann erröten.
„Ich -ich stehe vor deiner Wohnung?", fragte ich und begann dabei leicht, wie ein kleines Mädchen, zu kichern.
„Ja. Das wusstest du nicht?"
„Ich bin nachts blind wie eine Eule!"
Er lachte laut auf wofür ich ihn gleich ein wenig von mir wegschubste.
„Lass das!", kicherte ich und strahlte ihn an und für einen winzigen Augenblick schienen die schrecklichen Stunden von vorhin vergessen.
Wir stiegen gemeinsam aus und liefen die Treppe zu seinem Apartment hoch.
Oben angekommen öffnete er die Tür und wies mich an mich auf sein Sofa im Wohnzimmer zu setzen und dort zu warten. Dann gab er mir einen sanften Kuss auf die Stirn und verschwand in der Tiefe seines Apartments. Durch die Fensterfront neben seinem Fernseher schien das schummerige Licht der Straßenlaternen in den Raum und zog mich quasi magisch an. Also ging ich auf das gigantische Fenster zu und setzte mich im Schneidersitz davor. Auch hier hörte man den Regen gegen das Fenster trommeln und sah wie er auf den Dächern der Stadt kleine Pfützen hinterließ. Ja, ich liebte diese Stadt abgöttisch. Langsam legte ich die rechte Hand an die Scheibe und beobachtete wie sie leicht beschlug und die Kälte der Scheibe wie magisch von meiner Hand aufgesogen wurde. Ich beobachtete und zählte die vorbeifahrenden Autos und dachte darüber nach, dass das mit meinen Eltern vielleicht schon viel zu lange überfällig war.
Ich hörte Schritte näher kommen und spürte wie Harry sich neben mich fallen ließ mit einer Schale Eis in der Hand, die er mir reichte. Ungläubig griff ich nach der Schale und schob mir zügig einen großen Löffel Eis in den Mund.
„Dann hatte AlexS also recht", lachte er und legte seinen Arm um mich.
„Wieso denn AlexS?", fragte ich verwundert und portionierte einen neuen Löffel.
„Naja, du hast auf deinem Blog einen Artikel über Liebeskummer oder sowas und den hab ich halt gelesen", er zuckte unbedeutend mit den Achseln und sah hinaus aus dem Fenster.
Perplex starrte ich ihn an, den Mund voll Eis, unfähig auch nur ein winziges Geräusch von mir zu geben.
„Hast du eigentlich mehr geschrieben?", fragte er plötzlich und riss mich damit von den Gedanken an meinem Blog los und diesem Artikel über Liebeskummer. Der Artikel war wirklich schlecht geschrieben und mit allen möglichen Klischees vollgeklatscht, die ich in den Romantikkomödien des einundzwanzigsten Jahrhunderts so ausfindig machen konnte. Das hieß: Eiskreme, ein wirklich schlechter Liebesfilm, der wahlweise auch kein wirkliches happy end hat damit man schön heulen kann und eine gute Freundin. Naja, ich will ja nicht Beichten aber bei mir hat das ja auch funktioniert. Gott, ich bin ein wandelndes Klischee.
„Du meinst sowas wie -Romane? Ja. Also... ich hab's versucht und so. Das übliche eben. Ich meine ... es ist schließlich mein Traum mal was zu veröffentlichen was nicht gerade was mit Sex zu tun hat"
„Darf ich es lesen?", ich sah ihn entsetzt an, ungläubig darüber, dass er meine Werke lesen wollte. Ich meine, niemand wollte das. Nicht mal ich selbst!
„Sie sind nicht besonders gut. Die Geschichte ist langweilig und die Charaktere nicht ausgereift", stammelte ich und rückte ein gutes Stück von ihm weg. Es machte mir Angst.
„Na und?"
„Na und?", wiederholte ich seine Worte und sah ihn fassungslos an, „wenn es nicht gut ist, sollte man es nicht lesen"
„Sie werden aber gut sein. Es ist ja schließlich von dir", und er rückte wieder näher an mich heran. Was bitte sollte das? Was erhoffte er sich von mir?
„Woher willst du das wissen?", entgegnete ich und starrte in die Ferne aus dem Fenster. Wind lies mehr und mehr Regentropfen an die Scheibe fliegen, die sich beim hinab gleiten ein Wettrennen lieferten.
„Woher willst du wissen, dass sie nicht gut sind?", meinte er trotzig und funkelte mich herausfordert an.
Das war tatsächlich eine gute Frage. Immerhin sind die Geschichten von niemandem anderen gelesen worden außer von mir. Und ich bin immer extrem selbstkritisch was das Schreiben anging. Was jetzt nicht heißen sollte das die Sachen gut sind! Eher, dass ich mir vielleicht lieber eine zweite Meinung holen sollte bevor ich wahllos zu kritisieren begann.
Ich seufzte und lies mich in Harrys Arm fallen.
„Weißt du, ich denke ich hab einfach zu viel Angst"
Das hatte ich noch nie jemandem erzählt. Mir machte es sorgen, jemandem mein Geschriebenes zu zeigen aus Angst. Angst, dass sie mich auslachten, mich verspotteten, es schlichtweg nicht mochten. Ich weiß natürlich selber, dass das total albern ist. Ich meine, mit Kritik muss man leben. Aber es tut weniger weh, wenn man ein Synonym ist. Jemand Fiktives, nicht real existierendes. Genau eben wie AlexS.
„Du schreibst im Internet über Sex!", meinte Harry und schüttelte mich kräftig, sodass ich wieder leicht zu kichern begann.
„Ja aber das-", prustete ich, „das ist was anderes. Das bin nicht ... nicht ich. Nicht Julia. Das ist AlexS"
„Wo ist der Unterschied?", fragte er und stand dabei wieder auf.
„Das... niemand direkt über mich urteilen kann. Warte, wo gehst du hin?", ich sprang ebenfalls auf und lief ihm hinterher.
„Bleib ganz ruhig", meinte er gelassen, „ich wollte nur schnell was holen. Willst du dich aufs Sofa setzt? Du kannst ja schon mal den Fernseher anmachen. In dem Blog steht was über kitschige Liebesfilme. Vorzugsweise ohne Happy Ending. Zum heulen. Du weißt schon", es war wirklich schwierig seinen Blick zu beschreiben. Und noch schwieriger war es zu beschreiben was für Gefühle der Blick in mir auslöste. Er lies einen warmen Schauer der Geborgenheit und der Fürsorge über meinen Rücken laufen. Kurz gesagt: ich fühlte mich so wohl in seiner Nähe wie nirgendwo sonst.
„Okay. Aber beeilst du dich?", bittete ich ihn und sah ihn dabei mit großen Augen an und knipste den Fernseher an.
„Hat dir schon mal jemand gesagt wie schön du bist, Julia?"
Auf der Stelle bemerkte ich, wir mir die Hitze In den Kopf stieg und mein Körper wieder anfing Feuer zu fangen. Nervös begann ich an meinen Nägeln zu spielen, so wie ich es immer tat wenn ich aufgeregt war. Eine furchtbare Angewohnheit von dem ich nur jedem abraten kann.
„Ja", entgegnete ich verlegen und versuchte ihm nicht direkt in die Augen zu schauen, „du"
Er umfasste mit seinen starken Armen meine Taille und zog mich ein Stück näher an sich heran, sodass sich unsere Oberkörper leicht berührten. Sanft strich er mir die Haare aus dem Gesicht hinter mein Ohr bevor er mich noch ein mal küsste. Ich erwiderte seinen Kuss und schlang begierig meine Arme um ihn. Ich wollte ihn. Seine Wärme. Seine Nähe. Und für den Moment war einfach alles perfekt. Und von einer Sekunde auf den anderen zerbrach einfach alles.
„Ja richtig, es gibt Neuigkeiten in der Welt der Blogger! Eine anonyme Quelle mailte uns heute ein Bild einer jungen Frau, die angeblich unsere allseits geliebte AlexS seien soll!"
„Was?!", ich löste mich aus Harrys Griff und entging diesem abgöttisch guten Kuss, um einen Blick auf den Fernseher zu werfen auf dem ein Foto von mir abgebildet war. Mein Gesicht war verpixelt. Ich hatte meine Haare zu einem Zopf geflochten und saß im Hörsaal der Uni!
Tausend Gedanken begannen wieder durch meinen Kopf zu rasen und mein erster Instinkt war, zu schreien. Aber zum Glück hielt ich mir mit der linken Hand den Mund zu. Ich war fassungslos. Da war ein Bild von mir! Im Fernsehen!
Ich war geliefert. Egal wer es war, er wusste definitiv das ich, Julia Newwater, AlexS bin. Und darüber hinaus wusste er, wo ich wann war. Scheisse, ich hatte einen Stalker!
Meine Augen füllten sich mit Tränen und die Angst stand mir ins Gesicht geschrieben.
„Julia?", sprach Harry nach einer gefühlten Ewigkeit und erst jetzt viel mir auf, dass er noch meine Hand festhielt.
„Harry, das ist mal gar nicht gut. Ich drohe aufzukippen!", wieder diese Hysterie!
„Wo ist das Problem? Die Leute lieben deinen Blog! Zeit, dass du ein wenig Anerkennung für das bekommst, was du die ganze Zeit machst", er versuchte mich aufmuntern anzulächeln, merkte aber allen Anschein nach selbst ziemlich zügig, dass das in so einer Situation mehr oder weniger ein Ding der Unmöglichkeit war.
„Nein", begann ich, „du verstehst das nicht. Ich habe vorhin mehr oder weniger den Kontakt zu Fred und meinen Eltern abgebrochen. Wenn jetzt ans Licht kommt, dass ich diese Sexbloggerin bin streichen Sie mir alles und ich muss zurück nach Hause ziehen!", Tränen liefen über meine Wange und ich fühlte mich so hilflos wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich, Julia, aka Kontrollfreak, hatte alle, jegliche Kontrolle über mein Leben gänzlich verloren. Wie, bei allen Himmeln dieser Erde, konnte das passieren?
„Du hast was?", fragte Harry ungläubig und sah mich mitfühlend an. Ich erzählte ihm von den letzten Stunden. Dem Gespräch mit meinen Eltern. Freds Einladung zum Essen. Dem Streit. Einfach von allem. Selbst von dem Caffee mit Zoë. Wieso? Das wusste ich selbst nicht mal. Ich hatte einfach das Gefühl ihm vertrauen zu können. Dass er sich um mich sorgt und dafür interessiert was gerade für eine Scheisse in meinem Leben abgeht. Er war sowas wie mein neuer Anker. Ein Anker, der hoffentlich den Sturm überstehen würde. Ich war sprachlos darüber, dass er nichts von der ersten AlexS- Identität-Welle mitbekommen hatte. Hatte er etwa keine Nachrichten gelesen? Oder es vielleicht einfach ignoriert? Oder tatsächlich einfach übersehen?
Das war für diesen Moment auch mehr als nur egal. Wichtig war nur, dass ich das irgendwie wieder gerade biegen musste. Und das wollte ich, ach was, konnte ich unmöglich alleine schaffen.
Ich wusste nicht wie lange Harry und ich auf dem Sofa gesessen hatten. Stumm und angespannt. Die Augen starr auf den Bildschirm gerichtete. Die Hände ineinander verschlungen. Ich wusste es nicht und wollte es auch einfach nicht wissen. Seine Berührung, seine Nähe und einfach seine ganze Erscheinung erdete mich und zog mich zurück in die harte Realität nachdem in meinem Kopf die wildesten Phantasien umherspukten wer auch immer mich heimlich beobachtete und die Nachrichtenagenturen mit Informationen fütterte. Bei meinem Blog hatte ich die Benachrichtigungen deaktiviert um dem Ansturm an wissbegierigen Usern zu entkommen, die aufgeregt darüber rätselten wie ich denn letztendlich aussah und wo sie mich am besten finden konnten. Der Kreis um mich herum zog sich allmählich immer enger zusammen und schnürte mir die Kehle ab, sodass ich kaum mehr Luft zum Atmen hatte. Ich konnte nicht zu meinen Eltern zurück. Nicht jetzt. Nicht nach alldem was heute passiert ist. Ich konnte nicht mit Fred reden, wobei ich auch stark bezweifelte, dass er mehr Informationen zu dem Stalker hatte als all meine anderen Mitmenschen.
Die einzige, die mich enttäuscht und aufgewühlt anrief war Marly. Auch sie hatte das verpixelte Bild beim Aufstehen in der australischen Klatsch- und Lügenpresse gesehen und mich natürlich sofort darauf erkannt. Sie war sauer und traurig darüber, dass ich so wenig Vertrauen in sie gesetzt habe und ihr nicht von AlexS als meine geheime Identität erzählt hatte. Auch das war wieder einer von diesen Momenten in denen ich mir extrem dumm, ignorant, selbstsüchtig und vor allem paranoid vorkam. Sie war meine beste Freundin. Wir kannten und seit Ewigkeiten und mein größtes Geheimnis überhaupt vertraute ich ihr nicht an aus Angst vor mir selber. Immer ging es nur um mich und meinen Schutz. Was war schon dabei wenn sie herausfanden, dass ich AlexS bin? Ich meine, es gibt doch nichts wofür man sich schämen musste? Oder?
Himmel, ich hatte einen verdammten Sexblog und hatte erst zwei mal in meinem Leben Sex! Ich kenne mich mit der Scheisse überhaupt nicht aus und ich will das auch nicht mehr! Ich will ein normales Leben haben. Ich will nicht besonders sein! Ich will zurück zu meinem Hund!
Ich schluchzte und wieder liefen mir Tränen über die Wangen. So viele wie schon lange nicht mehr. Und man würde ja wirklich meinen irgendwann würden einem die Tränen ausgehen bei dem ganzen Geheule.
Ich hasste mein Leben. Einfach alle. Morgen müsste eigentlich ein neuer Artikel online gehen. Aber war das überhaupt möglich? Konnte ich einfach so weiter machen wie zuvor? Einfach so?
„Was beschäftigt dich?", fragte Harry und streichelte liebevoll über mein Haar.
Das Eis, dass ich nicht weiter gegessen hatte war mittlerweile zu einer köstlichen Soße geschmolzen und tropfte vom Löffel direkt auf Harrys Wohnzimmertisch aus braunem Massiveholz.
„Dein Tisch wird dreckig", flüsterte ich und wischte mir die Tränen von der Wange. Normalerweise wäre es mir peinlich gewesen vor ihm zu weinen. Heute aber nicht. Heute war mir die Welt komplett egal.
Er kam näher und küsste mich wieder sanft aber bestimmt und hielt dabei mein Gesicht in seinen Händen.
Ich erwiderte den Kuss heftig und signalisierte ihm damit, dass ich mehr wollte. Mehr von ihm. Es war mir egal was als nächstes geschah. Ganz egal. Heute Nacht würde mich niemand stoppen. Keine Regeln. Keine Sitten. Keine Normen. Einfach nichts. Heute Nacht werde ich einfach nur ich sein. Einfach nur Julia Newwater. Und anscheinend war Julia Newwater mehr, als ich mir jemals hätte träumen können.

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