Home sweet home

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Und plötzlich stand mein Leben wieder still. Alles auf Anfang. Stunde null. Alles war wieder wie es war. Harry war aus meinem Leben verschwunden und allmählich beruhigten sich die Gerüchte und Spekulationen um AlexS. So vergingen zwei ganze Wochen. Zwei ganze Wochen in denen ich jeden Tag um 21 Uhr ins Bett ging, um 6 Uhr aufstand und mein Tagesprogramm abspielte, das aus lernen, kochen, joggen mit Charlie (im Nachhinein finde ich es selbst höchst eigenartig und nahezu unnormal, dass ich tatsächlich, jeden Tag laufen war), duschen, lernen und wieder schlafen bestand. Und genau in der Reihenfolge. Ohne wenn und aber. Ohne Ausnahme. Und nach und nach, langsam und schleichend verblassten die Erinnerungen an Harry und unsere kurze, aber sehr schöne Zeit von was auch immer. Ich war auch eigentlich nicht mehr wirklich traurig um das Geschehene. Ich wusste schließlich, dass einem im Leben nichts geschenkt wird. Also auch nicht Harry. Das Thema war also durch und gegessen. Ach wem wollte ich etwas vormachen. Ich vermisste ihn. Wollte ihn bei mir haben. Auch die Beziehung zwischen Fred und mir besserte sich stetig. Es war einfach so, als wäre Harry ein Stein auf meinem Weg gewesen, über den ich zwar gestolpert war, aber nicht gefallen bin. Ich hoffte sehr, dass er seinen Weg gehen würde. Insgesamt versuchte ich auch nicht all zu viel an ihn zu denken. Auch wenn mir das manchmal schwer viel wenn ich mich nach einem Kuss seiner weichen, perfekten Lippen ...
„An der nächsten Kreuzung nach links auf Westshir Field abbiegen"
Die monotone Frauenstimme meines Navis katapultierte mich schlagartig zurück in die Realität und ich betätigte den Blinker um zu signalisieren, dass ich gleich nach links abbiegen würde. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen das Abendessen bei meinen Eltern abzusagen. Mein Leben war gerade wieder so schön in der Spur und ich fühlte mich ausgeglichen und glücklich wenn meine Gedanken nicht gerade zu Harry ... - Ja, mein Leben war ausgeglichen und glücklich und das wollte ich mir eigentlich nicht durch den Drachen, aka meine Mutter, kaputt machen lassen. Ich hatte den Telefonhörer zu Hause quasi schon in der Hand und war gerade dabei ihre Nummer zu wählen als mich eine Welle von Schuldgefühlen überkam und ich mich an meine gesellschaftliche Rolle der guten Tochter erinnerte, der ich wohl oder übel irgendwie nachkommen musste. Auch wenn das wohl oder übel heißen musste, dass mir nichts anderes übrig blieb, als, in der Sprache des Internets würde man das Ganze als Shitstorm bezeichnen, mir die Predigten meiner Mutter über mein verkorkstes, verschwendetes Leben anzuhören.
„In 500 Metern rechts auf Cover Street fahren"
Vor allem viel mir gerade ein, dass die Geschichte mit dem Date mit Harry ja auch noch nicht mit ihr ausgesprochen war und sie mich garantiert danach ausfragen wird. Also war es jetzt an der Zeit mir eine Geschichte auszudenken was an dem Abend passiert war wobei ich natürlich steht's darauf achten musste, mich gleich nicht zu versprechen oder mich zu wiederholen. Meine Mutter wusste genau wenn man log, erst recht bei mir. Mittlerweile, oder besser gesagt seit ich alleine in London wohne, hatte ich das Lügen ihr gegenüber allerdings perfektioniert. Der Einfachheit halber, um mein eigenes Leben ohne Rechtfertigungen leben zu können.
„Ihr Ziel befindet sich links"
Oh wow, herrlich, dachte ich genervt als ich vor der Einfahrt zu dem Haus meiner Eltern fuhr. Ich blieb noch einige Minuten im Auto sitzen, weil ich viel zu früh dran war und hörte lieber zu, wie der Schneeregen hart und laut auf die Frontscheibe trommelte. Es waren einige köstliche Minuten der Ruhe in denen ich die warme und trockene heizungsluft einsog als wäre sie eine Art Droge, die mich vor dem bewahrt, was auch immer mich hinter den gemauerten Wänden meiner Kinderstube auch immer erwarten würde. Ich starrte hinaus auf den großen Garten in dem ich früher mit den Nachbarskindern fangen gespielt hatte, Wasserschlachten getobt hatten oder ich unter den Sternen geschlafen hatte. Ja, überlegte ich seufzend, das war schon ne schöne Kindheit. Und vor allem eins: so unkompliziert. Und ich rede hier nicht von Rechnungen bezahlen oder jobben gehen, sondern eher von Menschen. Früher war eben alles einfacher. Ich nahm noch einen tiefen Atemzug und stieß dann die Fahrrertür voller Eifer und Energie auf. Die kühle Luft schlug mir ins Gesicht und ich bereute im selben Moment ausgestiegen zu sein. Schnell verriegelte ich das Auto und vergrub die Hände tief in den Jackentaschen.
Jetzt gibt es kein zurück mehr, dachte ich mit einer leichten Spur von Angst und klopfte feste gegen die Haustür meiner Eltern. Es dauerte keine drei Sekunden da öffnete mir ein schlanker Mann mit grauen, nach hingen gegeelten Haaren und einer schwarzen Hornbrille die Tür. Mein Vater sah mich kurz liebevoll an bevor er auf die Uhr an seinem linken Handgelenk schaute und mir für meine Pünktlichkeit dankte. Seine Stimme wirkte kalt und distanziert. Ich betrat den hellen Flur, der mit Bildern von den Reisen meiner Eltern gesäumt war. So viel mir direkt ein Bild zu meiner linken ins Auge, auf dem meine Eltern vor einer Giraffe abgelichtet waren. Letztes Jahr waren sie vier Wochen auf einer Safari in Kenia. Sie luden mich ein mitzukommen wobei ich dankend ablehnte; ich hatte ja schließlich Uni. Natürlich war das ein Test gewesen. Ich wusste, dass sie nie wirklich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatten mich mitzunehmen. Es war nur eine Sache des Abstandes ihrerseits gewesen zu fragen. Nur um dann zu hören, dass mir die Karriere vor allem anderen kommt. So wie bei Ihnen.
„Wo ist deine Töle?", fragte mein Vater und verschränkte dabei die Arme.
„Charlie ist zu Hause", entgegnete ich trocken und fügte gedanklich noch ein: du kannst ihn doch eh nicht leiden, hinzu. Der Hund ging meinen Eltern tatsächlich noch mehr gegen den Strich am mein Literaturstudium. Warum? Das wüsste ich auch sehr gerne! Er hatte ihm schließlich nie etwas getan! Charlie hatte nicht ein mal die Chance zu zeigen was für ein guter Hund er doch ist. Aber das war ja auch egal. Bei manchen Menschen redete man einfach gegen die Wand.
Ich ging den Flur entlang hin zum Wohnzimmer, dass mit einer weißen Ledercouch und den Designermöbeln auch gleich in der Vouge als nobelstes Wohnzimmer Englands hätte ausgezeichnet werden können. Perfekt und staubfrei wurde es von den edlen Strahlerlampen erhellt und in mittten alle dem thronte meine ach so gnädige Frau Mama. Die Hände auf den lehnen des weißen Sessels abgestützt erhob sie sich von ihrem Thron und schloss mich in eine enge Umarmung, die mir doch glatt den Atem raubte.
„Julia!", rief sie erfreut und sah mir tief in die Augen, „setz dich doch. Möchtest du einen Tee?"
„Oh nein danke", sagte ich eifrig, „ich trinke eigentlich nur Caffee"
„Ist sich die Dame zu hip und modern für guten englischen Tee?", mein Vater betrat ebenfalls das Wohnzimmer und ich spürte seine strengen Blicke auf mir Ruhe.
„Ach George", unterbrach meine Mutter ihn, „Cafee haben wir leider keinen da"
Wen wundert es, dachte ich und blieb stumm. Ich wusste, dass das Thema Lebensstile gleich weiter vertieft werden würde und bis dahin sollte ich mein Pulver lieber noch nicht verschossen haben.
Mein Vater eilte in die Küche und kehrte mit zwei Tassen Tee für sich und meine Mutter wieder. Ich ging leer aus.
„Jetzt erzähl schon, Liebes, wie ergeht es dir in London? Was macht das Großstadtleben?", meine Mutter nippte schmunzelt an ihrem Tee. Sie wartete nur auf den Augenblick an dem ich angekrochen kommen würde und sie anflehen würde mich wieder aufzunehmen weil mir doch alles zu viel geworden ist. Tja, auf diesen Moment konnte sie noch lange warten. „Ach alles super. Nichts besonderes. Uni läuft gut. Charlie geht es super. Alles tip top", ich hielt beide Daumen hoch um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Und der junge Mann in deinem Leben, wie geht es dem?", galant überschlug sie ihre Beine und setzte ein süffisantes Lächeln auf. Ich wollte gar nicht wissen wie lange sie auf diesen Moment gewartet hatte. Fassung behalten, Julia, lächeln!
Sie wollte mich aus dem Konzept bringen. Das Spiel konnte ich auch spielen.
„Die einzigen Männer in meinem Leben sind Fred und mein kleiner Hund", ich überschlug ebenfalls die Beine und lies mich etwas tiefer in das Polster der Couch sinken.
„Fred hatte mir gestern von einem gewissen Mr. Harrison Morgan erzählt"
Und für einen kurzen Moment setzte mein Gehirn aus, das rauschende von Adrenalin geflutete Blut schoss durch meinen Körper und die Hitze stieg mir regelrecht in den Kopf. Fassung, Julia, Fassung.
„Ein Bekannter aus der Uni. Wir hatten eine Art Facharbeiter zusammen gestaltet", während ich meine Hände krampfhaft zu Fäusten ballte schenkte ich meinen Eltern ein zuckersüßes Lächeln.
„Fred hatte gestern angerufen?", fragte ich als ich den Satz meiner Mutter noch ein mal durch den Kopf gehen ließ.
„Ja. Er kommt doch nachher zum Essen vorbei"
FASSUNG, Julia, FASSUNG!
Meine Mutter sagte das mit so einer Gelassenheit, so einer Seelenruhe, dass mir einfach der Mund offen stehen blieb.
„Er ist so ein netter, junger Mann", sie lächelte und richtete ihrer Runde Brille, durch die ihre braunen Augen gefährlich klein wirkten.
„Freut mich", log ich und grinste. Eigentlich war ich schwer beeindruckt von meinen Eltern. In der Regel brauchten sie so ihre zwei bis drei Tage bis sie mich wirklich aus dem Haus geekelt hatten. Diesmal brauchten sie allerdings nur eine Stunde. Das musste wirklich ein neuer Rekord sein. Ich sollte mir das in den Kalender eintragen.
„Wie wäre es mal, wenn ihr etwas mit mir absprechen würdet?", meinte ich und zuckte dabei fragend mit den Achseln.
„Er meinte ihr hättet das geklärt", erklärte mein Vater und verschränke wieder die Arme vor der Brust.
Okay, stop. Auszeit. Noch mal von vorne bitte: Fred hatte meine Eltern angerufen und sich gerade selbst zum Essen eingeladen. Plus, dass er meiner Mutter allen Anschein nach noch mehr von Harry erzählt hatte. Die ganze Sache hatte definitive einen neues Hochpunkt erreicht.
„Wenn Fred hier ist werde ich nicht zum Essen bleiben", meinte ich kalt, versuchte aber immer noch steht die Ruhe zu bewahren.
„Julia, du verhältst dich kindisch", meinte mein Vater trocken und richtete seinen bohrenden Blick wieder auf mich.
„Das tue ich nicht, Vater. Ich glaube ihr versteht mich nur nicht richtig-"
Meine Mutter unterbrach mich:„wir möchten doch nur wissen wo dein Problem ist, Liebes. Fred ist so ein netter junger Mann. Er wäre so perfekt für-"
„Perfekt für mich?", viel ich ihr ins Wort und funkelte sie böse an. Das reichte nun wirklich. Sie konnten, sollten, nein, durften nicht mein Leben bestimmen!
„Wisst ihr was? Ich finde es traurig. Einfach nur ziemlich traurig. Ich bin eure Tochter, euer einziges Kind und ihr hasst mich, weil ich nicht das bin was ihr wollt, anstatt stolz auf das zu sein, was ich mir selbst, mit meinen eigenen Ideen und Träumen aufgebaut habe und werde", meine Augen füllten sich mit Tränen aber diesen Triumph gönnte ich Ihnen nicht. Ich wollte nicht, dass sie wussten wie traurig mich das eigentlich machte. Wie unfassbar schade und enttäuscht ich von Ihnen, meinen eigenen Eltern war. Ich sah wie meine Mutter beginnen wollte etwas zu sagen aber ich unterbrach sie: „Nein. Du sagst jetzt gar nichts. Ihr verachtet alles, einfach alles was ich in meinem Leben mache. Wie ich lebe. Mit wem ich lebe und erst recht was ich studiere. Und wisst ihr was? Das finde ich verdammt noch mal schade! Aber gut. Dann ist es halt so. Aber ich bin ehrlich zu euch: eher gehe ich zurück zu Harry anstatt mit Fred zusammenzuziehen und deine scheiss Firma zu übernehmen nur damit ich das bin was ihr wollt. Das bin ich nicht. Das werde ich nie sein und entweder ihr seid jetzt ruhig und akzeptiert das oder es ist das letzte mal, dass wir uns gesehen haben!", ich begann regelrecht zu schreien und erst jetzt viel mir auf, dass die Tränen bereits begannen über meine Wange zu laufen. Ich stand entschlossen vom Sofa auf. Drehte mich nicht um und lief aus dem Haus und zum Auto.
Ich fuhr. Ich fuhr einfach fort. Durch den Schnee und hinein in die Dunkelheit. Durch die Ruhe im Auto viel mir erst auf wie angespannt mein Körper eigentlich war. Ich lockerte meinen Griff ums Lenkrad und wischte mir mit der rechten Hand die Tränen von den Wangen. Nebel verdeckte dir Straße und ich erschrak jedes Mal, wenn ich bereits in der Ferne eine Kurve erkannte. Ich fühlte mich, als würde ich die Strecke das erste mal in meinem Leben fahren. Die Navi-Dame lenkte mich monoton wie immer durch die Wälder als ich realisierte was gerade eigentlich passiert war. Ich hatte meiner Familie den Kontakt verweigert. Den Menschen, die mich jahrelang geliebt habe. Und Fred hatte ich damit auch endgültig verloren.
Ich war schon unmittelbar in der Nähe meines Apartments als es mich einfach überkam. Ich fuhr links auf einen Parkplatz und griff nach meinem Handy. Schnell suchte ich Freds Kontaktdaten und löschte sie als plötzlich eine Nachricht auf meinem Handy einging und es laut aufschellte. Vor Schreck hätte ich fast das Telefon geworfen. Aber nicht, weil der Klingelton so laut war, sondern eher, weil die Nachricht von Harrison Morgan kam.

Hey. Ist alles gut bei dir?

Irgendwie und völlig unweigerlich begann ich zu grinsen. Ja, ja ich hatte ihn vermisst.

Nein, tippte ich zuerst, löschte das ganze dann aber wieder und sendete ein einfaches ja

Sicher? Du warst doch heute bei deinen Eltern

Das ist ja unfassbar, dachte ich und schüttelte dabei ungläubig den Kopf.

Hab ich dir das mal erzählt?

Ja, vor zwei Wochen. Sicher, dass alles gut ist ?

Was wollte er von mir, grübelte ich und starrte geballt auf den Bildschirm meines Handys. Die Scheiben des Autos begannen von innen zu beschlagen und das herrliche Geräusch des prasselnden Regens löste in mir ein Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit aus.

Ja klar, wieso?

Ich tippe zügig, während ein langsames Lied im Radio begann zu spielen. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Augenblick meine Augen, als jemand gegen meine Scheibe klopfte und mein Herz für einen Moment aussetzte.
Ich wischte die beschlagene Scheibe sauber und sah in graue verschlingende Augen.
„Ich bin mir da nicht so sicher", hörte ich ihn dumpf durch die Scheibe sprechen während Harry seinen Kopf schief legte und mir das schönste Lächeln schenkte, dass ich je bei einem Menschen gesehen hatte. Ich beobachtete ihn wie er um das Auto herum Schlich und sich auf meinen Beifahrersitz fallen ließ.
„Du hast geweint", stellte er fest und sah mich dabei mitfühlend an bevor er seine rechte Hand auf meine Wange legte. Das Gefühl von Wärme und Beharrlichkeit flutete meinen Körper und binnen Sekunden sehnte ich mich wieder nach seiner Nähe, seiner Wärme, seinen Küssen- Julia- Reiß-dich -
Doch ehe ich mich versehen konnte vereinte er unsere Lippen zu einem sanften, aber bestimmten Kuss. Oh Gott und wie ich ihn vermisst hatte. Oh gott wie schwach ich doch war einfach so in seine Arme zurück zu fallen. Wahrscheinlich hatte er in den zwei Wochen weiß Gott wie viele Frauen gevögelt und geküsst und-
„Ich hab dich vermisst, Julia. Wieso hast du dich nicht gemeldet?"

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