Kapitel 4 - Esther

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Nervös streiche ich mir über mein Kleid. Ich würde mich wohler fühlen, wenn es noch nicht ganz so abgetragen wäre. Doch laut der Wirtin schert sich dieser Baron ohnehin nicht sehr um Äußerlichkeiten. Ich habe Wilma die letzten Tage reichlich über Orland von Mailinger ausgefragt. Sein Bruder ist mir unglaublich sympathisch gewesen und ich hatte gehofft, dass mein Vorstellungsgespräch bei meinem angestrebten Arbeitgeber ähnlich zwanglos ablaufen würde. Doch die Wirtin hat mir bereits mehrfach meine Hoffnungen genommen.

Baron von Mailinger ist nicht ungeachtet, anscheinend führt er seine Baronie rechtschaffen und sorgt sich um die Belange seiner Pächter. Aber – und das sei seine große Schwäche – er ist kein sehr geselliger Mensch. All meine Talente, mein höfischer Hintergrund, werden für ihn nicht ganz so viel gelten wie für andere Herren seines Standes. Entweder er sieht auf Anhieb, was ich zu bieten habe, oder lehnt mich ab. Das Problem, welches ich habe, wird sein, ihn von meinen Qualifikationen zu überzeugen. Üblicherweise ist eine Gouvernante bereits eine Frau im reiferen Alter. Gerade um beim Adel angestellt zu werden, sollte sie selbst Kinder gehabt haben oder zumindest an der Erziehung fremder Kinder mitgewirkt haben. Das alles kann ich nicht vorweisen.

Ich atme tief durch. Ich habe immer noch Marthas Empfehlungsschreiben. Ich bin vielleicht vergleichsweise jung für diese Anstellung, aber ich habe Erfahrung, vielleicht sogar mehr, als mir lieb ist. Und nicht ganz zu vernachlässigen ist der Umstand, dass Kasimir von Grohting mit Sicherheit ein gutes Wort für mich eingelegt hat.

Ich steige die Stufen zur Eingangstür hinauf und läute. Das Anwesen Mailinger ist eine wunderschöne, recht große Villa mit einer steinernen Fassade. Sie besitzt drei Etagen, die optisch durch florale Reliefs voneinander getrennt sind. Das Haus ist kein Palast, aber ich glaube, genau deshalb könnte ich mich hier schneller heimisch fühlen.

Es dauert eine Weile, ehe ein Angestellter mir öffnet. Der Mann mittleren Alters trägt nicht den typischen Frack eines Butlers, weshalb ich stark vermute, dass das Personal im Haushalt des Barons eher knappgehalten ist und der Bedienstete sich um alles Mögliche kümmert. Ich bin mir sicher, dass Baron von Mailinger sich mehr leisten könnte, doch vermutlich gehört er zum zurückgezogenen Menschenschlag. Ich muss lächeln. Das erinnert mich in gewisser Weise an meinen Vater.

„Ja bitte, Sie wünschen?", fragt der Diener höflich und ich neige den Kopf zur Begrüßung. „Guten Tag. Ich wünsche, mit seiner Durchlaucht, Baron von Mailinger zu sprechen." Der Bedienstete runzelt die Stirn. „Sind Sie angemeldet?" Ich räuspere mich leicht. „Nicht direkt. Man sagte mir, ich könne im Laufe des Tages jederzeit einen Besuch abstatten, wenn es um die Bewerbung als Gouvernante seines Mündels geht. Baron von Grohting hat mich darum gebeten, mich vorzustellen." Der Angestellte blickt mich einen Moment lang erstaunt an, sicherlich hätte er bei einer Gouvernante mit einer anderen Personengruppe gerechnet. Dann tritt er jedoch beiseite und lässt mich ein.

„Kann ich Ihnen den Mantel abnehmen, Fräulein?", fragt er zuvorkommend, doch ich verneine freundlich. Es ist unhöflich, im Haus eines Fremden Kleidung abzulegen, wenn man nicht weiß, wie willkommen man ist.

Ich folge ihm bis vor eine schlichte, dunkle Holztür, hinter der er verschwindet und nach kurzer Zeit wieder auftaucht. „Baron von Mailinger hätte einen Moment Zeit für Sie." Ich bedanke mich mit einem Nicken und trete mit gestrafften Schultern in den Raum, der offenbar die Funktion eines Arbeitszimmers und Herrensalons in einem erfüllt.

Schon im ersten Moment merke ich, dass Wilma mich bei weitem nicht ausreichend auf den Baron vorbereitet hat. Zum ersten habe ich nicht damit gerechnet, dass Baron von Mailinger so jung ist. Ich hätte ihn nur wenig jünger als seinen Bruder Kasimir geschätzt, doch tatsächlich ist er erst um die Dreißig. Zum zweiten besitzt er eine grüblerische, intelligent wirkende Attraktivität, die ich bei Hofe selten zu Gesicht bekommen habe. Und zum dritten lehnt er entspannt auf seinem Stuhl und trägt eine Miene zur Schau, die ich absolut nicht deuten kann. Ganz kurz bemerke ich, wie seine Augenbraue sich überrascht hebt, als er mich vollständig erblickt, ehe er wieder jede Regung aus seinem Gesicht verbannt.

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt