Kapitel 19 - Esther

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Das Licht der Öllampe flackert über das Papier und lässt die schwarzen, akkuraten Zeichen tanzen. Ich wende meinen Blick ab von dem Werk auf meinem Lesepult und lasse ihn durch das Zimmer schweifen, um meine Augen ein wenig zu entspannen. Mein Nacken ist steif und ich spüre einen beginnenden Kopfschmerz, hervorgerufen durch die Konzentration der letzten Stunden.
Ich muss lesen lernen! Das ist die Erkenntnis des heutigen Tages, auch wenn alles gut gegangen ist. Niemand hat etwas gemerkt, ich hatte alles unter Kontrolle und doch gab es diese Momente, in denen ich mich einfach nutzlos gefühlt habe. Nutzlos durch meinen Analphabetismus. In Angst, dass eine Frage kommen würde zu einem bestimmten Wort, zu einer Aussprache, zu irgendetwas, das ich nicht beantworten, nicht einmal selbst erfassen kann.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, wie das alles hier funktionieren soll. Das Rezitieren heute ist nur der Anfang gewesen. Es gibt so vieles mehr, das Annalies noch lernen muss und in dem ich sie nur notdürftig, wenn überhaupt, unterrichten kann. Einladungskarten schreiben, Briefe angemessen beantworten, Menüs zusammenstellen, sich über die neueste Lektüre austauschen können und so vieles mehr. Als Hofdame ist es leicht gewesen, mich drum herum zu mogeln. Es gab genug Menschen, die unter mir standen und die ich verpflichten konnte, meine Diktate aufzunehmen. Adalmar war da nur der Anfang. Selbst meine Zofe konnte mehr als ich. Sie ließ ich die ungelenken Notizen an meine Familie verfassen, um den nächsten Besuch anzukündigen.
Doch Annalies' Zukunft wird wahrscheinlich anders aussehen. Sicherlich wird sie einst einen Haushalt führen und selbst Verantwortung dafür tragen, sich in der Gesellschaft zu beweisen. In ihr Aufgabengebiet wird es fallen, die soziale Korrespondenz zu führen, während ein möglicher Ehemann sich um das Geschäftliche kümmern wird.
Und selbst, wenn es nicht ihretwegen wäre... Auch ich muss überlegen, welche Fähigkeiten für eine gute Zukunft erforderlich sein mögen. Ich kann mich nicht darauf verlassen, in meinem Alter noch einen Mann zu finden. Aber egal ob mit oder ohne Mann, lesen und schreiben können ist unerlässlich.
Sicher, momentan habe ich eine gute Anstellung mit guter Bezahlung. Doch eines muss einer Gouvernante stets klar sein: Dass der Tag, an dem ihr Schützling sie nicht mehr braucht, unweigerlich kommen wird. Und Annalies ist diesem Tag sehr nahe. Wäre sie von ihrer Mutter besser unterrichtet worden, hätte sie in ihrem Alter womöglich gar keine Gouvernante mehr gebraucht.
Ich konzentriere mich wieder auf die Buchstaben, nur um das Buch im nächsten Moment frustriert zuzuschlagen. In einem Anflug an Selbstüberschätzung habe ich gedacht, dass es mit dem Werk, aus welchem Annalies und der Baron heute rezitiert haben, doch eigentlich möglich sein müsste. Schließlich kenne ich große Teile auswendig. Doch die Laute, die Wörter, welche ich höre, einem Zeichen zuzuordnen, ist schlicht unmöglich. Zumindest mir. Martha hat es geschafft. Sie konnte binnen von Monaten so gut lesen und schreiben, dass nicht einmal die Auftraggeber den Unterschied zwischen ihren Schriften und denen meines Vaters erkennen konnten.
Ich spüre, wie meine Augen feucht werden. Ich lasse das Buch auf dem Schreibpult liegen und rolle mich auf meinem Bett zusammen. Warum denke ich immer an Martha? Ich liebe meine Schwestern, doch an sie zu denken, frustriert mich nur. Ständig führt Martha mir vor Augen, was ich alles nicht kann, wo ich versagt habe. Und dann wandern meine Erinnerungen zu den größten Fehlern meines Lebens. Wann immer ich mich für Annalies einsetze oder eine Entscheidung treffen muss, sind meine Gedanken bei ihr. Als wäre ich unfähig, meinen eigenen Weg zu finden.
Martha hat nie daran gezweifelt, dass es einen Platz im Leben für mich gibt. Einen Ort, an dem ich mich einzigartig, konkurrenzlos und wertgeschätzt fühlen würde, sicher und geborgen. Doch daran kann ich nicht glauben. Alles, was ich spüre ist, wie kaputt ich innerlich bin. Wie ich bestrebt bin, eine Fassade zu bewahren. Wie meine innere Unsicherheit mich so oft überrollt. Wie ich mich lieber mit dem Leben des Barons und der Baroness beschäftige, als mit meinem eigenen.
Unweigerlich frage ich mich, wo ich heute wohl wäre, wenn das alles nicht passiert wäre. Wenn ich, wie Henna, nichts von dem Komplott gegen König Titus gewusst hätte und mir nichts zu Schulden kommen lassen hätte. Sicher wäre ich bei Hofe geblieben. Als Schwester der Königin hätte man mir bestimmt einen wichtigen Titel verliehen. Oder ich hätte mich verlobt. Hätte dem Werben eines Adligen nachgegeben und schließlich geheiratet. Eine schillernde Ehe nach außen hin und nach innen – nun, zumindest Sicherheit.
Ich weiß nicht, ob ich glücklich geworden wäre. Vielleicht hätte ich nie den Drang nach mehr gespürt. Das Gefühl, mehr bewirken zu müssen, jemand anderem etwas Gutes zu tun. Dieser Gedanke war mir fremd, ehe ich so furchtbar falsch handelte.
Ich glaube, dass ich jetzt ein sinnvolleres Leben führe. Ein schwieriges Leben mit Verantwortung, Unterordnung und aus der Not heraus geboren, mir meinen Lebensunterhalt selber verdienen zu müssen. Ich hätte es so viel einfacher haben können. Doch mein Wehmut rührt nicht daher, dass ich nun keinen bekannten Namen, keinen Titel und kein Vermögen mehr habe, keine Stellung mit Prestige und Einfluss. Ich könnte vermutlich glücklich werden, wenn die Vergangenheit die Gegenwart nicht so sehr überschatten würde. Meine Verfehlungen sind ein ständiger Begleiter in meinem Denken.
Schluss jetzt, rufe ich mich selber zur Ordnung. So komme ich kein bisschen weiter. Es ist nicht mehr zu ändern, sage ich mir selbst. Nichts von dem, was passiert ist. Jetzt gilt es, mein Selbstmitleid zu vergessen und mich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Und das ist, meine Stellung zu behalten und für meine Zukunft zu arbeiten.
Wenn ich Lesen lernen will, dann werde ich das auch schaffen. Wenn nicht mit diesem Werk, dann mit einem anderen. Vielleicht ist einfach das Buch zu schwer. Kinder lesen auch erst andere Bücher, wenn sie ihre ersten Worte entziffern.
Keine Ahnung, ob es funktionieren kann, aber versuchen muss ich es wenigstens. Sicherlich gibt es in der Bibliothek die ein oder andere Kinderlektüre. Schließlich war der Baron selbst einmal ein Kind und rechnet vermutlich auch damit, noch irgendwann welche zu haben. Vorausgesetzt er findet eine Frau...
Bevor ich jetzt anfangen kann, über den Baron nachzugrübeln, über seine neuerliche Aufgeschlossenheit und unseren Umgang miteinander, mache ich mich fertig für die Nacht. Doch auch nachdem ich alle Lampen gelöscht und mich unter die schwere Decke ins Bett gelegt habe, finden meine Gedanken keine Ruhe. Sie springen hin und her zwischen meinem Analphabetismus und Baron von Mailinger. Und ich weiß nicht, welches Thema mich mehr beschäftigt.

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt