Kapitel 1 - Orland

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Ich vernehme Seraphinas Stimme, sobald sie das Haus betreten hat. Sie klingt wie einer dieser Menschen, die man sofort zum Schweigen bringen will, sobald sie den Mund aufmachen. Hoch, schrill und durchdringend.

Ich werfe Kasimir einen Blick zu. Er beobachtet mich mit hochgezogenen Augenbrauen über ein Buch hinweg, das er gerade aus meinem Regal genommen hat. „Hast du dir das gut überlegt?", frage ich. „Du weißt, wie furchtbar sie ist." Mein Halbbruder bleibt ungerührt. „Ich weiß. Und ich bin der Meinung, dass es an der Zeit ist, dass du auch solche Menschen tolerieren lernst. Besonders, wenn sie zur Familie gehören." Ich schüttele den Kopf.

Wir beide könnten wohl nicht unterschiedlicher sein. Er, der Ältere, steht mitten im Leben. Er hat eine Frau, zwei Töchter und ist Herr einer blühenden Baronie im Zentrum von Arex. Zehn Jahre trennen uns, aber ich erinnere mich, dass die Frauen ihm in seiner charmanten, geselligen Art stets zu Füßen lagen. Mich dagegen würde man wohl eher als eigenbrötlerisch bezeichnen. Meine Baronie liegt direkt an der Grenze zu Calia und meine Pächter achten mich, aber nur aus rein geschäftlichen Gründen. Kasimir sagt immer, das, was mir fehle, sei ein wenig Motivation in meinem Leben. Und eine Frau.

Ich weiß nicht, warum ich zugestimmt habe, Seraphina eine Einladung zukommen zu lassen. Auch hierzu hat mich mein Bruder überredet. Sie ist meine jüngere Schwester und wir standen nie viel in Kontakt. Es gibt nichts, was uns beide zusammenschweißen würde. Keine gemeinsamen Themen und Interessen, nicht einmal die gleiche Moral. Und ich wette, sie wäre der Einladung nicht gefolgt, hätte sie nicht gewusst, dass ich ihr für die Zeit ihres Aufenthaltes alle Annehmlichkeiten bieten kann, die man im Haushalt eines Barons erwartet.

Die Tür zu meinem Arbeitszimmer wird aufgerissen, ohne dass einer der Bediensteten die Chance gehabt hätte, sie für sie zu öffnen.

„Hier seid ihr beiden. Orland, man sollte meinen, es gehört sich, eine Dame im eigenen Haus zu empfangen." Sie schürzt die Lippen. Während Kasimir sie mit einer bewundernswerten Aufmerksamkeit begrüßt, kann ich sie nur kritisch mustern. Sie ist fülliger geworden, eine dralle Person in einem bunten, geschmacklosen Kleid und einem Federhut.

Sie tritt weiter in den Raum hinein und mein Innerstes sträubt sich dagegen. Mein Arbeitszimmer ist mein Reich. Und ich teile es ungern mit solchen Schnepfen, wie sie eine ist. Hinter ihr kommt ein junges Mädchen zum Vorschein, vielleicht fünfzehn. Kurz bin ich überrascht, dass sie ihre Tochter mitgebracht hat, doch dann tritt Kasimir auf diese zu und meint schon fast zu freundlich: „Und du bist Annalies, nicht wahr? Meine Güte, was bist du groß und schön geworden!" Ich seufze. Ich kenne meinen Halbbruder. Und mir wird klar, dass es hier gar nicht um Seraphina geht. Die ist nur ein lästiges Detail in seinem Plan. Es geht ihm in Wirklichkeit um unsere Nichte.

Das Mädchen ist blass und dünn und scheint mit ihrem blonden Haar und den grauen Augen ganz nach ihrem Vater zu kommen. Zumindest sieht sie meiner Schwester überhaupt nicht ähnlich, die, wie ich, eher ein dunkler Typ ist.

Seraphina scheint ihre Tochter überhaupt nicht zu beachten. „Orland, hörst du mir überhaupt zu?" Ich drehe meinen Kopf leicht in ihre Richtung, was ihr offenbar als Bestätigung ausreicht. „Ich sagte, es wurde Zeit, eine Einladung an mich auszusprechen. Ich bin Teil der Familie. Und weiß Gott mehr Teil deiner Familie als Kasimirs, obwohl man meinen könnte, es wäre andersherum."

Mein Halbbruder wendet sich wieder ihr zu und legt ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. Ich weiß nicht, woher er diese beiläufig scheinenden Gesten beherrscht, aber sie wirken jedes Mal Wunder. Seraphina scheint augenblicklich beschwichtigt.

„Liebe Schwester, du kennst doch unseren Orland. Er ist das genaue Gegenteil von dir und gerade deshalb war es mir wieder ein besonderes Vergnügen, ihn daran zu erinnern, dass er Pflichten seiner Familie gegenüber hat. Aber lass dir gesagt sein, es war keine lange Überredung notwendig, er hat sofort zugestimmt, dich wieder einmal in seinem Haus willkommen zu heißen." Das ist eine glatte Lüge. Kasimir hat mich wohl zwei Wochen am Stück bearbeitet, während er hier in der Gegend Geschäfte zu erledigen hatte.

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt