Kapitel 34 - Orland

861 67 9
                                    

Ich mustere die Ladenfassade der Damenschneiderei in Grara – ein Geschäft, in dem ich noch nie gewesen bin. Wozu auch? Mit Esther als Gouvernante ist es bisher nicht meine Aufgabe gewesen, für Annalies' Garderobe zu sorgen.
Und obwohl nun auch keinerlei Anlass besteht, mich in die Kleiderwahl für Calia einzubinden – schließlich verstehe ich absolut nichts davon – weiß ich doch zu schätzen, dass die Damen mich einbeziehen wollen.
Ich habe nicht mit der Stimmung gerechnet, die aufgekommen ist, seit wir den Brief der Königin erhalten haben. Meine Nichte ist überdreht, überhäuft Esther mit Fragen und hat in ihren weniger aufgeweckten Momenten kleine Selbstzweifel, ob sie überhaupt gut genug für die Taufe der kleinen Prinzessin ist. Esther begegnet ihr mit solcher Liebenswürdigkeit, dass mir das Herz aufgeht. Sie zerstreut ihre Zweifel, schafft es aber nebenbei noch, ihre Schülerin auf charmante Weise zu tadeln, wenn es nötig ist.
Ihre eigenen Gefühle scheint Esther beiseite zu schieben. Hätte sie am Tag, an dem der Brief kam, nicht offenbart, dass sie nicht mit nach Calia reisen möchte, so hätte ich niemals auch nur das kleinste Bisschen davon erahnt. Sie ist konzentriert bei ihrer Arbeit und beschäftigt mit der Organisation und der Vorbereitung meiner Nichte. Ich schätze, es ist ihre Art, die eigenen Bedenken zu überspielen und nicht über das nachzudenken, was ihr Sorgen bereitet – was auch immer das sein mag.
Meine Laune die letzten Tage ändert sich stetig. Mal bin ich nervös, weil ich keine Ahnung habe, wie man sich bei Hofe verhält. Mal bin ich ganz ruhig, in der Gewissheit, dass Esther an meiner Seite sein wird. Mal überlege ich, was es für mich bedeutet, sollte meine Nichte Hofdame werden. Ich habe Annalies so liebgewonnen, dass es mir schwerfallen wird, sie nicht mehr ständig um mich zu haben.
Zwei Damen treten aus dem Schneideratelier und ich nehme die Tür entgegen, um sie aufzuhalten und anschließend selber einzutreten. Der große Verkaufsraum ist deutlich weiblich angehaucht – cremefarbene Tapeten mit einem dezenten Blumenmuster schmücken die Wände und über den Raum verteilt befinden sich fliederfarbene Sitzmöbel jeder Art, von einem breiten Sofa bis zu einem gepolsterten Schemel.
Ein dezentes Damenparfüm hängt in der Luft. Ich vermute, es kommt von der jungen, schlanken Maßschneiderin, welche um die strahlende Annalies herumwuselt, die sich in einer bauschigen rosafarbenen Robe verzückt vor den drei großen Spiegeln betrachtet.
Unwillkürlich muss ich daran zurückdenken, wie ich meine Nichte kennengelernt habe. Sie war ein schweigsames, schüchternes und eher blasses Mädchen, dass sich nicht getraut hat, an sich selbst zu glauben. Um wieviel mehr ist sie jetzt eine strahlende junge Frau, die sich über die kleinen und großen Dinge des Lebens freuen kann. Ich bin so stolz auf sie.
Annalies vollführt eine schwungvolle Drehung und stößt dabei an eine der Schneiderpuppen, die gefährlich ins Wanken gerät. Während die Schneiderin das gute Stück vor dem Umfallen bewahrt, räuspere ich mich, um auf meine Anwesenheit aufmerksam zu machen.
Meine Nichte schwenkt ungestüm ihren Rock und fragt gut gelaunt: „Onkel, wie findest du mein Kleid?" Ich muss lächeln. „Wirklich schön. Damit wirst du all den feinen Damen Konkurrenz machen."
Sie errötet leicht. „Das sagt Fräulein Esther auch. Und dabei ist es noch nicht einmal fertig. Auf das Oberteil werden noch winzige rosa Glasperlen gestickt, damit das Kleid funkelt, wenn ich mich auf der Tanzfläche drehe. Und wir denken noch über eine Schleife nach. Die Schneiderin ist begeistert von der Idee, aber Fräulein Esther meint, das wirkt zu gewollt."
Sie streicht den Stoff glatt. Ich mustere das Kleid noch einmal im Ganzen. „Ich denke, Esther hat Recht mit der Schleife. Schließlich weiß sie am besten, was bei Hofe getragen wird."
Annalies pflichtet mir bei. „Ja, stell dir nur vor, als Hofdame konnte sie sich ihre eigene Garderobe aussuchen. Vor jedem großen Fest hat sie lange überlegt, was sie tragen wird, da keines ihrer Kleider einem anderen ähneln durfte. Ich weiß gar nicht, wie ich solche Entscheidungen treffen soll, wenn ich Hofdame werden sollte."
Ich zucke mit den Schultern. „Sicherlich wirst du am Anfang auch Hilfe bekommen." Meine Nichte betrachtet sich erneut im Spiegel. „Das wird auch bitter nötig sein. Das Meiste an diesem Kleid hat Fräulein Esther ausgesucht. Ich hätte gar nicht gewusst, wo ich anfangen soll. Sie weiß so viel über Stoffe und Farben und Mode. Sie hat auch gesagt, dass eine Knopfleiste am Rücken sehr elegant ist und ein Dekolleté gerade tief genug sein muss, um die Reize einer Frau zu betonen, aber nicht so tief, dass nichts mehr der Fantasie der Herrenwelt überlassen bleibt."
Ich ziehe meine Augenbrauen hoch. Ich kann nicht glauben, dass die korrekte Esther so etwas gesagt haben soll. „So hat sie das sicher nicht gesagt", erwidere ich auf Annalies' letzte Sätze. „Esther ist viel zu anständig für solche Kommentare."
„Ich bin geschmeichelt, wie gut Sie von mir denken, Orland, aber diese Worte stammen tatsächlich aus meinem Mund", vernehme ich Esther, die gerade aus einem Nebenraum tritt und sich in einer bordeauxroten Robe auf einem Podest vor den zahlreichen Spiegeln positioniert, damit eine zweite Schneiderin flink ein paar Nadeln stecken kann.
Mir bleibt einen Moment die Luft weg. Annalies' Kleid ist schon sehr schön, doch Esthers Robe sieht reif und erwachsen aus. Sie verzichtet bewusst auf übermäßiges Dekor. Vermutlich, weil es ihr als Gouvernante nicht zusteht, doch ich denke, sie weiß auch, dass ihre schlanke Figur so am besten zur Geltung kommt. Ich ertappe mich dabei, wie mein Blick kurz an ihrem Ausschnitt hängen bleibt – dem Teil ihres Körpers, den sie durch die hochgeschlossenen Kleider bisher verborgen hat. Um ihren Hals trägt sie ein breites Kropfband in der Farbe ihres Kleides, das sie meiner Meinung nach hätte weglassen können. Doch was verstehe ich schon von Mode.
„Sie sehen... Sie sehen einfach umwerfend aus, Esther", bringe ich schließlich heraus, woraufhin Sie leicht errötet. Ich versuche sie mir in einem Leben vorzustellen, in dem sie jeden Tag weit prunkvollere Kleider trägt. Und es fällt mir nicht schwer. Sie strahlt eine natürliche Autorität aus. Hätte sie sich für ein Leben als Hofdame entschieden, wäre sie zweifellos auch darin sehr gut gewesen.
Esther steigt von ihrem Podest herab und lächelt mich an. „Ich danke für das Kompliment. Aber ich bin sicher, dass die wunderschöne Annalies weit mehr Augen auf sich lenken wird. Und so soll es ja auch sein. Aber vielleicht sollte ich Ihrer Nichte noch einbläuen, dass ein Gespräch unter Damen nicht für die Ohren von Herren bestimmt ist. Diese Art von Kommentaren ist mir früher sehr leicht über die Lippen gekommen. Es ging immer darum, sich in Szene zu setzen. Und natürlich sind es die Männer gewesen, die darüber entschieden haben, wie uns Frauen das gelingt."
Eine der Schneiderinnen wendet sich an Esther. „Sind Sie soweit zufrieden mit den Roben, Fräulein? Vielleicht möchten Sie an Ihre doch noch das eine oder andere Accessoire hinzufügen?"
Esther schüttelt den Kopf. „Mein Kleid ist perfekt, bis auf die kleinen Änderungen in der Passform, die wir besprochen haben. Aber möglicherweise könnten Sie bei der Baroness noch einmal nachbessern. Mir gefällt die Spitze um den Ausschnitt nicht. Wenn das Oberteil mit Perlen bestickt wird, dann passt eine ähnliche Perlenstickerei besser. Und ich möchte den Kragen nicht ganz so hoch. Die Baroness wird ihre Haare elegant aufstecken und durch den Kragen wird ihr Hals nicht vorteilhaft betont."
Während Annalies' Gouvernante weiterhin Anweisungen gibt, die ich nicht verstehe, kommt eine ältere Frau mit leichter Hakennase auf mich zu. „Durchlaucht, wie schön, Sie in meinem Geschäft begrüßen zu dürfen."
Ich neige den Kopf zur Begrüßung. „Es ist mir peinlich, Sie so offen darauf anzusprechen, aber da wäre noch die Frage des Budgets." Ich runzele die Stirn. „Was ist damit?" „Nun, Fräulein Griffel hat mir ausgerichtet, dass Sie für die Kleider aufkommen werden. Und zwar nicht nur für das der Baroness, sondern auch für ihres. Ich war mir nicht ganz sicher, weil es – nun ja – nicht üblich ist, dass der Patron seinen Angestellten ein Ausgehkleid zahlt."
Meine Miene verfinstert sich. Es ist nicht das erste Mal, dass an Esthers Wort gezweifelt wird. Diese Frau stellt es so dar, als würde Esther meine Gutmütigkeit ausnutzen.
„Seien Sie versichert, dass die Kosten für beide Kleider gedeckt sind. Und auf welche übliche oder unübliche Weise das geschieht, kann Ihnen ja im Grunde gleich sein."
Die Schneiderin nickt eifrig. „Natürlich, ich wollte nicht unhöflich sein. Würden Sie uns gestatten, die Entwürfe, die Fräulein Griffel angefertigt hat, in unseren Bestand aufzunehmen?" Ich zucke mit den Schultern und weiß nicht recht, was diese Frage an mich gerichtet soll.
„Ich denke, wenn es Fräulein Griffels Entwürfe sind, sollten Sie sie selbst fragen." Die Schneiderin blickt peinlich berührt zu Boden. „Das habe ich getan, Durchlaucht. Und sie schien dieser Anfrage eher abgeneigt. Aber verstehen Sie, diese Frau versteht so unglaublich viel von Extravaganz, vor allem daran gemessen, dass sie kein Mitglied unserer Profession ist."
Ich verschränke die Arme vor der Brust, negativ überrascht von der Aufdringlichkeit der Schneiderin. „Wenn Fräulein Griffel es vorzieht, die Entwürfe als ihr geistiges Eigentum zu betrachten, so haben Sie sich danach zu richten. Und ich bitte Sie darum, sich nicht anzumaßen, darüber zu urteilen."
Esther hat offenbar mitbekommen, dass ich meine Stimme etwas erhoben habe, denn sie stößt zu uns und fragt neutral: „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?" Die Schneiderin verzieht ihr Gesicht zu einer säuerlichen Miene und entfernt sich mit einem Knicks. Esther sieht mich fragend an.
Ich seufze. „Im Grunde nichts, worüber ich mich aufregen sollte. Ich habe nur das Gefühl, dass die Menschen Sie hier nicht so respektieren, wie sie es sollten. Immerhin hat diese Frau erkannt, dass Sie großartige Arbeit leisten." Esther lächelt wehmütig. „Stimmt, Sie sollten sich nicht darüber aufregen. Die beiden jungen Maßschneiderinnen sind äußerst reizend, aber die Inhaberin ist bisweilen etwas schwierig. Sie ist unzufrieden, dass ich ihr die Entwürfe nicht überlasse. Aber ich will verhindern, dass irgendwann ganz Grara in einem billigen Abklatsch unserer Roben herumläuft. Wenn es Sie beruhigt, wir sind hier so gut wie fertig."
Während die Damen wieder in ihre eigene Kleidung schlüpfen, versuche ich mir unsere Zeit in Calia vorzustellen. Wenn eine gut betuchte Schneiderin in einer Kleinstadt schon so schwierig ist, wie werden dann erst der Adel und die Königsfamilie sein?

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt