Kapitel 8 - Orland

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Ich betrete das kleine Gasthaus zum bunten Gockel. Es ist mehr eine Spelunke, die Art von Bleibe, wo ich ein Fräulein Esther Griffel als letztes vermuten würde. Das alles erscheint mir sehr suspekt. Eine junge Frau mit hervorragenden Referenzen und einem Lebenslauf, der sie für viele Positionen empfehlen würde, landet in einer schäbigen Absteige in meiner kleinen Baronie. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber ich habe meine Entscheidung getroffen. Kasimir ist von Anfang an für sie gewesen und spätestens, seit sie sich für Annalies eingesetzt hat, kann ich ihr meine Zustimmung nicht mehr verweigern. Vor allem aber ist mir klar geworden, dass es schlicht und einfach niemanden sonst gibt, der infrage käme. Sie ist eine Frau von Welt. Damit kann sich in dem verschlafenen Nest hier sonst niemand brüsten.

Immer wieder rede ich mir ein, dass ich mich schon an sie gewöhnen werde. Mir steht unschön unsere erste Begegnung vor Augen. Sekunden haben ausgereicht und ich habe die Kontrolle verloren. Denn sie gehört ganz eindeutig zu den Frauen, in deren Gegenwart sich ein Mann nur wie ein Idiot fühlen kann. Ich atme tief durch. So wird es nicht noch einmal laufen, rede ich mir ein. Ich war nicht vorbereitet. Jetzt bin ich es. Ich weiß, was ich will, ich weiß, wer sie ist und ich weiß, was sie mir nützen wird. Und das muss genügen, um über meinen Schatten zu springen.

Ich trete an den Tresen und die Wirtin blickt auf. Ein überraschter Ausdruck huscht über ihr Gesicht. „Guten Abend, Durchlaucht. Was wünschen Sie?" Innerlich seufze ich. Es fühlt sich so dämlich an, einer Frau hinterherzulaufen und sich einen Fehler eingestehen zu müssen. Doch ich habe Annalies in den wenigen Tagen kennengelernt, die sie bei mir ist. Sie ist mir wichtig geworden. Und ich habe begriffen, dass nicht ein bisschen Bildung ausreicht, um ihr eine Zukunft zu ermöglichen, sondern dass in erster Linie ihr Selbstbewusstsein gestärkt werden muss. Und dafür brauche ich diese Frau.

„Ich suche Fräulein Griffel." Die Wirtin schnaubt. „Na, da trauen Sie sich aber was! Nur zur Information, sie ist keine dieser Damen, die man leichtfertig beleidigen kann! Ich hoffe, dass Sie ihr demütigst gegenübertreten und einen äußerst guten Grund haben, sie zu behelligen! Nach dem, was Sie sich geleistet haben!" Angesichts ihrer Vorwürfe werde ich wütend. Die Gerüchteküche beim weiblichen Geschlecht funktioniert ja wieder einmal ganz hervorragend. Wehmütig muss ich daran denken, dass die Menschen in der Baronie meines Bruders ganz anders mit ihrem Baron umgehen. Dort würde sich niemand so etwas trauen.

Ich setze einen bösen Gesichtsausdruck auf. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Und wenn Sie mir jetzt bitte Auskunft geben könnten..."

Sie deutet mit dem Kinn in eine Ecke des Schankraumes. „Sie sitzt da hinten." Ohne ein weiteres Wort greift sie nach einem Geschirrtuch und fängt an, Gläser zu polieren.

Ich wende ihr den Rücken zu und begebe mich in den Teil des Raumes, in den sie gezeigt hat. Esther Griffel sitzt alleine an einem Tisch, vor sich ein halbvolles Glas und einen leeren Teller, und ist damit beschäftigt, einen Rock zu flicken. Diese Situation zeigt mir so eindeutig, dass sie finanziell wirklich nicht gut dasteht. Und dennoch wirkt sie nicht jämmerlich und bemitleidenswert, sondern auf seltsame Weise stark und unabhängig.

Ich trete an ihren Tisch heran und räuspere mich. Sie blickt auf. „Durchlaucht, was tun Sie denn hier?", fragt sie ehrlich überrascht. Zu meiner Verwunderung kann ich in ihrer Stimme keine Anzeichen erkennen, dass sie mir mein Verhalten immer noch übel nimmt. Insgesamt ist sie schwer zu durchschauen. Was sie auch denken mag, ich weiß es nicht.

„Entschuldigen Sie die Störung, Fräulein Griffel", beginne ich und bemühe mich um einen höflichen Tonfall. „Dürfte ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?" Sie nickt und legt ihre Arbeit beiseite. Immer noch keine Regung in Ihrem Gesicht.

„Ich weiß gar nicht so genau, wo ich anfangen soll", gebe ich zu und fühle mich schon wieder so vollkommen idiotisch. „Ich bin in erster Linie hier, um mich zu entschuldigen. Ich bekomme öfters zu hören, dass ich nicht sonderlich gesellschaftstauglich bin und es tut mir leid, dass meine Höflichkeit zu wünschen übrig ließ. Ich nehme an, ich war einfach misstrauisch, dass eine Dame wie Sie die Gouvernante meines Mündels werden möchte. Doch Ihr Einsatz für Annalies hat gezeigt, dass diese Bedenken unbegründet gewesen sind. Ich hoffe, Sie können mir mein Betragen verzeihen und nehmen gleichsam meinen ehrlichen Dank entgegen." Sie streicht sich nachdenklich eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Wissen Sie, Durchlaucht, ich kann Sie sogar verstehen. Auch ich hätte mich bei einer Bewerberin wie mir gefragt, ob nicht irgendwelche Hintergedanken im Spiel sind. Aber im Gegensatz zu Ihnen hätte ich einfach nachgehakt. Sie hätten mich schlicht fragen können, wie meine Motivation begründet ist und ich hätte Ihnen ehrlich geantwortet, dass ich eine Anstellung brauche, um für meine täglichen Bedürfnisse aufkommen zu können. Mein Leben hat sich vor Kurzem drastisch verändert und ich bin dabei, mich neu zu orientieren. Das hätte ich Ihnen gesagt. Aber Sie haben überhaupt nichts gefragt, sondern waren einfach nur von Anfang an ablehnend."

Ich fühle mich schlecht, denn natürlich hat sie Recht. Dazu kommt unerklärlicherweise die Neugierde, was denn wohl vorgefallen ist, dass sich ihr Leben so verändert hat. Vielleicht sind ihre Eltern bankrott gegangen und sie hat dadurch an Status verloren? Ich schüttele leicht den Kopf, um diese spekulativen Gedanken zu vertreiben. Lieber sollte ich mich darum bemühen, sie mit Worten zu besänftigen, um meine Anfrage vorzutragen.

Doch auch jetzt überrascht sie mich, da sie von allein fortfährt: „Trotz allem möchte ich nicht nachtragend sein. Ich weiß, was es bedeutet, für ein junges Mädchen zu sorgen und dass einige Reaktionen bisweilen irrational sein können. Ich nehme Ihre Entschuldigung an." Ich nicke dankbar und bin innerlich verdammt erleichtert. Es ist komisch, dass diese Frau es geschafft hat, sich meine Anerkennung zu verdienen, doch das hat sie in der Tat. Jede Dame hätte mich an ihrer Stelle in meinem schlechten Gewissen schmoren lassen, mit meinen negativen Gefühlen gespielt. Doch Esther Griffel scheint es nicht nötig zu haben und zudem offenbar eines zu wissen: Dass Menschen Fehler machen.

„Sie haben gesagt, dass Sie wüssten, wie es ist, für ein junges Mädchen zu sorgen", greife ich den Gesprächsfaden wieder auf. „Haben Sie diese Erfahrung bei Hofe gemacht?" Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Ich habe das Gefühl, dass Sie mit mir das Gespräch führen, das Sie schon vor ein paar Tagen hätten führen sollen. Aber ich habe um Fragen gebeten und nun werde ich sie beantworten. Eigentlich habe ich auf die Zeit vor meiner Stellung als Hofdame angespielt. Meine Mutter ist früh verstorben und ich habe lange die Bezugsperson für meine jüngeren Schwestern sein müssen. Ich glaube im Nachhinein, dass diese Zuwendung in ihrer Kindheit für sie wichtiger war als später meine Bemühungen, sie bei Hofe einzuführen."

Ich höre ihr interessiert zu. Bei unserer ersten Begegnung habe ich sie einfach nur an ihrem Alter gemessen, aber ich merke, dass sie eine Menge Lebenserfahrung mitbringt. Ich denke daran, wie sie mich das letzte Mal rhetorisch einwandfrei in Grund und Boden geredet hat. Zweifellos könnte sie das auch jetzt tun, doch sie überlässt mir bewusst den Gesprächsfaden und das gibt mir Sicherheit. Unsere Unterhaltung hat sich so unkompliziert entwickelt, dass ich nun auch kein Problem damit habe, völlig offen zu ihr zu sein.

„Sie haben Annalies getroffen, Fräulein Griffel. Ich weiß nicht, was Sie von ihr halten, aber mir ist es wichtig, Sie wissen zu lassen, dass meine Nichte Sie schätzt und Ihnen vertraut. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass Annalies eine führende Hand und eine vertraute Person um sich braucht, doch das kann nicht ich sein. Mein Mündel kann von Ihrer höfischen Erfahrung profitieren, aber darüber hinaus hoffe ich, dass Sie ihr zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen können. Sie hatte keine leichte Kindheit und ich möchte, dass es ihr gut geht. Und obwohl ich weiß, dass ich durch mein Verhalten jeden Anspruch darauf verspielt habe, würde ich Sie bitten, zu erwägen, ihre Gouvernante zu werden."

Fräulein Griffel zögert nicht eine Sekunde. „Wenn Sie es wünschen, dann würde ich mich glücklich schätzen." Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen.

Ein wenig unschlüssig sitzen wir uns nun gegenüber. „Natürlich werde ich Ihre Kosten für die letzten Tage hier übernehmen... ", füge ich hinzu in dem Versuch, etwas gut zu machen, doch mein Gegenüber runzelt nur die Stirn. „Bitte, Durchlaucht, beleidigen Sie mich nicht. Für jeden Pfennig, den ich von Ihnen erhalte, möchte ich vorab gearbeitet haben." Sie greift nach ihrer Handarbeit und damit ist unser Gespräch wohl beendet.

Ich räuspere mich. „Ich erwarte Sie dann morgen so gegen zehn Uhr, wenn Sie möchten, lasse ich Ihr Gepäck von einem Bediensteten holen." Sie schenkt mir als Bestätigung ein Nicken. Und ich frage mich, ob Kasimir wohl Recht behalten wird, wenn er sagt, dass sich nicht viel ändern muss. Vielleicht wird sich doch einiges verändern.


Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt