Kapitel 40 - Orland

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Der kleine Salon, der zu meinem Gästezimmer gehört, ist durchflutet von Licht. Ich bin umgeben von exquisiten Möbeln, die Fenster öffnen den Blick auf einen gigantischen Schlosspark. Doch ich kann diese Ausstattung und Aussicht nicht wirklich genießen.
Vergangene Nacht, nachdem ich Esther mit Hilfe eines Lakaien in den Gästeflügel getragen hatte – sie war tatsächlich tief und fest eingeschlafen – brachte ich es nicht übers Herz, sie in ihrer kargen Mägdekammer neben Annalies' Zimmer allein zu lassen und überließ ihr schließlich mein Bett. Eine freundliche Zofe kümmerte sich darum, dass sie es bequem hatte, während ich mich auf eine Nacht in diesem kleinen Salon einrichtete.
Ich werfe einen bösen Blick auf die elegante Chaiselongue. Ihretwegen plagen mich Rückenschmerzen und Müdigkeit. Ganz eindeutig ist dieses Möbelstück nicht dafür gemacht worden, dass man darauf die Nacht verbringt.
Aus dem Schlafzimmer nebenan höre ich leise Geräusche. Offenbar ist Esther aufgewacht.
Ich seufze. Ich habe keine Ahnung, was ich nun tun soll. Das unbequeme Sofa ist die eine Sache, doch selbst in meinem Bett hätte ich vermutlich nicht besser geschlafen. Meine Gedanken sind seit gestern Abend eingenommen von der Frage, was Esther – die wunderbare, gütige Esther – getan haben kann, um verbannt zu werden. Dies ist kein Urteil, was leichtfertig ausgesprochen wird. Eine Verbannung ist die Strafe für Raub, Verbrechen gegen die Krone oder mehrmalige und vorsätzliche Lüge vor Gericht. Das alles kann ich mir bei ihr überhaupt nicht vorstellen. Sie ist doch ein guter Mensch.
Hinzu kommt, dass sie die Schwester der Königin ist. Auch, wenn ich Martha von Calia sehr schwer einschätzen kann, erscheint sie mir als eine liebenswürdige, gerechte Person, die sich sehr um ihre Familie sorgt. Sicherlich hätte sie ihrer Schwester ein solches Urteil erspart, wenn es irgendwie möglich gewesen wäre.
Meine Gedanken werden dadurch unterbrochen, dass sich die Tür zum Schlafzimmer öffnet. Esther sieht leicht verquollen und müde aus. Sie trägt das Kleid vom Ball, aber ihre langen Haare fallen ihr offen den Rücken hinunter. Ich sehe ihr die Verwirrung an, die Unsicherheit, mit der sie in den Salon tritt.
„Ich habe mir schon gedacht, dass das Ihr Zimmer ist", murmelt sie leise und ich werde ein wenig verlegen.
Ich räuspere mich. „Vermutlich habe ich damit irgendwelche Grenzen der höfischen Schicklichkeit überschritten, aber ich wollte, dass du", ich betone die intimere Form der Anrede, die sich gestern in unser Gespräch geschlichen hat, um ihr zu verdeutlichen, dass ich daran festhalten möchte, „es bequem hast und ich heute Morgen sehen kann, wie es dir geht."
Sie runzelt die Stirn. „Ich scheine ja gestern jede Hemmung verloren zu haben, wenn ich Sie geduzt habe. So unangenehm es mir ist, ich erinnere mich an einiges nicht mehr." „Du hast viel getrunken", erwidere ich. „Aber ich fände es schade, wenn das der einzige Grund für unsere Vertrautheit gewesen sein sollte. Vielleicht konntest du ohne deine inneren Schranken einfach offener zu mir sein und ich auch zu dir. Und ich möchte, dass es so bleibt. Ich möchte, dass wir nicht wieder einen Schritt zurückmachen und behaupten, diese Nacht und unser Gespräch hätte es nicht gegeben. Für mich gibt es das. Und für dich vielleicht zumindest einen Teil".
Sie errötet leicht und blickt zu Boden. Ich frage mich unwillkürlich, ob sie sich an den Kuss erinnert. Ich würde mir wünschen, dass sie es tut, denn egal, wie verunsichert ich von ihrem Verbannungs-Zeichen bin, ich bereue diesen Teil der Nacht in keiner Weise.
„Ich gebe mir Mühe", sagt sie. „Aber ich hoffe, dass... dass du weißt, wie schwer mir diese Vertrautheit fällt." Ich nicke. „Ich weiß."
Einen Moment herrscht Stille. Dann meint sie: „Vielleicht sollte ich mich umziehen gehen. Und Annalies auf das Frühstück vorbereiten. Mein Gott, ich habe sie gestern vollkommen alleine gelassen! Was bin ich nur für eine Gouvernante..."
„Annalies geht es gut", unterbreche ich sie. „Und wir werden auch noch pünktlich zum Frühstück sein, wenn du erst in zehn Minuten zu ihr gehst. Für mich ist es wichtig und an der Zeit, dass wir über deine Vergangenheit reden."
Esthers Hand wandert unwillkürlich an ihren Hals, der heute weder von einem breiten Halsband, noch von einem hohen Kragen verborgen ist.
„Ich habe mich schon gefragt, ob du es weißt. Aber ich habe mir gedacht, dass du mir unmöglich solch eine Vertrautheit gestatten würdest, wenn du es wüsstest." „Esther, alles, was ich weiß, ist dass du ein Zeichen im Nacken trägst. Aber wie könnte ich urteilen, wenn ich die Geschichte dahinter nicht kenne?" „Weil es das Ergebnis ist, was zählt. Und nicht mein Weg dahin. Ich habe Angst, Orland. Dass du mich verurteilst, dass du mir Annalies nicht mehr anvertraust, dass meine Vergangenheit wieder einmal alles zerstört." „Esther, ich möchte dir vertrauen. Aber das kann ich nicht, wenn du mich im Dunkeln lässt. Gib mir die Chance, dass ich mir selbst eine Meinung bilde."
Sie ist still, aber ich sehe, wie sie mit sich ringt. Schließlich lässt sie sich auf einem der Stühle nieder und beginnt stockend, zu erzählen.
„Ich muss weit ausholen, wenn die Geschichte und meine Motive darin einen Sinn ergeben sollen. Du sollst wissen, dass ich mich durch nichts rechtfertigen möchte, auch, wenn es vielleicht manchmal so klingt. Meine Fehler sind meine Fehler und ich stehe dafür gerade.
Mein Vater ist Hofschreiber gewesen und meine Mutter ist bereits während meiner Kindheit gestorben. Ich war deshalb schon in jungen Jahren zuständig für den Haushalt. Ich kannte das Gefühl von Verantwortung und bin quasi damit aufgewachsen. Verantwortung für ein präsentables Heim, für die Mahlzeiten, für meine kleinen Schwestern. Und ich habe gesehen, was ich alles leiste und habe mich gut damit gefühlt.
Aber ich wollte auch, dass andere das sehen, vor allem mein Vater. Doch er ist ein schwieriger, zurückgezogener, eigenbrötlerischer Typ, der mit Tinte auf Papier mehr anfangen kann, als mit Menschen. Martha wurde schnell zu seinem Sternchen, weil sie stundenlang seinen Geschichten lauschen konnte, für die ich keine Zeit hatte. Und ich schätze, das ist der Zeitpunkt gewesen, in dem mir mein Zuhause nicht mehr genug war.
Ich wollte etwas gelten, wollte, dass mich endlich jemand sieht. Ich war neidisch auf Martha, weil sie ein so gutes Verhältnis mit unserem Vater hatte und ich war neidisch auf Henna, meine andere Schwester, weil sie immer vor Freude sprühen konnte, weil jeder sie mochte und weil sie unsere Situation so hinnehmen konnte, wie sie war. Und ich war wütend auf meinen Vater, dass wir nicht wie andere Familien zum Stadtfest gingen, nicht in dem Standard lebten, den wir uns hätten leisten können, dass er keinen Plan für unsere Zukunft hatte."
Ich bin überwältigt von ihrer Ehrlichkeit. Ich habe mir eingefordert, zu erfahren, was vorgefallen ist, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass sie ihr Innerstes so offen und wehrlos vor mir ausbreitet. Ich kann sie mir vorstellen, als dieses strebsame, verbissene Mädchen, das sie beschreibt, aber ich weigere mich, deshalb schlecht von ihr zu denken. Wenn sich meine Wut gegen jemanden richtet, dann ist es im Moment der Vater in dieser Geschichte.
„Als ich siebzehn wurde", fährt Esther zögernd fort, „bot man mir die Stellung als Hofdame an. Ich war glücklich, meinem Elternhaus zu entkommen und etwas aus mir machen zu können. Das war die Chance, auf die ich gewartet hatte. Und mein Vater ließ mich ohne zu zögern gehen – damals meine Bestätigung, dass ich ihm egal war.
Ich fand bei Hofe eine neue Familie. Meine damalige Hofdamenschwester Theodora gab mir die Geborgenheit und Aufmerksamkeit, die ich zu Hause nie bekommen hatte. Sie war in meinem Leben die erste, die meinem Vater je die Stirn geboten hat und sie schätzte mich für das, was ich mir erarbeitete. Sie heiratete nach einiger Zeit und meine Schwester Henna wurde ihre Nachfolgerin. Sie war sofort beliebt und ich fühlte mich wieder, als würde ich hinter ihr zurückstehen. Als ginge meine Kindheit von vorne los."
Sie stockt und daran merke ich, dass wir nun langsam zum Kern der Geschichte vorstoßen.
„Als Prinz Eventus, der Bruder des amtierenden Königs, begann, mir mehr Aufmerksamkeit zu schenken, war ich deshalb unvorsichtig und arglos, einfach nur geschmeichelt. Er wollte, dass ich in einem Prozess gegen seinen Bruder Titus aussage. Man warf ihm vor, sich an Frauen vergriffen zu haben. Zu dem Zeitpunkt dachte ich nicht viel darüber nach. Ich nahm an, es gäbe Beweise dafür, aber keine Frau traute sich, die Tat zu bezeugen. Also bezeugte ich das Verbrechen unter Theodoras Namen. Ich dachte, es geschehe in ihrem Sinn. Dabei kannte ich sie eigentlich besser. In meinem Eifer wollte ich einfach nur helfen und habe deshalb bewusst nicht darüber nachgedacht. Das ist der erste große Fehler, den ich bei Hofe begangen habe, und der das Leben eines Menschen zerstörte. Kronprinz Titus wurde verurteilt und ihm wurde der Anspruch auf die Krone entzogen. Man duldete ihn weiterhin im Schloss, um die Misere geheim zu halten und die Königsfamilie zu schützen. Aber ein erfüllendes Dasein waren die folgenden Jahre für ihn nicht."
Ihre Augen werden feucht und die ersten Tränen fließen ihre Wangen hinab. Ich fühle mich innerlich leer. Diese Erzählung ist bereits jetzt so komplex, dass ich gar nicht weiß, wem ich die Schuld in die Schuhe schieben soll. Sicher, Esther hat ihren Anteil an der Ungerechtigkeit gehabt und sie hätte es besser wissen müssen. Aber was ist das für ein System gewesen hier bei Hofe, dass eine junge Frau keinen Schutz davor erfährt, manipuliert zu werden?
„Drei Jahre später kam Martha an den Hof. Sie war schon immer die Scharfsinnigste von uns und sie hatte zu dem Zeitpunkt, das erfuhren wir später, bereits mehrere Jahre die Arbeit unseres Vaters als Schreiber übernommen, ohne dass es jemand ahnte. Sie konnte also lesen, was wir anderen nicht konnten. Sie stieß auf Hinweise, die die Unrechtmäßigkeit des Prozesses bezeugten und verbündete sich im Geheimen mit dem verurteilten Kronprinzen.
Prinz Eventus schöpfte Verdacht und begann, mich zu erpressen. Er drohte damit, meine falsche Zeugenaussage ans Licht zu bringen und mir den ganzen Prozess in die Schuhe schieben. Wieder erkannte ich nicht, was er eigentlich vorhatte. Ich war für ihn nur das Mittel zum Zweck, um seinen Bruder endgültig zu entmachten. Ich bekam Angst und tat, was er von mir forderte. Ich sagte noch einmal falsch gegen seinen Bruder aus, dieses Mal unter meinem eigenen Namen. Eventus brachte das Gericht dazu, Titus ohne ein Urteil zu bestrafen. Er ließ ihn auspeitschen und wollte ihn am nächsten Tag hinrichten. Martha konnte das verhindern und verschwand mit ihm. Sie suchten Schutz bei Fürst von Kroesus und Theodora, seiner Frau. Gemeinsam rollten sie den gesamten Prozess wieder auf. Titus wurde freigesprochen, Eventus und ich wurden verurteilt. Wir wurden beide in die Verbannung geschickt, ich mit dem Zugeständnis, unter dem Schutz eines Patrons oder Dienstherrn zurückkehren zu können.
Ich hatte nie vor, nach Calia zurückzukehren. Vor allem nicht an den Hof. Ich hatte gehofft, die Vergangenheit hinter mir lassen zu können, aber ich habe es nicht geschafft. Ich wollte Martha nicht unter die Augen treten. Ihr Mann wäre meinetwegen fast gestorben."
Gegen Ende ist ihr Geständnis immer schneller geworden. Nun weint sie haltlos. Und ich sitze da und versuche, das Chaos in meinem Kopf zu sortieren.
Ich bin bestürzt über das, was ich erfahren habe. Esther hat sich selbst als eine Person geschildert, die fahrlässig gehandelt hat, die ihr eigenes Wohl über das anderer gestellt hat. Sie hat für sich selbst Schutz gesucht und dabei jede Moral vernachlässigt. Sie hat sich instrumentalisieren lassen aus einer Eitelkeit und Strebsamkeit heraus, die sie blind gemacht haben. Sie hat Jahre eines Menschen zerstört, beinahe sogar sein Leben. Wäre ich ihr damals begegnet, dann hätte ich sie vermutlich verachtet.
Aber das kann ich nicht. Sie hat jede ihrer Taten, ihrer schlechten Gefühle und Gedanken vor mir ausgebreitet und dennoch kann ich nicht schlecht von ihr denken. Das Einzige, was ich denken kann, ist: Das ist nicht sie. Das ist nicht die Esther, die ich kenne.
Was ändert ihre Vergangenheit daran, was ich für sie empfinde? Sie hat große Fehler begangen. Aber sie wurde dafür bestraft. Sie wurde verurteilt von den Menschen, denen sie geschadet hat. Wenn Königin Martha und König Titus sie zu sich einladen, sie willkommen heißen, dann steht es mir nicht zu, ihr diese Vergangenheit nachzutragen, die mich gar nicht betrifft.
Im Gegenteil, ich habe sie ganz anders kennengelernt. Jetzt, wo ich all die Dinge über sie weiß, verstehe ich, warum sie sich so dafür eingesetzt hat, dass Annalies und ich als Familie zueinander finden. Sie hat selbst darunter gelitten, dass sie sich in ihrer Familie nicht wertgeschätzt gefühlt hat. Sie hat erfahren, wie ein Mensch unter falschen Beschuldigungen leiden kann und hat Annalies in ihrer Abstammung deshalb so vehement verteidigt, wie sonst niemand.
Ich begreife, wie sehr sie sich reflektiert und verändert haben muss. Und dafür könnte ich sie nie verachten. Dafür bewundere ich sie.
Ich trete näher an sie heran und streiche ihr flüchtig übers Haar. „Danke für deine Offenheit, Esther. Das bedeutet mir viel."
Sie schnieft. „Was denkst du jetzt über mich?" „Ich denke", sage ich, „dass deine Vergangenheit vergangen ist. Ich urteile nur über Menschen, die ich kenne. Und dich kenne ich anders. Du bist ein guter Mensch. Du hast dich geändert. Und das ist es, was für mich zählt."
Sie schüttelt den Kopf. „Ich glaube, du machst es dir damit sehr einfach, Orland." Ich widerspreche ihr: „Nein, mache ich nicht. Ich glaube, du machst es dir mit der Sache zu schwer. Du hast deine Strafe bekommen und ich glaube, aus der Sicht aller ist damit das Thema abgeschlossen. Ich verstehe, dass du das nicht so einfach kannst. Aber ich wünsche mir, dass du versuchst, dich mit den Augen anderer zu sehen. Und ich sehe, dass du sehr viel für Annalies und mich getan hast. Mehr, als es deine Aufgabe gewesen wäre."

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt