Kapitel 2 - Esther

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Stumpfsinnig starre ich aus dem schmutzigen Fenster mit den blinden Scheiben in den schlammigen Hof mit den Stallungen für die Pferde. Wasser regnet in Bindfäden vom Himmel und die kühle, feuchte Herbstluft drängt durch alle Ritzen am Fensterrahmen, unter der Tür und in den Wänden in mein schäbiges kleines Zimmer. Das Gasthaus zum bunten Gockel verdient seinen Namen wahrlich nicht. Alles hier ist grau-braun, eintönig und schmuddelig. Es ist die Art von Bleibe, in der Kutscher oder Boten auf der Durchreise eine Nacht verbringen, ehe sie am nächsten Tag die Grenze nach Calia überqueren. Diese liegt mit der Kutsche etwa drei Stunden entfernt in östlicher Richtung.

Ich weiß, dass sich die Menschen, mit denen ich bisher Kontakt hatte, sehr über mich wundern. Ich bin ein Mysterium für die Leute in Grara, der Kleinstadt, in der ich nun seit knapp acht Wochen lebe. In dem Moment, als ich das erste Mal über die Schwelle dieses Gasthauses trat, ohne männliche Begleitung, in meiner vergleichsweise noblen Kleidung, die bei Hofe vielleicht für eine Hausdame getaugt hätte, aber hier, in diesem kleinen, verschlafenen Nest wirken muss, wie aus einer anderen Welt, und nach dem billigsten Zimmer verlangte, wurde ich minutenlang angestarrt, als wäre ich einer Irrenanstalt entlaufen. Ich weiß noch, wie ein Säufer mit roter Nase schwankend aufgestanden und auf mich zu getorkelt war, sehr erheitert über meine Bitte, jedoch mucksmäuschenstillt, nachdem ich ihm von oben herab – ja, ich war größer als er – mit allen möglichen Folgen gedroht hatte, falls er mich auch nur berühren sollte.

Wilma, die mollige Wirtin, hatte meine Standpauke zudem aus der Erstarrung befreit und sie hatte sich beeilt, mir meine Wünsche zu erfüllen. Mittlerweile ist sie meine einzige Bezugsperson in dieser fremden Kleinstadt und kommt jeder meiner Bitten nach, ohne auch nur im Geringsten zu hinterfragen, wer ich bin und woher ich komme. Vermutlich beschäftigt sie ihre Gedanken damit insgeheim, aber Gesprächsthema ist meine Vergangenheit noch nie geworden. Und ich bin froh darüber.

In den vergangenen Wochen hatte ich viel Zeit für Überlegungen. Mein ganzes Leben lang wollte ich meine Kindheit hinter mir lassen und Teil etwas Größeren werden. Nun würde ich am liebsten meine Zeit bei Hofe vergessen, aber dagegen sträube ich mich. Ich beginne zu lernen, dass mein gesamtes Leben zu mir gehört. Ich beginne zu begreifen, dass ich als junges Mädchen gelernt habe, einen Haushalt zu führen und nur deshalb mit dem Geld von König Titus bis jetzt gekommen bin. Natürlich hätte ich ein anderes Gasthaus, ein anderes Zimmer wählen können, doch dann wäre mein jetzt bereits knappes Geld bereits zur Neige gegangen. Ich beginne zu begreifen, dass ich bei Hofe gelernt habe, Autorität auszustrahlen. Vielleicht widerspreche ich damit dem Bild der Frau in der aktuellen Zeit, aber ich brauche keinen Mann an meiner Seite, um in Ruhe gelassen zu werden. Wilma meint immer, wenn ich wieder einmal zudringliche Menschen verbal von mir fernhalte, meine Augen seien wie Nadelstiche und meine Worte wie ein Dolchstoß. Hinter meinen leeren Drohungen wähnt jeder tatsächliche Folgen, als wäre meine Persönlichkeit auf ein Fundament gebaut, das nicht zu erschüttern ist.

Ich habe begriffen, dass ich so tief gefallen bin, wie wohl wenige Menschen in meinem Umkreis. Aber ich habe auch begriffen, dass niemand um mich herum das weiß. Jeder sieht nur meinen aufrechten Gang, meine gute Kleidung, meinen harten Gesichtsausdruck und schon denken sie sich ihren Teil. Wenn ich abends in der Gaststube mein Abendessen einnehme, höre ich wilde Gerüchte über mich. Je mehr Alkohol im Spiel ist, desto abwegiger die Geschichten.

Eine Säuferrunde beispielsweise munkelte, ich sei eine verstoßene Tochter aus dem Hochadel, die auf Rachefeldzug ist. In einer anderen Ecke wurde unter Studenten die Vermutung laut, ich sei die Witwe eines Meisterdiebes und suche nach einer neuen Partie. Und Wilma schließlich fragte mich ziemlich zu Beginn nach meiner Niederlassung, ob ich die Frau eines Unternehmers sei und ihr den Gasthof abschwatzen wolle.

Ich blicke wieder aus dem Fenster. So aberwitzig diese ganzen Vermutungen auch sind, ich weiß nicht, was ich auf die Frage, wer ich bin, antworten würde, wenn ich ehrlich wäre. Wer bin ich? Ich bin die Tochter eines Schreibers, eine verbannte Hofdame, Schwester der calischen Königin. Aber diese Definitionen sagen nichts über mich. Sie beschreiben meine Vergangenheit, meine Familie, aber nicht mich. Wer bin ich? Was will ich? Es sind Fragen, auf die ich noch eine Antwort suche.

Die GouvernanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt