Orientierung

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Es war laut. 

Es dröhnte in ihren Ohren. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren, alles was sie mitbekam war diese Lautstärke. Ihr erster Impuls war es sich die Ohren zuzuhalten, aber das ging nicht. Warum ging es nicht?

Etwas stimmte nicht. Sie versuchte tief durchzuatmen und zu verstehen, was passierte. Es war laut. Es war dunkel. Es war kalt. 

Lovis atmete tief durch und zählte im Kopf bis sieben. Sie wusste nicht, was los war, aber ihr Unterbewusstsein machte ihr mehr als deutlich, dass sie sich zusammenreißen musste. Doch irgendwas schien sie daran zu hindern, ihre ganze Wahrnehmung wieder zu erlangen. 

Hatte sie zu viel getrunken? Nein. Nein, sie war nichts trinken gewesen. Woran erinnerte sie sich als letztes? 

Eine Straße. Es war später Abend. Sie hatte Feierabend und wollte nach Hause. Es waren nicht viele Menschen unterwegs gewesen. War sie zu Hause angekommen? Lovis erinnerte sich nicht und je mehr sie sich anstrengte, desto schwammiger wurden die Erinnerungen. 

Also musste sich sich erstmal um das Jetzt kümmern. Die Lautstärke kam von Musik, Stimmen, tiefe Stimmen. Männer, die sich anbrüllten. Es war zu viel, als das sie hören konnte, worum es ging. Es schienen viele zu sein. Manchmal waren höhere Stimmen dazwischen, doch sie redeten nicht, sondern schrien.

Scheiße, wo war sie hier nur?

Sie fühlte, dass sie auf dem Boden saß und ihr Rücken lehnte gegen eine Wand. Alles war kalt. Sehen konnte sie aber nichts. Da lag etwas über ihren Augen und nahm ihr jegliche Orientierung. Egal wie sehr sie es versuchte, sie konnte sich nicht bewegen. Um ihre Handgelenke schlang sich dickes Leder, auch ihre Fußgelenke waren davon umgeben. Etwas erschwerte ihr das Atmen, zwischen ihren Zähnen klemmte etwas Gummiartiges. 

Sie wusste, dass sie in einer wirklich beschissenen Situation war. Lovis war nie zu Hause angekommen. In ihrem Kopf tauchten Hände auf, die sie nach hinten rissen. 

Jemand hatte sie entführt und jetzt befand sie sich wer weiß wo. Sie war gefesselt und so wie sich das anfühlte, beinahe nackt. 

Wieder schrie eine Frau. Sie hörte den Schmerz, der tief aus ihr heraus kam. Stimmen wurden schließlich von einer Welle aus Klatschen übertönt. Wie viele waren denn hier? 

Die seltsame Musik aus dem Hintergrund klang nun lauter und verhieß nichts gutes. Sie hätte gut aus einem Horrorfilm sein können, kurz vor der Szene in der alles eskalierte. 

Ihr Kopf tat weh und ihr war schlecht, doch das waren Nebensachen. Sie sollte dringend hier verschwinden, aber wie, wenn sie nicht mal aufstehen konnte. 

Plötzlich kam wieder Unruhe auf. Schritte. Schwere Stiefel kamen immer näher. 

"Nehmen wir sie als nächstes. Sie ist der heutige Höhepunkt", hörte sie jemanden sagen, dessen Stimme von Alkohol zerfressen war. 

Noch bevor sie berührt wurde, spürte sie es auf sich zukommen und versuchte wegzurutschen,  aber keine Chance. 

Große Hände packten sie an den Oberarmen und zogen sie mit einem Ruck nach oben. Die plötzliche Bewegung vertrug sie nicht gut und sie musste aufpassen, sich nicht zu übergeben. Sie mussten ihr irgendwelche Drogen gegeben haben. 

"Dann sehen wir mal, wie viel du einbringst, Kleine." Diese Stimme war noch tiefer und unangenehmer, ekelerregend.

Schwach versuchte sie sich zu befreien, aber er war viel stärker als sie. Seine Hände machten sich an ihren Fußknöcheln zu schaffen, etwas fiel klirrend auf den Boden. 

"Komm." Ein starkes Ziehen machte sich an ihrem Hals bemerkbar und sie stolperte nach vorne. An ihren Füßen trug sie offenbar wahnsinnig hohe High Heels. Sie hatte Glück, dass sie Übung hatte und so nicht direkt hinfiel aber ohne jegliche Orientierung war es schwer genug. Wenn sie stehen blieb, ruckte es wieder an ihrem Hals und ihr blieb keine Wahl als zu folgen, wenn sie nicht stranguliert werden wollte. 

Die Absätze klackten auf dem festen Boden und hallten an den Wänden wieder. Sie hatte Mühe hinterher zukommen. Für kurze Zeit legte sich ein Arm um ihre Hüfte und sie verlor den Boden unter den Füßen. Er trug sie ein Stück, bis er sie wieder absetze und sofort weiter zog. 

Dann veränderte sich die Geräuschkulisse schlagartig. Die Männerstimmen wurden plötzlich lauter und ein Raunen ertönte. Der Raum schien viel größer zu sein. Eine Wärme schlug ihr entgegen und es roch nach Rauch und harten Drinks. 

Bis du verstehst, wem du gehörst...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt