Kapitel 4

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Schon seit geraumer Zeit hockte ein Riesentier von Möwe auf einem Busch und beäugte uns kritisch, vielleicht auch ein wenig gierig. Sicher war sie scharf auf Speisereste. Aber ich hatte sie im Auge und machte diese typische Geste mit den Fingern: „I'm watching you." Die Möwe schien das irgendwie persönlich zu nehmen oder es lag an meiner gestörten Wahrnehmung durch den Alkoholgenuß. Jedenfalls drehte sie mir den Rücken zu und machte ein Geräusch a la „Pff".

Just als ich mit einer Fragestunde Marcus gegenüber beginnen wollte, flog das Tier auf und nahm Kurs auf mich um mir einen dicken Haufen Möwen kacke auf die Brust zu setzen, gefolgt von einem lauten Lachen, äh – zweier lauter Lachen.

„Bah!"Mehr brachte ich nicht heraus. Ich war zu schockiert, dass mich ein Möwenschiss so aus der Bahn warf, als Marcus aufsprang und kichernd den Klecks mit einer Serviette bearbeiten wollte.

Doch als er meinen giftigen Blick spürte, entschied er sich anders, hielt mir die Serviette hin und sagte: „Mach selbst." Braver Junge, ganz braver Junge.

Notdürftig betupfte ich die ekelige Substanz, nur um mich dann doch spontan für eine Dusche zu entscheiden.

Als ich etwa eine halbe Stunde später wieder auf die Terrasse trat, hatte Marcus es sich auf einer der Rollliegen bequem gemacht und döste, lustige Geräusche machend, vor sich hin. Ich ließ ihn schlafen.

Die Tage verliefen zäh wie Kaugummi. Ich gebe zu, all dieser Luxus um mich herum war schon ganz angenehm, aber irgendwie vermisste ich Spannung, Action, Adrenalinkicks und irgendwie auch Treppen. Ja, selbst die vermisste ich. Diese Routine: Aufstehen, Duschen, Anziehen, Frühstücken, Tageszeitung lesen, Rumtrödeln, Mittagessen, Nachmittagsschläfchen, Strandspaziergang, Abendessen, Smalltalk auf der Terrasse... war leider nur die ersten zwei, drei Tage schön. Danach kämpfte ich mit Langeweile, während Marcus immer etwas zu tun hatte.

Sofern ich Anstalten machte Marcus auf den Zahn zu fühlen, was er denn nun für eine Spezies war, wie seine Vergangenheit aussah, wo er schon überall gewesen war – wich er mir aus, wechselte das Thema oder zog sich sonst wie aus der Affäre. Auch das frustrierte mich.

Ich überlegte, was ich tun könnte. Beginnen einen Roman zu schreiben, ein Bild malen, am Strand liegen, eine Wattwanderung machen... Ja! Das war mal eine Idee. Als Kind hatte ich im Rahmen einer Kur zur Gewichtsreduktion mal eine Wattwanderung machen müssen. Diese ist mir nicht in guter Erinnerung geblieben, weil ich in einem Schlickfeld einen meiner regenbogenfarbenen Gummistiefel verloren hatte. Aber jetzt war ich ja groß und wusste, dass so etwas passieren konnte. Ich konnte mich also darauf vorbereiten. Außerdem gab es da eine Frage, die mich schon immer brennend interessiert hatte: Wie sehen Wattwürmer in echt aus? Wir buchten online eine Führung bei einem Herrn Krüger für Donnerstag, 13.30 Uhr. Nach dem frühen Mittagessen verzichteten wir auf unser Schläfchen und standen gegen halb zwei am vereinbarten Treffpunkt am Strand.

Jan Krüger war nicht der Traum meiner schlaflosen Nächte. Ein windiger Kerl mit rotem Gesicht und rotblonden, kurz geschorenen Haaren. Er war barfuß, hatte die Hosenbeine seiner Jeans hochgekrempelt und trug die ausgelatschten Sandalen in der Hand. Auf seinem Rücken befand sich ein blauer Rucksack und obenherum trug er ein beigefarbenes T-Shirt mit Knopfleiste vorn. Er war noch recht jung. Mitte zwanzig vielleicht.

„Mahlzeit!", begrüßte er die Gruppe von 15 Leuten, die sich am Treffpunkt eingefunden hatte und lose durcheinander lief. Dabei waren zwei Familien, deren insgesamt sechs Kinder wohl zwischen 8 und 14 waren, ein junggebliebenes Seniorenpaar und eine einzelne Dame. Menschen wie du und ich.

Leise waren vereinzelte Stimmen zu hören, die zurück grüßten. Herr Krüger baute sich auf. Seine Stimme war kräftig und klar, als er zu uns sagte: „Meine Damen und Herren, liebe Kinder, bevor wir uns ins Watt aufmachen, möchte ich ihnen noch ein paar Verhaltensregeln erklären." Kollektives Augenrollen, aber was sein muss, muss sein, denn schließlich befanden wir uns im Naturpark Wattenmeer. Zusammenbleiben, keinen Müll wegwerfen, Vorsicht bei Prielen und Achtung vor scharfen Muschelschalen. Wenn wer verloren geht... ich blendete mich aus. Sicherlich waren diese allgemeinen Infos wichtig und sinnvoll. Aber für mich waren sie überflüssig, da ich einen gesunden Menschenverstand besaß. Dann endlich ging es los.

Die Eltern hatten Probleme ihre wild herumspringenden, kreischenden Kinder beisammen zu halten und maßregelten sie ständig. Marcus und ich amüsierten uns ein wenig. Dieses Problem hatten wir nicht. Wir lauschten dem munter daher plappernden Herrn Krüger.

Herzmuschel, Miesmuschel, Schwertmuschel, Priele, Strömungen, Springtide, Nebel,Gezeiten. Herr Krüger klärte uns wirklich gut auf. Dennoch wurde ich unzufrieden, während wir mit größtenteils nackten Füßen über das Watt schlichen. Wann kamen denn endlich meine Wattwürmer? Wir näherten uns wieder dem Festland, als ich wieder einen dieser verdächtigen Haufen erspähte und ihn zum Anlass nahm etwas Druck zumachen.

„Wattis denn mit dem Wattwurm?", fragte ich. „Ich wollte schon immer mal wissen, wie die in echt aussehen."

„Ah, ja, der Wattwurm." Jan Krüger ließ den Rucksack von der Schulter gleiten und zog einen Klappspaten heraus. Er stach etwas von dem Boden ab und hob ihn aus. Dann erblickten wir das eine Ende des Wurms. Allerdings nicht in der Erde auf der Schaufel, sondern noch im Boden.

„Der Wattwurm ist weitestgehend standorttreu. Er lebt in ca. 20 cm Bodentiefe in einer u-förmigen Röhre", erklärte Herr Krüger und stocherte vorsichtig in dem ausgehobenen Boden herum. „Man erkennt ihn an brauner bis schwarzer Färbung. Er ist ungefähr fingerdick, hat einen ausstülpbaren Rüssel und Kiemenbüschel. Sein Schwanzende ist erheblich schlanker als die vordere Hälfte." Vorsichtig griff er mit zwei Fingern nach dem kleinen Zipfel vom Wattwurm und zog daran.

Der Wurm wurde immer länger. Er hatte seine maximale Länge von ungefähr 40 cm schon längst überschritten. Ich hatte schon Befürchtungen,dass Herr Krüger den Wurm zerreißen würde und ging dazwischen.

„Stopp!" Ich hielt seinen Arm vom weiteren Ziehen ab. „Mit dem Wattwurm stimmt doch was nicht."

„Jetzt, wo sie es sagen. Es ist wirklich ein besonders langes Exemplar." Herr Krüger runzelte die Stirn. Mit äußerster Sorgfalt gruben wir den Wattwurm aus. Seine enorme Länge von 60 Zentimetern machte ihn nicht gerade attraktiver. „Dass ist eine Sensation!", bemerkte Herr Krüger aufgeregt. Alle zückten ihre Handys und fotografierten den sensationell langen, hässlichen, schwarzen Wattwurm.

Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, mussten wir uns etwas sputen um zum Festland zu kommen. Die zwanzig Minuten, die wir mit dem Wattwurm vertrödelt hatten, trieben uns an. Denn die Flut kannte kein Pardon.

The Doctoress - Watt?! (8)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt