5 - Johannes

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Donnerstag

Der Raum füllt sich immer mehr und ich bin froh, dass ich einen guten Platz etwa in der Mitte des Raumes gefunden habe, denn es wird langsam echt eng. Wie ich's mir schon gedacht habe, bleiben die beiden Plätze neben mir als einzige frei. Ich bin ja der Neue. Gerade als der Lehrer hereingekommen ist und das Licht schon das Ende der Pause angekündigt hat, kommen dieser Tim und seine Freundin herein. Ich zucke wieder zusammen und schlechte Erinnerungen durchströmen mich. Wie kann das sein? Wie kann sie ihr so ähnlich sehen? Ich versuche, den Blick von ihr abzuwenden, aber es gelingt nicht so ganz. An sich ist sie ja schon schön und so. So wie Marie. Dort hat das nur getäuscht. Aber genug schlechte Gedanken: ich möchte mir ja nicht selbst den gesamten Tag versauen.

Die beiden setzen sich ohne zu fragen auf die Plätze neben mir. Ok, das ist auch verständlich, denn das sind die letzten beiden freien Plätze im Raum.

"Ich sehe gerade: wir haben einen neuen Schüler unter uns. Herzlich Willkommen. Ich bin Herr Malniz. Philosophie und Religionslehrer hier an der Schule." - Der Typ ist mir sofort sympathisch. Er wirkt freundlich und offen und ich gehe davon aus, dass der Unterricht wirklich witzig wird. - "Willst du dich kurz vorstellen?" Hm. Das kenne ich doch, aber da er so nett scheint, sage ich: "Ähm ... ja ... Hallo. Ich bin Johannes und bin jetzt hier, weil mein Vater einen neuen Job in Frankfurt hat." Nicht originelles, aber es muss erst einmal reichen.

Kurz darauf beginnt auch der richtige Unterricht. Ich versuche, Herrn Malniz aufmerksam zuzuhören und nicht aus das Mädchen rechts neben mir zu achten. Als sie jedoch beginnt, über mich hinweg mit Tim zu reden, dann ich mich nicht mehr konzentrieren.

"Hey. Tim. Ich dachte, wir hätten abgemacht - da heute der 31. Oktober ist - verkleidet zu kommen." Merkwürdige, aber eigentlich sogar ganz nette Idee. Sie wären auf jeden Fall aufgefallen, denn an dieser Schule scheint es eigentlich ganz normal - in anderen Worten: langweilig - zuzugehen. "Warum hat Mona das denn heute Morgen noch abgeblasen?" "Keine Ahnung. Ehrlich, Lena." Das ist also ihr Name. Lena. Und nicht: Marie. Die beiden hätten aber wirklich als eineiige Zwillinge durchgehen können. Aber nach irgendwelchen Studien soll ja wirklich jeder Mensch ein Ebenbild auf der Welt haben. Ist halt bescheuert, dass es gerade bei Marie und Lena so ist, denn eigentlich wirkt Lena ziemlich toll und so, aber da es nicht zu ändern ist ... Leider hilft mir auch der Gedanke, dass die beiden eben nur gleich aussehen nicht und ich erschrecke immer wieder, wenn ich ihren Blick auf mir fühle. Sie kann halt einfach nichts dafür, aber ich habe jetzt schon eine große Abneigung gegen sie.

"Ich hatte irgendwie das Gefühl, ihr ging ihr heute insgesamt nicht so gut. Denkst du nicht auch?", tönt es von rechts. "Ich weiß nicht genau. Sie schien schon abwesend, aber eigentlich noch ganz ok." "Ok, dann ist hoffentlich wirklich alles ok!" Ich lehne mich zurück, um beide gleichzeitig anschauen zu können: "Könntet ihr beide bitte aufhören zu reden. Eigentlich ist das Thema nämlich schon spannend." Die beiden verstummen sofort und Lena schaut mich erstaunt an - wobei mir ihre blauen Augen besonders auffallen, die der einzige Unterschied zu Marie zu sein scheinen - , meint dann aber: "Klar. Tschuldigung."

Die restliche erste Stunde lang ist es dann ruhig neben mir und Herr Malniz erzählt uns einersteits etwas über Philosophie andererseits erzählt er immer wieder mal Anekdoten, von anderen Klassen oder auch aus seinem privaten Leben.

Als jedoch die zweite Stunde beginnt und wir beginnen sollen, ein Essai zu schreiben, müssen die beiden natürlich sofort wieder reden. Lena: "Nein. Aber das weiß ich ja schon." Anscheinend haben sie in der Pause angefangen über irgendetwas zu reden, denn ich verstehe nur Bahnhof. "Aber er meint es doch sicher nicht so und will dich nur beschützen." "Ja, aber: wo vor denn beschützen? Davor, dass ich mich mal am Nachmittag mit jemandem anderem als mit euch verabrede? Er macht sich einfach viel zu viele Gedanken." Worüber reden die denn? Kann mir das bitte mal jemand klar und deutlich sagen. Es ist nämlich schon blöd, zwischen zwei Personen zu sitzen, die in Geheimsprache miteinander reden! "Es geht meinen Bruder einen Dreck an, mit wem ich mich verabrede!" Ok, sie scheint wirklich angepisst zu sein und langsam kapiere ich auch, worüber sie sich aufregt: anscheinend vergrault ihr Bruder alle möglichen Verehrer, wobei ich nicht daran zweifle, dass sie welche hat. Aber ehrlich gesagt: als Bruder hätte ich auch versucht alle Jungs von meiner Schwester fernzuhalten. Beschützerinstinkt und so. Nun bin ich aber Einzelkind, deshalb tut das nichts zur Sache.

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