| 04. ARTIST

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Jenson ignorierte mich den gesamten Vormittag vollkommen, was mir nur recht war. Dieser eingebildete Snob sollte doch sehen, wohin er ohne mich kam.
Währenddessen unternahm ich bei Sergios McLaren einige Vermessungen, um das DRS seines Rennautos zu verbessern. Mir waren dabei einige kleinere Fehler am Hinterflügel aufgefallen, die für das DRS das entscheidende Teil waren.
Jenson hatte sich wieder unter sein Auto verzogen, wobei er hin und wieder schnelle Blicke zu meiner Arbeit warf.
Sergios Vorschlag, dass ich danach sein Auto vermessen konnte, lehnte er dann aber doch hastig ab.
Warum hasste er mich so sehr? Es konnte doch nicht allein daran liegen, dass ich ihn bei unserer ersten Begegnung nicht erkannt hatte. So groß konnte niemandes Ego sein.
"Also", wandte ich mich an Sergio. "Wir müssen etwas an deinem Hinterflügel verändern. So wie er jetzt ist, hält er dich auf wenn du das DRS aktivierst. Siehst du?" Ich legte einen Hebel um, und die Klappe am Flügel öffnete sich.
"Da ist dieses abstehende Teil, dass mir Sorgen bereitet. Es kann dich bei einer Geschwindigkeit von 300 Stundenkilometern locker um 20 bremsen."
"Welches Teil?", entgegnete Sergio verwirrt. Ich deutete auf die winzige Unebenheit auf der Heckklappe.
"Mein technischer Assistent hat aber nichts dergleichen bei gründlicher Durchsuchung gefunden."
"Es ist aber da. Und es ist ein Problem", erklärte ich geduldig.
Jenson schnaubte.
"Hast du was gesagt, Jenson?", fragte ich zuckersüß. Keine Antwort.
Die nächste Stunde waren Sergio und ich damit beschäftigt, mit Hilfe von einigen Technikern, den Fehler auszumerzen.
Nachdem die Unebenheit im Blech geglättet worden war, rieb sich Sergio die Hände.
"Wie wärs, wenn wie wir eine Vergleichsrunde mit jedem McLaren drehen? Natürlich mit dem gleichen Testfahrer." Martin Whitmarsh, der Teamchef, der zufällig hereingekommen war, um den Fortschritt zu begutachten, nickte zustimmend.
"Das ist eine sehr gute Idee. Ich lasse sofort nach Oliver rufen."
•••
Kurze Zeit später standen wir am Rand der kleinen Rennstrecke, die nur wenig vom McLaren Technology Center, kurz MTC, entfernt war.
Der Testfahrer, Oliver Turvey, machte sich gerade bereit in Jensons Auto zu steigen.
Mein Lieblingsfeind hatte sich hinter mich gestellt und raunte mir ins Ohr: "Es wird nur nicht funktionieren." Sein warmer Atem streifte meine Haut, und ein Adrenalinschub fuhr durch mich hindurch. Mit spöttischen Grinsen drehte ich mich um.
"Du willst lieber, dass dein eigener Rennstall keinen Fortschritt macht, anstatt das ich recht habe, stimmt's?"
"Wenn du es so ausdrückst..." Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, bevor er sich möglichst weit weg von mir aufstellte.
In diesen Moment startete Oliver seine Testrunde mit Jensons McLaren. Wir hörten ihn schon wieder zurückkehren, bevor man ihn um die Kurve biegen sah. An diesen Motorenlärm würde ich mich niemals in meinem Leben gewöhnen. Mit einem raschen Blick auf mein gequältes Gesicht, reichte Sergio mir wortlos ein fettes Paar Ohrenschützer. Ich formte ein "danke" mit den Lippen, denn hören konnte man ohnehin nichts.
Sobald der McLaren zum Stehen gekommen war, war er sofort umringt mit Technikern, die die Temperatur der Reifen maßen.
Sowohl Sergio und ich, als auch Jenson sahen gespannt zu dem Zeitmessgerät.
Eine Minute und sechsundvierzig Sekunden.
Okay, jetzt wurde es ernst.
Jensons McLaren wurde schnell von der Piste gerollt, und mit Sergios verbesserten Modell ersetzt.
Es musste funktionieren, es musste einfach!
Schon allein wegen dem überraschten Gesicht, das Jenson machen würde, wenn er den Zeitunterschied zwischen den beiden Autos sah.
Dann startete Oliver seine Testrunde mit Sergios Auto, und sobald er um die erste Kurve verschwunden war, trat ich nervös von einem Bein aufs andere.
Wie ich grinsend feststellte, wirkte auch Jenson nicht wie die Ruhe selbst. Er hatte einen konzentrierten Gesichtsausdruck, entweder versuchte er ihm Kopf zu überschlagen, wie lange der andere McLaren brauchte, oder er überlegte sich die Ausdrücke, die er mir ins Gesicht werfen konnte, falls Sergios Auto schneller war.
Dann, nach einer schieren Ewigkeit, verkündete herannahender Motorenlärm, zwar abgemildert durch meine Ohrenschützer, aber immer noch deutlich vernehmbar, Olivers Rückkehr.
Kaum war er über den Start gefahren, starrten alle Anwesenden sofort auf den Zeitmesser.
Dort stand, in neongrünen Leuchtbuchstaben, eine Zahl, von der ich nicht einmal in meinen größten Wunschdenken hatte träumen wollen.
Eine Minute und dreiundvierzig Sekunden!
Das war um ganze drei Sekunden schneller!
Ich fiel Sergio um den Hals und er lachte, ganz gleich, dass wir uns seit nur einem Vormittag kannten.
Jenson stand mit betretener Miene neben dem Zeitmesser. Ich glaube, er war der einzige, der sich an diesem Tag nicht gefreut hatte. Er wirkte einfach nur total angepisst.
"Alle zurück zum Center, wir kümmern uns sofort um Jensons McLaren und verbessern andere kleine Fehler", rief Martin über sein gesamtes euphorisches Team hinweg. "Außerdem genialer Job von Jenna Cumberbatch, unserer neuen Technikerin für Aerodynamik."
Mir stieg die Röte ins Gesicht, denn das gesamte Team begann, mir zu applaudieren. Das hieß, alle bis auf einen. Der war nämlich damit beschäftigt, ganz plötzlich seine Schuhe zu binden.
Es tat gut zu gewinnen. Sobald Jenson sich wieder aufgerichtet hatte, schenkte ich ihm das höhnischte Grinsen aller Zelten. Seine Reaktion war die erwartete.
Er formte zwei eindeutig sehr unfreundliche Worte mit seinem Mund in meine Richtung. Ich warf ihm einen kalten Blick zu, und begann ein Gespräch mit Sergio, der sich überschwänglich bei mir bedankte und sofort begann neue Pläne zur Verbesserung des DRS zu schmieden.
"Mach mal langsam, Sergio", lachte ich. "Erstmal müssen wir uns um Jensons Auto kümmern."
"Auch wieder wahr..." Sein spanischer Akzent klang beim Sprechen stärker durch, wenn er voller Emotionen war.
So wie jetzt gerade.
"Eine neue Zeit bricht an für McLaren", schwärmte er. "Endlich werden wir wieder Weltmeister."
Wenn da nicht jemand etwas größenwahnsinnig wurde.
•••
Kaum waren wir ins Center zurückgekommen, war es auch schon Mittagspause. Jenson schnappte sich seine Jacke, und lief an mir vorbei zur Tür hinaus, wobei er mich keines Blickes würdigte.
"Mach dir keine Sorgen", machte Sergio mir Mut. "Der kriegt sich wieder ein."
Ich schnaubte nur. Es war mir herzlich egal, ob Jenson mich hasste.
Sergio hatte seine Sachen ebenfalls schon gepackt und stand unschlüssig neben der Tür.
"Ich geh in die Cafeteria. Willst du mitkommen?" Ich schüttelte hastig den Kopf.
"Nein, danke. Mir ist nicht nach essen."
"Okay... Dann bis nachher."
Er grinste mir flüchtig zu, bevor er die große Sicherheitstür hinter sich schloss. Ich hörte wie sie einrastete. Der Sicherheitschef hatte mir eingebläut unter keinem Umstand jemals diese Tür geöffnet zu lassen. Schließlich wurden dort alle Geheimnisse von McLaren gehortet. Obwohl ich erst seit einem Vormittag hier arbeitete, hatte ich schon einen Code für die Eingangstür, und die der Garage bekommen. Mein Iris- und Fingerabdruck würden morgen in das System aufgenommen werden.
Dann war ich ein vollwertiges Mitglied bei der McLaren Group.
Wer hätte das gedacht?
Da ich nicht genau wusste, was ich hier mutterseelenallein in dieser enormen Garage unternehmen sollte, begann ich, die lose herumliegenden Zettel aufzusammeln und sie ordentlich auf einem Haufen zu stapeln. Dabei fiel mir auf, dass weder Jenson noch Sergio große Fans der Ordnung waren. Vor allem um Jensons McLaren lagen die Papiere verstreut.
Technische Daten, irgendwelche Quittungen und einfach nur vollgekritzeltes Papier waren dabei am häufigsten. Widerwillen musste ich grinsen, als ich eines der Schmierblätter vom Boden aufhob. Jenson hatte entweder Landschaften oder einzelne Personen gemalt. Und das überraschend gut. Ein Bild zeigte Sergio mit Teufelshörnern, und Jenson hatte ihm ein diabolisches Grinsen verpasst. Davon war aber leider nicht mehr so viel zu erkennen, da irgendjemand, vermutlich Sergio, mit schwarzen Edding darübergemalt hatte.
Kopfschüttelnd legte ich das Blatt zwischen den Rest. Wann hatte Jenson bloß Zeit für sowas? Und wie kamen die Blätter an die unmöglichsten Orte? Unter einem der Hinterreifen seines McLarens waren noch ein paar Zettel eingeklemmt. Mit gewisser Vorsicht zog ich sie hervor, und achtete dabei darauf, dass sie nicht in der Mitte durchrissen. Wieder ein technisches Diagramm und ein Portrait, einer jungen Frau in langem Kleid.
Es dauerte einige Sekunden, bis ich realisierte, wer diese detailverliebt gemalte Person war.
Das war verdammt noch mal ich!
Er hatte mich in dem Kleid gemalt, dass ich an unserer ersten Begegnung am roten Teppich getragen hatte. Mein Gesicht war perfekt getroffen, sogar die kleine Narbe am Kinn hatte er eingefangen und zu Papier gebracht.
Ich atmete einmal tief ein und aus, um nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen.
Jenson Button, der Typ, der mich zu Tode verabscheute, hatte mich gemalt. Und das sogar ohne irgendwelche Zusätze wie Teufelshörner oder Ziegenfüße.
Ich war einfach ich auf diesem Bild.
Entweder hatte Jenson ein fotografisches Gedächtnis, oder er hatte mich an diesem Abend länger beobachtet, als mir klar gewesen war.
Meine Hände zitterten, als ich die Zeichnung zwischen die anderen Blätter im Stapel stopfte.
Dann lehnte ich mich gegen eine Werkzeugkiste.
Das war jetzt wirklich ziemlich angsteinflößend. Warum zur Hölle hatte Jenson mich gemalt?
Ich dachte bisher immer, dass ich ihm bis zu unseren zweiten Treffen gar nicht aufgefallen war. Er hatte mich an der Premiere doch nicht einmal eines zweiten Blickes gewürdigt.
Wie der Schein nur trügen konnte...
Oh Gott, ich brauchte dringend etwas frische Luft.
Ohne lang nachzudenken, durchquerte ich die Garage und tippte meinen Zugangscode in das Zahlenfeld neben der Schiebetür ein. Die Tür glitt mit einem leichten Klacken zur Seite und ein Schwall kühler englischer Herbstluft brachte meine Gehirnzellen wieder zum Arbeiten.
Ich schloss die Tür wieder hinter mir ab, und vergrub meine Hände tief in meinen Manteltaschen. Ein kleiner Spaziergang am See würde mir gewiss ein wenig Beruhigung verschaffen.
Tatsächlich, kaum war ich einige Schritte auf dem angelegten Weg neben dem klaren hellblauen Wasser gelaufen, sah ich ein, dass ich überreagiert hatte.
Jenson hatte mich gemalt, na und? Vielleicht hatte ihm mein Kleid gefallen und er wollte Jessica das gleiche zum Geburtstag schenken.
Oder er hatte schon mal ein Phantombild angefertigt, für den Fall, dass ich mich als Kriminelle entpuppen würde.
Na ja, die zweite Möglichkeit erschien mir dann doch etwas unlogisch. Trotzdem war von der kurzen Phase der Verwirrung und leichter Panik nichts mehr übrig. Also entschied ich, meinen Bruder anzurufen, und ihm von McLaren und meinem Job zu erzählen. Er rief mich auch jedes mal an, wenn er ein neues Filmprojekt an Land gezogen hatte.
Ich wählte seine Nummer und wartete darauf, dass er abhob, während ich das sich im Wind wiegende Schilf beobachtete. Endlich, ich wollte schon wieder auflegen, hob er ab.
"Jen?" Seine tiefe Stimme klang hohl aus meinem Handylautsprecher.
"Hey Ben! Ich hoffe ich störe nicht!" Im Hintergrund hörte ich typischen Flughafenlärm. Durchsagen, Fahrstuhlmusik und schreiende Kinder.
"Nein, keineswegs. Ich sitze sowieso im Wartebereich."
Im VIP-Wartebereich wohl eher. Ben würde keine Minute in einer normalen Lounge überleben. Davor hatten ihn die Fans zu Tode erdrückt.
"Du glaubst nicht, was heute passiert ist!"
"War heute nicht der Tag, an dem sich die Firma, die sich für deinen Job beworben hat, vorstellt?"
"Genau!" Ich musste lächeln. Eben das liebte ich an meinem Bruder. Trotz seinem Promistatus benahm er sich wie jeder andere Bruder auch. Er vergas nie die Dinge, die mir wichtig waren und wir unternahmen oft irgendetwas zusammen.
"Und? Ist es eine berühmte Firma?"
"Ziemlich berühmt."
"Sag!" Ich konnte die Aufregung in seiner Stimme beinahe spüren.
"McLaren!", rief ich glockenhell. "Ich arbeite in der Aerodynamik!!!"
"Oh mein Gott, Jenna, das sind wunderbare Neuigkeiten! Ich kann kaum erwarten, das mit dir zu feiern."
"Du kommst doch heute wieder oder?" Ich vermisste Ben schon wieder schrecklich, obwohl es erst vier Tage her war, dass wir uns zum letzten Mal gesehen hatten.
"Ja, Promotion ist zu Ende. Ich denke ich komme gegen einundzwanzig Uhr in Gatwick an."
"Dann sehen wir uns morgen, denke ich."
"Bis dann, Schwesterherz."
"See ya, Bro!" Ich betonte den letzten Satz in amerikanischen Akzent und er lachte. Dann hatte er aufgelegt.
Ich blieb noch eine Weile auf einem Holzsteg neben dem See stehen. In meinem Rücken stand das Center.
Ich seufzte auf. Wie konnte ein Ort nur so unglaublich idyllisch sein...
Es war schon nach halb zwei, als ich mich auf den Rückweg zur Garage machte, in dem jede Menge Arbeit auf mich wartete. Und jemand, der mich zu hassen schien, während ich mir meiner Gefühle nicht mehr so sicher war.
•••
Die meisten Techniker waren schon da, als ich atemlos durch die Tür gelaufen kam. Echt peinlich, schon am ersten Arbeitstag zu spät aus der Mittagspause zu kommen. Sergio sah von seinem Bremsdiagramm auf, als ich die Schiebetür hinter mir schloss.
"Entschuldigung, das ich zu spät bin. Hab wohl die Zeit übersehen."
"Kein Problem. Jenson ist sowieso noch nicht da, und ohne ihn können wir nicht anfangen." Er sagte dies in neutralen Ton, und ich könnte nicht heraushören, ob ihn Jensons Verspätung nervte, oder nicht.
Während wir warteten, wanderte mein Blick immer wieder zu dem Papierstapel. Irgendwo dort drinnen befand sich das Bild, das Jenson von mir gemalt hatte. Hastig wandte ich mich ab, als könnten mir die anderen ansehen, was ich dachte, während ich diesen Papierstapel anstarrte.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wurde die Sicherheitstür von außen geöffnet.
Jenson trat durch die Tür, aber er war nicht allein. Jessica folgte ihm mit gelangweilten Gesicht. Ich merkte, dass sie mich musterte, während ich so tat, als nähme Jensons Hinterflügel meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch.
Jenson entschuldigte sich nicht, dass er zu spät war, er tat so als sei sein Zuspätkommen selbstverständlich.
Die anderen nahmen das einfach so hin, anscheinend kam Jenson öfter nicht gerade pünktlich.
"Hände weg von meinem Auto!", knurrte er mich an. Sergio schnalzte tadelnd mit der Zunge.
"Jense, benimm dich! Wir sind hier nicht im Kindergarten!"
Jessica warf Sergio einen angewiderten Blick zu. "Wie redest du eigentlich mit meinem Freund?" Sie hatte die Stimme anklagend erhoben.
Das war mir zu viel. Ich gab meinen Posten bei Jensons Auto auf und bezog Stellung vor Sergio.
"Lass ihn in Ruhe!" Dabei funkelte ich Jessica wütend an. Diese hob nur die Augenbrauen. Zum ersten Mal seit ich Jenson kannte, sah er mich mit etwas anderen als Zorn an, in seinem Blick lag vielmehr Hochachtung, und ein wenig Belustigung.
"Jenson, ich gehe! Das ist wirklich der reinste Kindergarten." Jessica rümpfte ihre perfekte Stupsnase.
"Gut", erwiderte Sergio eiskalt. "Den Weg findest du wohl alleine. Jenson wird hier gebraucht!"
Das war nicht ganz die Reaktion, die Jessica sich erhofft hatte, anscheinend tanzten sonst immer alle nach ihrer Pfeife. Sie warf ihr Haar in den Nacken, und stolzierte zur Tür hinaus. Einen Augenblick war ich mir fast hundertprozentig sicher, dass Jenson in sich hineingrinste, denn er hatte den Kopf abgewandt.
Während der Arbeit an den McLaren erwähnte keiner von uns den Vorfall mit Jessica. Wie immer ignorierte mich Jenson vollkommen, doch es war anders als sonst. Er warf mir nicht mehr diese mörderischen Blicke zu, sondern beschränkte sich auf ungehaltene.
Auch zwischen Sergio und mir hatte sich in diesen wenigen Minuten einiges verändert. Ich hatte für ihn Partei ergriffen, gleich am ersten Tag, und vor allen. Außerdem hatte ich sein Auto erheblich verbessert, dieser Aspekt war auch nicht zu vernachlässigen.
Nach ewig langer Kleinarbeit hatten wir Jensons McL ebenfalls auf den neusten Stand gebracht, und kaum hatte sich sein Auto vom Schweißen abgekühlt, saß Jenson schon mitten im Cockpit und kritzelte mit einem Bleistift auf einem Block herum.
"Was macht er?", wisperte ich Sergio zu, als wir uns außer Hörweite von Jenson befanden.
"Malen. Jede freie Sekunde." Sergio lächelte und es kam mir so vor, als betrachtete er Jenson wie einen kleinen Bruder, auch wenn der Brite um einiges älter war. "Er hat mir mal erzählt, in seinem Cockpit findet er die beste Inspiration."
Ich beobachtete Jenson eine Weile, wie er selbstvergessen auf dem Papier herumkritzelte.
Seine Pupillen waren geweitet, doch seine Hand führte den Bleistift ruhig über das Blatt.
"Jenna?"
"Hmm, was?" Ich fuhr hoch, als Sergio mich aus meinen Beobachtungen riss.
"Es wird spät. Du solltest dich beeilen, wenn du den halbwegs normalen Zug nehmen willst."
Spät? Ich sah auf die Uhr meines Handydisplay. Tatsächlich, schon nach acht. Mir war gar nicht aufgefallen, dass wir so lange an den Autos gearbeitet hatten. Der Nachmittag war wie im Flug vergangen. Ich nahm meine Tasche von einer der Werkzeugkisten, die dort stand, da ich sie außer Reichweite der schweren Geräte hatte bringen wollen.
Jenson merkte gar nicht, dass ich die Garage verließ, und ich würde ihm auch bestimmt keine gute Nacht wünschen und ihn somit auf mein Gehen aufmerksam machen.
McLaren stellte eigene Shuttlebusse zum Bahnhof für diejenigen Mitarbeiter zur Verfügung, die in London wohnten und von dort jeden Morgen nach Woking kamen.
Mit genau so einem fuhr ich zum Bahnhof, der ein wenig außerhalb des Stadtzentrum von Woking lag.
Zu meiner großen Überraschung, war der Zug nach London ziemlich überfüllt. Wer zur Hölle außer die McLaren Mitglieder fuhren so spät noch von Woking nach London? Trotz des Gerangels um Sitzplätze, bekam ich ein eigenes Abteil für mich, da ich eine McLaren-Card vorweisen konnte. War ja echt praktisch, bei so einer reichen Firma zu arbeiten.
Doch der Frieden im leeren Abteil währte nicht lang, da der Zug noch nicht einmal losgefahren war, und trotzdem noch haufenweise Leute durch die Türen strömten.
Zwei weitere McLaren Mitarbeiter kamen in mein Abteil. Ich nickte ihnen zu, bevor ich wieder aus dem Fenster starrte.
Es war gerade erst halb neun, und man konnte schon gar nichts mehr draußen vor dem Fenster erkennen.
Winter eben.
Der Zug hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, auf die Minute genau, übrigens (es lebe der britische Schienenverkehr), als sich die automatische Schiebetür erneut öffnete. In unserem Abteil war nur noch ein Platz frei, und zwar der direkt gegenüber von mir, auf den ich eigentlich meine Füße hatte legen wollen.
Ich hoffte, dass es dem zusätzlichen Fahrgast zu voll erschien, und er sich gefälligst ein anderes Abteil suchte.
Leider war der dieser Fahrgast kein anderer als mein Nemesis höchstpersönlich.
"Fuck." Jenson hatte mich dem Anschein nach auch gerade erst bemerkt. Er verzog das Gesicht, und einen Moment sah es so aus, als wollte er das Abteil wieder verlassen. Dann aber schien er sich es anders zu überlegen und warf sich auf den freien Platz mir gegenüber.
Wieso fuhr er eigentlich mit dem Zug? Hatte er kein eigenes Auto?
Die beiden anderen McLaren Mitarbeiter schienen sich offenbar zu kennen, denn sie begannen ein Gespräch über irgendetwas das ich nicht verstand und auch nicht verstehen wollte. So wurde die unangenehme Stille im Abteil mit dem durchgehenden Gemurmel eines Gesprächs gefüllt, was mir sehr recht war.
Jenson schwieg mal wieder, und ich war sicher nicht diejenige, die eine Unterhaltung begann.
Also zog ich mir die Kapuze meines Sweatshirts übers Gesicht und lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe. Das sanfte Ruckeln des Zugs und der Schlafmagel der vorherigen Nacht, sorgten relativ schnell dafür, dass ich eingeschlafen war.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, als ich durch einen sanften, aber bestimmten Schubs gegen den Arm ruckartig aus dem Schlaf gerissen wurde. Erschrocken öffnete ich die Augen und blickte direkt in Jensons gut aussehendes Gesicht, der mich von seinem Platz aus musterte.
"Du musst aussteigen", war das einzige, dass er sagte. Und er hatte Recht, denn die vertrauten Umrisse der Hyde Park Corner waren vom Fenster aus zu sehen. Ohne ein Wort des Dankes oder des Abschieds, packte ich meine Tasche am Riemen und verließ fluchtartig das Abteil. Ich kam gerade noch rechtzeitig zur Tür, bevor der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Als ich dann am Bahnhofsgleis stand, und dem Zug hinterherblickte, wäre ich ihm am liebsten hinterhergerannt und wieder eingestiegen, bloß um Jenson zu fragen, warum er mich geweckt hatte.
Das passte kein bisschen in sein sonstiges Verhalten. Der andere Jenson hätte mit Genugtuung mitverfolgt, wie ich meine Haltestelle verpasst hätte und sich danach darüber lustig gemacht.
Ich wurde echt nicht schlau aus Jenson Alexander Lyons Button.

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