| 08. SHOPPING

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Irgendwas stach mir in den Rücken. Irgendetwas Hartes. Ruckartig öffnete ich die Augen und fuhr hoch. Das war gar nicht mein Bett, worauf ich meine Nacht verbracht hatte. Na toll, ich war schon wieder auf dem Sofa eingeschlafen. Hallo Rückenschmerzen! Die offene Pizzaschachtel und die DVDs am Boden erinnerten an meinen sozialen Rückzug aus der Gesellschaft gestern Abend. Einen Moment hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht ausgegangen war, und mich amüsiert hatte, doch dann schob ich meine finsteren Gedanken beiseite. Na und, dann war ich eben eine Couchpotato. Freak und stolz.
Trotzdem entschied ich, mich mal wieder in die Menge zu werfen. Und was war da geeigneter, als ein schöner Shoppingtag in London, einer der Modestädte Europas, zusammen mit der High Society von England? Frisch und munter hüpfte ich unter die Dusche und machte mich bereit für einen Tag im Herzen Londons.
Es war nicht gerade warm, also zog ich mir einen Armanicoat über meine eher durchschnittliche Kleiderwahl.
Frau musste sich ja nicht jeden Tag aufmotzen, bloß um alltägliche Dinge wie Shoppen zu verrichten.
Ich nahm die Tube in die Oxfordstreet, in der ich ausstieg. Als erstes würde ich mir einen Kaffee in einem Starbucks oder Coffee Bean gönnen, bevor ich mit der nervenaufreibenden Shoppingtour begann. Von meinem Fensterplatz in der amerikanischen Cafékette hatte ich einen guten Blick auf die vorbeirasenden Autos und die Fußgänger, die bepackt mit Einkaufstüten vor sich hin hasteten. Ob sich einer von ihnen gerade wohl auch so einsam fühlte wie ich? Bestimmt, denn ich hatte einmal gelesen, dass mindestens ein Viertel der britischen Bevölkerung unter irgendeiner Form von Liebeskummer litt. Schön, sich da dazuzählen zu können.
Schließlich hatte ich genug Energie getankt, und ich stand auf, bevor ich das Café verließ. Als erstes klapperte ich die Kleidungsläden ab. Bei Burberry ersteigerte ich einen schicken Schal, der laut der Verkäuferin wunderbar zu meinen Augen passte. Er kostete mich auch nicht gerade wenig. Armani, Missoni, Gucci und Prada wurden ebenfalls noch besucht, und endlich hatte ich den anstrengenden Teil des Shoppings hinter mir.
Jetzt kamen die Bücherläden und Einrichtungsgeschäfter an die Reihe.
Ich hatte Möbelhäuser schon immer geliebt, seit ich ein kleines Kind gewesen war. Ich hatte immer geträumt, einmal dort eingesperrt zu sein in der Nacht und dann jedes Bett ausprobieren zu können. Noch immer ließ mich dieser Gedanke nicht los, und ich musste mich zusammenreißen mich nicht auf jedes Sofa und Bett zu werfen, das das Pech hatte in meiner Nähe zu stehen.
Ich stand gerade vor einem Regal mit äußerst schmucken Blumenvasen, als eine mir vertraute Stimme mich aus meinen Überlegungen welche Vase am besten auf mein Bücherregal passen würde, riss.
"Jenna Elizabeth Cumberbatch. So eine Überraschung dich hier anzutreffen." Nur einer außerhalb meiner Familie kannte meinen zweiten Namen.
"Jenson Alexander Lyons Button, die Überraschung ist ganz auf meiner Seite." Ich drehte mich um, und blickte direkt in seine verwirrenden braunen Augen. Was machte jemand wie er in einem Möbelladen? Als ob Jenson meine gedachte Frage gehört hätte, antwortete er. "Jess hat mich hierher geschickt. Sie sagt wir brauchen neue Accessoires für das Schlafzimmer." Wenig begeistert sah er sich um. "Ich weiß weder so richtig was Accessoires sind, noch was in unser Schlafzimmer passt!"
Nein, das einzige wobei er sich auskannte war Bremsdiagramme, Frontflügel und Herzenbrechen.
Trotz meinem Unmut gegen ihn, musste ich grinsen. "Das tut mir leid für dich. Aber ich fürchte da musst du durch."
"Toll", murmelte Jenson. "Ich hab keine Ahnung nach was ich ungefähr Ausschau halten soll!"
"Wieso übernimmt Jessica das nicht? Sie wäre doch sicher besser für den Job geeignet als du, oder?"
"Sie kann nicht, da sie zu einem Shooting nach Singapur musste", versetzte Jenson bedauernd.

"Ich glaube du brauchst Hilfe."
"Yep, das fürchte ich auch fast." In Jensons Augen funkelte es. "Du könntest mir doch helfen. Ich bin sicher, du hast ein gutes Händchen dafür."
Wie kam er denn darauf?
"Ich?" Jenson nickte, und sein Lächeln wirkte auf einmal sehr gequält. "Ja, du, Jenna." Und dann strich er mir eine lose Haarsträhne hinters Ohr. Einfach so. Seine Hand verharrte einen Moment über meiner Wange, bevor er sie zurückzog.
Wenn er mich so bat...
"Na gut. Ich helfe dir, ausnahmsweise." Jenson sah mich dankbar an. "Danke Jen. Ich schulde dir was." Ich konnte nur seine Lippen anstarren, die so nah und doch so weit weg von meinen waren. Auch Jenson fixierte mich mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck. Schließlich brach ich die angespannte Stille.
"Also, Jense, welche Farbe überwiegt in eurem Schlafzimmer?"
***
Wir verbrachten den restlichen Vormittag und den halben Nachmittag im Möbelladen. Dafür hatten wir aber auch ganz schön gute Arbeit geleistet. Jessica würde begeistert sein. Wir hatten einen Haufen Duftkerzen, Seidentücher, Bastmatten und Glasvasen gekauft, die wir mit Hilfe der Möbelpacker zu Jensons Maserati schleppten. Endlich schaffte Jenson es, die Tür zum überquellenden Kofferraum zu schließen und lehnte sich erschöpft gegen sein Auto.
"Also ich finde, wir haben uns eine Pause redlich verdient!"
"Aber so was von", stimmte ich ihm erschöpft zu. Ich hatte mich neben ihn ans Auto gestellt. Jenson sah mich schnell von der Seite an.
"Also ich kenn da so ein kleines chinesisches Restaurant, ganz in der Nähe vom Piccadilly. Wir könnten dort ein verspätetes Mittagessen einnehmen." Wieder ein schneller Seitenblick. Ob er wusste, wie süß er war, wenn er das tat?
"Warum nicht?" Ich lächelte. Zeit mit ihm zu verbringen, war etwas das ganz oben auf meiner Wohlfühlliste stand.
"Okay, dann nichts wie los." Wie zufällig streifte seine Hand die meine, als er sich vom Auto weglehnte. Ein Kribbeln schoss durch meinen gesamten Arm.
Jenson fädelte sich mühelos in den Londoner Nachmittagsverkehr ein und so kamen wir ziemlich schnell zum gewünschten Ziel.
***
Es war ein kleines chinesisches Restaurant, wie eines das in Filmen vorkam, wenn der Held mit der Heldin des Films nach dem Kampf etwas essen ging. Ja, Jenson und ich, wir hatten gekämpft, gegen alle möglichen Einrichtungsgegenstände und gegen aufdringliche Verkäufer, die es sich zum Lebensziel auserkoren hatten, uns den gesamten Laden aufzudrängen.
"Hoffen wir bloß, dass sie keine Buddha-Statuen überall herumstehen haben", murmelte Jenson mir zu, als wir den Laden betraten. Ich blinzelte ihn verwirrt an. "Hä? Ich dachte du bist hier oft?"
"Bin ich doch auch. Aber das letzte Mal war vor ungefähr zehn Jahren."
Echt jetzt?
Die Bedienung führte uns zu einem Nischenplatz am Fenster, auf deren Fensterbank und Tischmitte überall kleine grüne Jadebuddahs standen. Jenson grinste schief und warf den Figürchen in seiner Nähe sehr böse Blicke zu. So in Richtung: Kommt mir nicht zu nahe, ihr kleinen Teufelchen.
Da die Chinesen dafür berühmt waren, immer und überall Erdnüsse hineinzumischen, war Chinese-Food nicht umbedingt etwas, womit man mich locken konnte. Und dementsprechend wenig Ahnung hatte ich auch von seinen Spezialitäten.
"Jense", zischte ich ihm über den Rand meiner Speisekarte zu. "Was soll ich hier essen?" Mein Gegenüber warf mir einen schrägen Blick zu, und taxierte mich nachdenklich.
"Noch nie Chinesisch gegessen, was?"
"Eher selten. In meiner Familie wird eigentlich nur britisch gekocht, und ich ernähre mich praktisch nur von Pizza." Jenson warf mir einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu. "Einseitige Ernährung ist ungesund."
"Danke, du Ernährungswissenschaftler. Sag mir einfach, was ich essen soll." Es machte Spaß, sich mit ihm zu kabbeln.
Es hatte so etwas Befreiendes, Unernstes.
"Und bitte nichts mit Fisch. Ich hasse Fisch." Ich schüttelte mich.
"Wirklich?" Ich erntete einen überraschten Blick seinerseits. "Ich auch. Aber Jessica interessiert das nicht. Sie macht trotzdem immer diesen ekelhaften rohen Fisch aus Japan, wie hieß der doch gleich?"
Ich grinste. "Du meinst Sushi?"
"Glaub schon."
"Ja, Sushi ist schlimm. Dieser eiskalte rohe Fisch fühlt sich an, als ob man ihn frisch aus dem eiskalten Meerwasser geangelt hat." Auf Jensons Lippen erschien ein Lächeln, als er meinen Vergleich hörte.
"Es ist immer wieder erstaunlich, an was du denkst." War das jetzt ein Beleidigung? Aber die Art wie er es sagte, konnte man es gar nicht als eine solche auffassen. Er sprach es mit einer solchen Faszination aus, als beobachtete ein seltenes Naturphänomen.
Jenna, die Naturkatastrophe, wohl eher. Es war mir nämlich gelungen, im Möbelhaus einen riesigen Kleiderständer umzuwerfen, der mit vollem Schwung auf den Boden zugerast war. Im letzten Moment hatte Jenson das Chaos noch abwenden können, indem er mit erstaunlicher Behändigkeit den fallenden Ständer aufgehalten hatte. Hatte anscheinend echt viele Vorteile, wenn man ein Formel 1 Pilot mit beträchtlichen Reflexen war.
Jenson begann also, mich essenstechnisch zu beraten, und schlug mir einige fischfreie Gerichte vor.
"Was hältst du von Frühlingsrollen? Damit kann man gar nichts falsch machen! Sie sind fisch- und fleischlos, enthalten nur Gemüse und schmecken eigentlich jedem."
"Okay. Dann nehme ich die."
Jenson entschied sich für dasselbe, und winkte dann der Bedienung, die fast sofort angewuselt kam.
"Ah, Jenson, wie schön, dass du uns auch mal wieder einen Besuch abstattest! Ist ja lange her, seit du das letzte Mal bei uns warst", rief sie überglücklich aus, sobald sie meinen Begleiter ins Gesicht gesehen hatte. Sie war eine kleine, leicht untersetzte Frau, im mittlerem Alter.
"Hallo Sue", erwiderte Jenson lächelnd, und stand ganz gentlemanlike auf um die ältere Dame zu umarmen. "Ja, ich hatte viel zu tun."
"Bist doch seitdem einmal Weltmeister geworden, nicht wahr? Ich war so stolz auf dich, dass ich beinahe die ganze Bar zusammengebrüllt hätte, als du deine letzten paar Meter gefahren bist."
Jenson wurde rot. "Ja, das stimmt. Schön, dass du das Rennen geschaut hast." Ich beobachtete ihn, während er sich mit der chinesischen Frau über alles mögliche austauschte. Er war so bescheiden, als vergesse er selbst manchmal, was für ein guter Fahrer er sei. Und ich liebte die Art, wie er mich hin und wieder von der Seite aus ansah. So wie jetzt gerade.
"Sue, das ist übrigens Jenna. Sie-" Doch die kleine Chinesin unterbrach ihn.
"Jense, endlich hast du eine Freundin gefunden! Wurde aber auch Zeit! Ich hole euch mal etwas zum Anstoßen!" Schon war sie um die Ecke verschwunden. Jensons matte Antwort, von wegen ich sei nicht seine Freundin, hörte sie nicht mehr. Etwas verlegen ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen.
"Tut mir leid wegen Sue. Sie sieht eben nur dass was sie will."
Ich lachte. "Ist schon in Ordnung! Wir alle haben diese Freunde, die einen oft unabsichtlich in Verlegenheit bringen." Ich sah mich um. "Du warst hier also noch nie mit Jessica?"
"Gott bewahre, nein! Sie ist Japanerin und so kein großer Fan von chinesischem Essen."
Jessica war anscheinend kein leichter Mensch. Wie hielt Jenson das nur aus?
Einen Moment später kehrte Sue mit zwei Tassen grünen Tees zurück. Sie nahm unsere Bestellungen entgegen, und zwinkerte uns dann zu, mit dem Kommentar, dass wir wohl lieber allein sein wollten. Dann zog sich uns tatsächlich einen Wandschirm vor die Nische. Während Jenson so aussah, als wollte er im Boden versinken, musste ich auf einmal lachen. Nun saß ich hier, alleine, abgeschnitten von der Welt, mit dem Typen, in den ich verliebt war. Mein Lachen ließ ihn von der Tischdecke hochsehen.
"Jenna..." Es war mehr ein Hauch, als ein wirklich gesprochenes Wort. Ich sah hoch, direkt in seine dunklen Augen. "Du bist so ganz anders als Jessica."
"Inwiefern?", erwiderte ich heiser. Meinte er damit, dass ich kein perfektes Unterwäschemodel war?
"So unkompliziert. Selbstlos. Und rücksichtsvoll."
Ich wurde ganz sicher knallrot. Hastig nahm ich einen Schluck meines viel zu heißen grünen Tee, und verbrannte mir dabei die Zunge.
Jenson sah mich immer noch an, und ein leichtes Lächeln umspielte seine vollen Lippen.
"Danke. Du bist auch nicht schlecht", brachte ich hervor. Peinlich, Jenna, einfach nur peinlich.
Zum Glück wechselte Jenson relativ schnell das Thema und erwähnte das eben geschehene mit keiner Silbe. Sobald das Essen gekommen war, hatten wir sowieso etwas anderes zu tun, als im unerfüllten Schweigen zu versinken.
Jensons Rat war übrigens Gold wert gewesen; die Frühlingsrollen waren etwas vom besten, was ich in letzter Zeit probiert hatte.
Kaum hatten wir das Essen beendet bestellte Jenson auch schon die Rechnung. Anscheinend war er meiner Gesellschaft überdrüssig geworden. Schmoll.
"Ich lade dich ein!" Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. "Das bin ich dir schuldig."
Sue brachte die Rechnung auf einem Silbertablett, auf dem auch noch zwei Glückskekse beilagen. Jenson warf mir grinsend eines zu.
"Mal sehen, was die guten alten Glückskekse zu sagen haben."
Ich riss die knisternde Plastikfolie von dem goldbraunen Gebäck und brach dieses dann in der Mitte durch. Der schmale Papierstreifen segelte auf den Tisch vor mir. Auch Jenson hatte seines noch nicht angerührt.
Ich grinste ihm zu, und schob mir die eine Hälfte des Keks in den Mund, während ich die Inschrift auf dem Papier las.
Dein perfekter Partner ist näher als du denkst. Vielleicht sitzt er direkt vor dir.
Ich schluckte. Das war jetzt irgendwie gruselig.
Jenson riss die Augen auf, als er seinen Zettel las. Was wohl bei ihm stand? Das Unterwäschemodel ist eine wesentlich bessere Wahl als die Psychotante gegenüber von dir, oder anderes, was mindestens genauso authentisch war.
"Lass mal sehen", entgegnete ich schließlich ungeduldig und riss ihm den Zettel aus der Hand. Dort stand, schwarz auf weiß, genau dasselbe, was auf meinem Zettel gestanden hatte.
"Das gibts nicht", murmelte ich fassungslos, und überreichte Jenson beide Zettel. Dieser warf einen schnellen Blick darauf, bevor er müde grinste.
"Entweder wir sind wie für einander geschaffen, oder die Zufallsmaschine in China hat ein kleines Defekt."
Er erhob sich und ich tat es ihm gleich. Ich hatte das Gefühl er wollte nicht gerne über das mit dem Füreinandergeschaffensein reden. Konnte ich verstehen, denn es erfüllte selbst mich mit leichtem Unbehagen, obwohl ich ziemlich charismatisch und rational gestrickt war.
Vor der Tür blieb Jenson stehen, und grinste mich an. "Hast du noch Zeit?"
"Ähm, klar..."
"Wie wärs mit Kino?"
Innerlich begann ich zu jubeln. Er wollte mich also doch noch nicht loswerden. Und ich liebte Kino.
"Tolle Idee! Kino klingt super!"
***
Dank meiner überdurchschnittlichen Filmsucht kannte ich fast jedes Kino in London ganz genau. Also war mir innerhalb von wenigen Sekunden klar, auf welches Kino Jenson zusteuerte. Das Odeon in Covert Garden war weniger als einen Kilometer vom Piccadilly entfernt, weshalb unsere Fahrt gerade einmal drei Minuten andauerte. Jenson parkte seinen Maserati vor dem Kino, mit einer Anmut die man beinahe Eleganz nennen konnte, in einer engen Parklücke.
"Wow", sagte ich beeindruckt, als das Auto zum Stehen gekommen war. "Ich könnte das nie." Ich kicherte verlegen. "Naja genauer gesagt kann ich gar nicht Autofahren."
Jenson, schon halb aus der Tür draußen, ließ sich zurück auf seinen Sitz fallen und sah mich ungläubig an. "Wie jetzt? Du fährst kein Auto?"
Ich schüttelte peinlich berührt den Kopf. Schlau, das direkt vor einem zu erwähnen, dessen Beruf mein Versäumnis war. Wahrscheinlich hielt er mich jetzt für ignorant. Aber ganz im Gegenteil, ein Lächeln erschein auf seinem Gesicht, so als sei ihm eine Idee gekommen. Auf meine verwirrte Nachfrage hin, winkte er aber ab. Trotzdem hatte ich aber das Gefühl, dass er etwas plante, denn auf dem Weg zum Kino wirkte er schweigsam, und antwortete einsilbig auf meine Fragen.
"Welcher Film?", fragte ich schließlich, und war kurz davor, ihm eine reinzuboxen. Als ob er meinen Unmut gespürt hatte, wurde er wieder der normale Jenson und lächelte mich leicht an.
"Welchen willst du denn sehen?" Ich liebte es, wenn Männer so zuvorkommend waren.
"Such du einen aus. Ich hol die Popcorn." Er nickte und hob die Daumen, als Geste, dass er mich verstanden hatte. Im Kino war es ziemlich laut, da sehr viele Leute an einem Sonntagnachmittag anscheinend nichts anderes zu tun hatten, als sich einen Film im Kino reinzuziehen.
Entsprechend lang war auch die Schlange vor den Popcornschaltern.
"Beeilung. Beeilung. Beeilung", murmelte ich vor mich hin, während ich auf meinen Schuhsohlen auf und abwippte.
"Du bist ziemlich ungeduldig, könnte es sein?", flüsterte mir jemand ins Ohr, der direkt hinter mir stand. Ich wirbelte herum, und sah mal wieder direkt in Jensons Augen.
"Erschreck mich doch nicht so, Jense. Ich krieg ne Herzattacke, wenn du dich immer von hinten anschleichst", schimpfte ich los, jedoch nicht besonders erfolgreich. Dazu fesselte mich das dunkle Braun seiner Augen zu sehr.
Auch er wandte seinen Blick nicht von mir ab. "Jenna", wisperte er heiser. Er überragte mich um einen ganzen Kopf, weswegen er sich zu mir herunterbeugen musste, um mir direkt in die Augen zu sehen.
"Was ist, Jenson?", fragte ich atemlos.
"Nichts. Ich liebe es einfach nur deinen Namen auszusprechen." Noch immer sprach er im Flüsterton, was komischerweise für mich besser verständlich war, als das Herumgebrülle von vorhin. Dann, plötzlich, wandte er sich von mir ab, und betrachtete mit überraschend großen Interesse die Reklametafel hinter mir. Die Leute um uns herum starrten uns etwas irritiert an, vermutlich hatten sie damit gerechnet, dass wir uns küssen würden, und nicht ewig lange anstarren und dann auseinander fahren würden. Jenson sprang geschickt über die Absperrung, die die Schlange von den restlichen Leuten trennte und drehte sich noch einmal zu mir um, als er schon mehrere Meter entfernt.
"Ich warte vor Saal 15!" Dann wurde er von der Menschenmasse verschluckt.
Was war das gerade eben gewesen? Hatte Jenson vorgehabt, mich zu küssen? Vor all den Leuten? Wie betäubt starrte ich auf die Schilder, die die Größen des Popcorn angaben, und ließ die Szene von gerade eben noch mal in meinem Kopf ablaufen. Ich war so in mein Kopfkino versunken, dass ich das Gespräch der beiden Leute hinter mir zuerst gar nicht wahrnahm. Erst als in wiederholter Folge, "Mädchen mit rotem Haar" gesagt wurde, drehte ich mich unauffällig um.
Ein kleiner Junge hielt sich an der Hand seiner Mutter fest und fragte diese mit großen Augen: "Waren die beiden Verliebte?" Er lispelte süß zwischen einer kleinen Zahnlücke durch.
"Vielleicht Timmy, ich weiß nicht", entgegnete seine Mutter leicht genervt.
"Mummy, das müssen Verliebte gewesen sein. Wie der Mann sie angeschaut hat... So als wäre sie das Wichtigste in seinem Leben."
Die Mutter seufzte wieder, doch Timmy ließ sich davon nicht abbringen. "Und das Mädchen mit den Roten Haaren hat ihn auch sehr stark angeschaut. Aus riesigen Augen. Ich bin ganz sicher, dass sie ihn sehr gerne mag."
Da liegst du richtig, Junge.
"Mummy, warum haben sie sich nicht geküsst? Machen das Verliebte nicht immer so?"
"Ich weiß nicht, Timmy. Vielleicht wollten sie sich nicht in aller Öffentlichkeit küssen. Außerdem solltest du jetzt lieber überlegen, ob du süße oder saure Popcorn willst." Der kleine Junge begann sofort mit seiner Mutter darüber zu streiten, dass er umbedingt große Popcorn für sich haben wollte. Ich wandte mich wieder ab, und dachte über das eben Vernommene nach. Der kleine Junge fand also, dass Jenson mich ansah, als sei ich das wichtigste in seinem Leben. Naja, man sagt aber auch immer, kleine Kinder haben eine lebhafte Fantasie.
Nach zehn Minuten war ich endlich an der Spitze der Schlange angekommen, und nahm meine zwei Eimer Popcorn entgegen. Dann hastete ich in aller Eile zu Saal 15 vor deren Tür Jenson auf mich wartete. Als ich außer Atem nach dem Sprint über zwei Stockwerke, angeeilt kam, lächelte er nur, und nahm mir einen der Eimer ab. Dann öffnete er mir galant die Tür. "Der Film hat zwar schon angefangen, aber er läuft er seit einer Minute oder so. Wir dürften noch nicht allzu viel verpasst haben." Ich folgte ihm durch das Dunkel in Richtung der letzten Reihe.
Unglücklicherweise waren unsere Sitzplätze genau in der Mitte der letzten Reihe, und sowohl rechts, als auch links, war ausnahmslos jeder Platz besetzt. Es kam mir so vor, als wäre ganz London gekommen, um sich diesen Film anzusehen.
Unter leiseren und lauteren Protesten, gelangen wir schließlich zu unsern Plätzen. "Was für ein Gekeife...", flüsterte Jenson mir zu. "Es kommt einem ja so vor, als wäre man jedem einzelnen von ihnen auf die Füße getreten."
Ich sagte lieber nichts dazu und schob mir eine Handvoll Popcorn in den Mund, während ich auf die Leinwand starrte.
"Was ist das eigentlich für ein Film?", flüsterte ich Jense zu.
"Weiß nicht, der Typ an der Kasse hat ihn mir empfohlen."
Relativ schnell wurde mir jedoch klar, welcher Film das war. Und bei Jenson schien auch der Groschen zu fallen, als der Hauptcharakter zum ersten Mal zu sehen war.
"Ohh, das ist doch dein Bruder." Er sah mich schnell von der Seite an. "Wenn du willst können wir woandershin gehen."
"Nee, kein Problem", antwortete ich flüsternd ohne die Leinwand aus den Augen zu lassen.
Wenig später trat auch Daniel Brühl zum ersten Mal auf, und mir war endgültig klar, dass das "The Fifth Estate" war, der Film über den Wiki-Leaks Gründer Julian Assange.
Mein Bruder übertraf sich mal wieder selbst, und gegen Ende des Films platzte ich beinahe vor Stolz auf ihn. Ich nahm mir vor, ihn sofort heute Abend anzurufen, um ihm zu gratulieren.
Jenson wirkte nicht minder beeindruckt, genau so wie der restliche Kinosaal, der laut Benedicts Namen zu rufen begann. Man konnte es auch übertreiben.
"Gehen wir", murmelte Jenson mir zu. "Bevor dich jemand von denen erkennt und dich als Souvenir mit nach Hause nehmen möchte."
Ich lachte. Auf was für Ideen Jenson kam...
Wir schwiegen beide, als wir das Kino verließen und über den Parkplatz stapften. Es war dunkel geworden, und die grauen Wolken verhingen den schwarzen Nachthimmel. Bis auf die künstliche Beleuchtung am Parkplatz war es also völlig finster.
Wir schwiegen immer noch, als Jenson das Auto startete und wir schwiegen, als wir vor meinem Appartement zum Stehen kamen.
"Das war ein sehr schöner Tag heute", durchbrach ich schließlich die Stille. "Danke nochmal für alles."
Jenson lächelte mich an. Es war eigentlich mehr die Andeutung eines Lächelns, als es ein echtes war.
"Ich danke dir!", erwiderte er nachdrücklich. "Und ich hoffe wir wiederholen das." Ich öffnete die Tür und stieg aus.
"Bis Morgen." Dann schlug ich die Tür hinter mir zu und trat einige Schritte zurück auf den Gehweg.
Und wie genau einige Tage zuvor, fuhr er davon, blieb nicht stehen und kehrte nicht zu mir zurück.

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