| 10. DIMISE

4.7K 298 7
                                    



Heute würde wohl keine Fahrstunde mehr stattfinden, nach dem was zwischen Jenson und mir passiert war.
Als ich nach mehrminüten Badezimmeraufhalt mit rotgeschwollenen Augen wieder in der Garage auftauchte, waren sowohl Jenson als auch Jessica verschwunden. Nichts zeigte mehr von der großen Katastrophe, die dort ihren Lauf genommen hatte, und bei der ich Jensons wahres Gesicht gesehen hatte.
Alle Techniker schwiegen betreten, und ich merkte, dass ihre Sympathien auf meiner Seite lagen, so als ob sie wollten, dass Jenson sich für mich und nicht für Jessica entschied.
Sergio warf nur einen kurzen Blick auf mein Gesicht, bevor er mir eine Packung Taschentücher anbot.
Ich schüttelte den Kopf. Wegen Jenson hatte ich genug geheult. Es reichte für ein ganzes Leben.
Sobald die Sonne hinter dem grasbewachsenen Hügel beim MTC verschwunden war, verabschiedete ich mich von Sergio und den anderen, mit denen ich arbeitete, und nahm den ersten Zug nach London.
Während der gesamten Fahrt starrte ich besinnungslos aus dem Fenster, wobei ich die vorbeiziehende Landschaft gar nicht wahrnahm. Das einzige was ich sah, waren die Ereignisse der letzten Wochen abgespielt in meinem Kopf wie ein Film. Von unserer ersten Begegnung am roten Teppich, der darauffolgenden in Japan und die Woche, in der ich mich mit ihm angefreundet hatte, und mich in ihn verliebte. Und alles endete mit unserem Kuss vor wenigen Stunden.
Wieder rannen mir heiße Tränen der Enttäuschung über die Wangen. Ich wischte sie ungeduldig weg. Verdammte Liebe.
Kaum war ich in Hyde Park Corner angekommen, stürzte ich in Windeseile zum nächsten Tesco und räumte einen ganzen Einkaufswagen mit Chips, Schokolade, Bonbons und Eiscreme voll. Ja, Eiscreme. Jenson hatte es geschafft. Ich aß jetzt offiziell Eis. Vanilleeis, versteht sich. Das grausamste aller Grausamen. La creme de la creme der Ekelhaftigkeiten.
Die Kassiererin hob vielsagend die Augenbrauen, hielt sich aber mit Kommentaren ziemlich zurück, als sie den Ernst der Lage erkannte.
Kaum war ich über der Straße und mit dem Fahrstuhl oben im dritten Stock angekommen, warf ich meine Einkäufe und Schuhe in eine Ecke. Leider erinnerte alles in meiner Wohnung an Jenson.
Das zerwühlte Sofa mit der Decke, das unabgewaschene Geschirr auf der Anrichte, selbst die Art, wie die beiden Barhocker an den Tresen standen, wo wir gefrühstückt hatten.
Ich stöhnte nur auf, als ich das ganze Durcheinander in der Küche sah, und nahm mir vor es später aufzuräumen. Mit meinen frisch erworbenen Einkäufen verkrümelte ich mich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Jensons Decke hatte ich mit spitzen Fingern gepackt und in die Waschmaschine gestopft. Nichts sollte mehr an ihn erinnern.
Naja, die Küche könnte noch ein wenig jensonfreier werden, aber ich hatte ja noch den restlichen Abend Zeit.
Ich zappte ein wenig auf den Trashkanälen herum, auf die ich sonst nie kommen würde, da ich für einen Film zu deprimiert war. Auf einem lief gerade eine namhafte Promisendung, die damals, als Ben mich vorstellte äußerst ausführlich über mich und meinen Bruder berichtet hatte.
Mir stockte der Atem, als ich das Hauptthema der heutigen Sendung sah:
Jenson Button trennt sich von langjähriger Freundin Jessica Michibata!
Bitte, was?
Klar, die beiden hatten gestritten, keine Frage, aber dass sie sich trennten, hätte ich niemals gedacht.
Obwohl ich nicht wollte, keimte Hoffnung in mir auf. Wenn Jenson sich von Jessica getrennt hätte, hieße das vielleicht, er wäre vielleicht endlich zur Vernunft gekommen.
Es wurden Bilder gezeigt von der Zeit in der die beiden sich kennengelernt hatte und ihre schönsten Momente auf der Rennstrecke.
Dazu erzählte eine Stimme im Off: "Jenson und Jessica lernten sich in einer Bar im Zentrum von Tokio kennen, wobei sie ihm die Bitte um ein erstes Date verweigerte, aus Angst er könne ein Player sein. Ein halbes Jahr später, während Jensons schlimmster Phase in der Formel 1, trafen die beiden wieder aufeinander, diesmal stimmte Jessica einem Datewunsch zu. Und so entwickelte sich das Traumpaar der Rennstrecke, von allen nur Jenica genannt."
Ich schaubte, während ich mir Chips in den Mund stopfte. Ich konnte diese Paarnamen noch nie ausstehen. Jenica! Wie bescheuert klang das denn?
Der von Jenson und mir würde also dann rein theoretisch entweder Jenson oder Jenna lauten! Verdammt, wir hatten zu ähnliche Namen.
Naja, das war dann wohl der endgültige Beweis, dass wir nicht zusammengehörten.
Ich driftete gerade mental etwas ab, als meine Konzentration schlagartig auf den Fernseher zurückgelenkt wurde.
Jessica wurde aus Paparazziperspektive gezeigt, unscharf und von Blitzlichtern erhellt, wie sie ein Hotel verließ. Sie trug eine große Louis Vuitton Tasche an ihrem Arm und zog einen Koffer hinter sich her. Ihre große Sonnenbrille verdeckte den Großteil ihres Gesichts, man konnte nur ihren nachlässig geschminkten Mund sehen.
"Miss Michibata, was sagen Sie zur Trennung?"
"Kein Kommentar", lautete ihre müde Antwort.
Ein anderer Reporter rief: "Wohin wollen Sie? Verlassen Sie London?"
"Ich fliege zurück nach Japan. Es wird wohl eine lange Zeit, bis ich hierhin zurückkomme."
"Haben Sie die Vermutung, dass Jenson Sie irgendwie betrogen hat?"
Jessica öffnete den Mund, zögerte einen Moment und antwortete dann matt: "Nein, hab ich nicht. Jenson war immer ehrlich zu mir. Die Trennung rührt einfach daher, dass wir uns auseinander gelebt haben."
Inzwischen war sie zu der schwarzen Limosine gekommen, die vor dem Eingang auf sie wartete.
"Ich muss jetzt los. Sonst verpasse ich meinen Flug."
Dann, sie war schon ins Auto eingestiegen, drehte sie sich noch einmal um, und sah nun direkt in die Kamera.
"Sei bitte gut zu ihm. Er ist es wert." Ihre letzten Worte waren kaum mehr als ein Hauch, und die Reporter begannen verwirrt durcheinander zu schreien, doch Jessica hatte schon die Tür hinter sich geschlossen.
Ich starrte mit glasigem Blick den Fernseher vor mir an. Jessica hatte mich weder angeprangert ihr Jenson weggenommen zu haben, noch hatte sie mich beleidigt. Ganz im Gegenteil, sie wollte dass ich auf ihn aufpasste.
Wieso hatte sie mich nicht verraten? Das hätte alles um so vieles erleichtert. Ich hätte sie hassen können, ohne ein Fünkchen Mitleid zu verspüren. Aber so...
Nach haufenweise wilden Spekulationen, wen Jessica gemeint haben könnte, endete die Sendung schließlich.
Ich brauchte irgendetwas um mich abzulenken, und zwar schnell. Sonst würde das alles hier wieder in einer Major-Heulattacke ausarten.
Also suchte ich mir den brutalsten Film, den ich in meinem DVD-Regal hatte und legte ihn in das Laufwerk.
Als kurz danach massenweise abgeschlagene Köpfe über meine Mattscheibe flogen, lehnte ich mich zurück.
Wer brauchte schon Liebeskummer, wenn es das Texas Kettensägenmassaker gab?
***
Am nächsten Morgen verspürte ich nicht die geringste Lust, mich aus meinem Bett zu erheben. Nicht, weil die Heizung in meiner Wohnung schon wieder kaputt war und es überall eine unangenehme Temperatur von 15 Grad Celsius hatte, sondern weil ich Jenson nicht gegenüber treten konnte.
Ich hatte seine Beziehung zerstört, und ihn dann abgewiesen, obwohl alles in mir gegen meine eigene Entscheidung protestiert hatte.
Kaum hatte ich meine Bettdecke zurückgeschlagen spürte ich, wie die wohlige Wärme meinen Körper verließ. Bibbernd sprang ich unter die Dusche und drehte den Hahn auf das heißeste. Dummerweise war das gerade einmal lauwarm.
Wieso lebte ich auch in einem Altbau, in dem die Therme und die Heizung nicht zentralgesteuert waren, und jeder für seine eigene Klimaregulation verantwortlich war?
Ich nahm mir vor, nach der Arbeit den Hausmeister zu informieren, damit dieser sich des Problems annehmen konnte.
Nachdem ich mir den dicksten Pulli übergezogen hatte, den ich finden konnte, verließ ich auch schon das Haus, ohne etwas gefrühstückt zu haben. Mir war immer noch schlecht von der Fressorgie gestern Abend.
Eine knappe Stunde später kam der Shuttlebus vorm MTC an, wo heute eine klirrende Kälte herrschte. Nicht mehr lange und wir würden Minusgrade erreichen. Dann würde der große See vielleicht zufrieren und man konnte darauf herumlaufen.
Auf zugefrorenen Eisflächen herumzuschlittern hatte mir schon immer großen Spaß gemacht, obwohl ich schon einige schlechte Erfahrungen dabei gemacht hatte. Einmal war ich mit meinem Bruder und einem Freund nach Helsinki geflogen, im tiefsten Winter um Ski zu fahren in den Seelandschaften, die äußerst hübsch zum Anschauen waren. Da Helsinki am Meer lag, hatte es auch einen riesigen Hafen auf dem jeden Tag dutzende von sogenannten Eisbrechern einliefen. Ihren Namen bekamen sie daher, da das Meer in Finnland im Winter häufig zufror und so keine Schiffe mehr im Hafen anlegen konnten. Dazu gab es die Eisbrecher, die den Weg für fragilere Schiffe freimachten. Und auf ebendiesem Meer hatten wir einen Spaziergang gemacht. Wir waren so weit hinausgegangen, dass man Helsinki kaum noch im Morgennebel erkennen konnte. Mein Bruder und ich hatten daraufhin den Weitrutsch erfunden, bei dem der der Sieger war, das am weitesten nach vorne rutschte, nachdem er mehrere Meter Anlauf genommen hatte.
Wir waren so in unsere Aktivität versunken, dass wir gar nicht bemerkten, dass ein Hubschrauber über uns aufgetaucht war, der uns über Lautsprecher aufforderte, sofort das Eis zu verlassen, da wir viel zu weit draußen seien. Je weiter man in die Mitte kam, desto dünner wurde das Eis. Und tatsächlich hatten sich schon hauchfeine Risse im Eis gebildet, die uns wie ein Spinnennetz umgaben. Der Hubschrauber schien den Ernst der Lage ebenfalls zu kapieren, denn er ließ eine provisorische Leiter zu uns hinunter, um uns hinaufzubefördern. Und kaum hatte ich meinen Fuß als letzte auf die Leiter gesetzt, begann das Eis unter meinen Füßen wegzubrechen, ich verlor das Gleichgewicht. Ich schlug hart mit dem Gesicht auf dem splitternden Eis auf, welches mir in die Haut schnitt. Dank Ben, der mich geistesgegenwärtig im letzten Moment die Leiter hochgezogen hatte, versank ich nicht im Eiswasser. Und seitdem hatte ich eine Narbe am Kinn.
Ich ließ den blauglitzernden See hinter mir, und durchquerte die Lobby, und den langen Gang zur Garage. Ich war heute morgen etwas später gekommen, um nicht zu riskieren, mit Jenson allein in der Garage auf die anderen zu warten.
Doch das Umgetue war umsonst, denn als ich mit meiner Card die Tür zu Garage öffnete und vorsichtig hineinspähte, konnte ich Jenson nirgendwo sehen.
Sergio winkte mir zu, sobald er mich erblickte und legte fragend den Kopf schief. Ich nickte, um ihm anzuzeigen, dass es mir gut ging.
Wir arbeiteten schon fast eine Stunde, als plötzlich Martin Whitmarsh, der Teamchef durch die Tür kam. Alle unterbrachen ihre Arbeit, und sahen zu ihrem Vorgesetzten hin. Dieser sagte: "Wie ihr wisst ist das der letzte offizielle Arbeitstag vor dem Grand Prix von Indien. Ab Morgen und Übermorgen werden alle vom Team und die Autos nach Indien geflogen. Also bitte keine großartigen Veränderungen vornehmen, in Ordnung?"
Alle murmelten zustimmend, während ich mir innerlich mit der Hand vor den Kopf schlug. Stimmt ja, der Grand Prix war ja schon am Sonntag! Ich hatte das in meinem privaten Chaos völlig verdrängt.
Der Teamchef wandte sich zum Gehen, als er sich noch einmal umdrehte.
"Ach ja, eins noch. Jenson wird die nächsten Tage nicht hier sein. Er hat sich freigenommen, um den Kopf freizukriegen, wie er mir heute morgen am Telefon erzählt hat. Aber keine Sorge, er ist pünktlich zum freien Training in Indien."
Sergio und ich wechselten einen langen Blick. Jenson brauchte also eine Auszeit... Wegen mir? Oder wegen der Trennung von Jessica? "Weißt du, wo er hingegangen ist?", fragte Sergio mich im Flüsterton. Ich schüttelte nur den Kopf.
Ich war doch diejenige von der er eine Auszeit brauchte. Da würde er mir doch nicht sagen, wohin er abgehauen war.
Aber uns blieb nicht lange Zeit, darüber nachzugrübeln, da die Arbeit unsere ganze Konzentration erforderte. Wir hatten nur noch zwei Tage Zeit um die letzte große Verbesserung vorzunehmen, und dass ohne Jensons Hilfe.
Mir blieb eigentlich gar nichts anderes übrig, als wie eine Besessene alles zu verbessern, selbst die Verbesserung der Verbesserung der Verbesserung.
Von seitens der Techniker hatte ich schon einiges an Gemurmel gehört, von wegen die Teamchefs seien äußerst zufrieden mit mir.
Doch das war nicht der Grund warum ich mich so in meine Arbeit stürzte. Ich wollte Jenson ein Auto geben, mit dem er gewinnen könnte. Ich wollte, dass er an allen anderen vorbeifuhr, dass er Red Bull von ihrem Podest verdrängte. Ich wollte einfach nur, dass er wieder Erfolg feiern konnte. Und ich wollte meinen Fehler wieder ausmerzen und ihm Grund zur Freude geben.
Und schneller als ich es merkte war der Tag da, an dem ich mit meinem Koffer aus dem New Delhi Airport trat, umringt von Mitgliedern der McLaren Group. Ein LKW wurde gerade mit den Autos beladen, die wertvollen Metallgehäuse fest verpackt in Schaumstoff, Plastik und Metall.
Ich hatte entschieden den Flug am Donnerstagabend zu nehmen, um dann gegen Morgen in Indien anzukommen. In weniger als zwei Stunden würde das erste freie Training stattfinden. Sergio war schon seit gestern Abend in Neu Delhi und hatte mir fleißig Bilder der Rennstrecke, des Hotels und vom Pool mit Poolbar geschickt. Er hatte mir allgemein ziemlich viele Nachrichten geschickt, einfach nur um mich aufzumuntern.
Meinen Bruder hatte ich schon eine Weile nicht mehr gesehen, er war nach Finnland gleich nach Moscow geflogen. Wir standen aber immer noch im Kontakt, und einmal hatte er mir einen Artikel über Jensons und Jessicas Trennung gemailt, mit einfach nur einem Fragezeichen im Betreff.
Ich hatte ihm zurückgeschrieben, dass ich ihm alles später erklären würde. Damit hatte Ben sich zufriedengegeben, er war nicht wieder auf das Thema zurückgekommen. Wir würden gleich auf die Rennstrecke gebracht werden, für das Einchecken im Hotel war keine Zeit mehr. Eine Wagenkolonne bestehend aus silbernen Mercedes Kleinbussen wartete vor dem Flughafen auf die McLaren Techniker, die zusammen mit denen von Red Bull dasselbe Flugzeug aus London Gatwick genommen hatten.
Ich hatte es sehr amüsierend gefunden, dass so erbitterte Feinde auf der Rennstrecke sich bereitwillig ein Flugzeug teilten. Unser Teamchef hatte sich sogar mit Christian Horner, dem von Red Bull Racing eine Flasche Rotwein geteilt. Und ich war mit einem freundlichen Finnen namens Heikki Huovinen ins Gespräch gekommen. Es stellte sich heraus, dass er nicht nur irgendein Mitglied von RBR war sondern der Personal Trainer von niemand Geringeren als Sebastian Vettel. Sofort hatte ich ihm erzählt, dass Sebastian einer meiner Lieblingsfahrer war, was Heikki sehr witzig gefunden hatte.
"Solltest du nicht Jenson Button mögen, wo du doch bei McLaren arbeitest?", hatte er lachend von sich gegeben.
"Ich halte gerne zu den Gewinnern." Das war natürlich ein Scherz gewesen, denn meinen wahren Hintergrund konnte ich Heikki nicht auf die Nase binden.
Jetzt nickte Heikki mir zu, bevor in den Red Bull Teambus einstieg. Ab jetzt war es vorbei mit der brüderlichen Teilung von Flugzeugen, jetzt herrschte wieder Krieg.
***
Ich war so heilfroh, dass der Bus federnde Sitze hatte, sonst hätte keiner die Fahrt zur Strecke überlebt. Die Straße war voller Schlaglöcher und so uneben, da noch Holzteile vom letzten Monsun dort herumlagen, die niemand weggeräumt hatte. Wenn die Piste auch so aussah, dann würde das das gefährlichste Rennen aller Zeiten sein. Kaum war der Teambus an der Rennstrecke angekommen, eilten alle so schnell wie möglich zur Box um letzte Veränderungen an den Autos vorzunehmen, die kurz vor uns hier angetroffen waren. Sergio schritt unruhig in der Garage auf und ab, schon in seinem weißroten Rennanzug.
"Hey Jenna." Sein Akzent klang sehr stark durch, was bedeutete er war wegen irgendetwas sehr aufgeregt.
"Was ist?", fragte ich, nachdem ich ihn umarmt hatte. Sergio verzog nur sehr sorgenvoll das Gesicht.
"Das Training beginnt in weniger als fünfzehn Minuten, und Jenson ist einfach nicht da!"
Jetzt wo er es sagte, fiel mir auf das ich ihn gar nicht in der Garage umherlaufen gesehen hatte.
"War er im Hotel?"
"Nein! Eben nicht! Er war nirgendwo..."
Ich streckte mich um über die Köpfe der Schaulustigen nach ihm Ausschau zu halten.
Da war Nico Rosberg, der mit Pastor Maldonado über irgendwas lachte. Schnell hielt ich auf die beiden zu.
"Habt ihr Jenson gesehen?" Pastor schüttelte den Kopf und Nico runzelte die Stirn. "Da waren so viele, tut mir leid, ich erinner mich nicht."
Ich nahm diese Information mit einem Nicken zur Kenntnis. "Okay, dann suche ich ihn weiter."
Ich wollte mich gerade zum Gehen wenden, als Nico mich am Ärmel festhielt. "Bist du Jenna? Die Aerodynamikerin von McLaren?"
"Ja, wieso?"
Nico musterte mich schnell, bevor er sich zu mir vorbeugte. "Jenson wird kommen, keine Sorge. Er ist in der Nähe."
Ohne ein weiteres Wort ließ er mich stehen. Na super. Das brachte es jetzt. Was hatte er damit gemeint? Ich suchte in der Menge nach Nicos Blondschopf, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
So schnell wie möglich ging ich zurück in die McLaren Box, wo Sergio gerade auf einen ziemlich furiosen Martin Whitmarsh einredete, der Jensons Fehlen gar nicht gut aufnahm. Als er fragend aufsah, schüttelte ich den Kopf.
Martin fuhr sich über die schütteren Haare und gab irgendetwas in sein Handy ein.
Im Flüsterton fragte ich Sergio: "Warum machen alle so ein Aufhebens um Jensons Zuspätkommen? Bei Training ist es doch nicht wichtig ob man auftaucht oder nicht, oder?"
"Doch, man muss seine Trainingseinheiten schon nutzen, sonst gibt die FIA sehr hohe Strafen."
"Verdammt!!"
Ohne mich umzudrehen rannte ich aus der Box nach draußen zu einem der Managing Assistents, der auf einem Tablet Daten eingab. Sergio folgte mir.
"Entschuldigung, aber können Sie mir sagen, ob Jenson Button schon eingecheckt hat?"
Der Mann überprüfte etwas auf dem Tablet, und schüttelte dann den Kopf.
"Kein Eintrag, tut mir Leid."
Sergio warf mir einen verzweifelten Blick zu. Wenn Jenson nicht rechtzeitig erschien würde das auch ihm schaden.
Durch die Lautsprecher wurde die Ansage gemacht, dass alle Zuschauer zurück in ihre Ränge gehen sollten, und alle Fahrer in die Autos.
"Er kommt rechtzeitig, ich weiß es." Ich versuchte überzeugend zu lächeln.
"Wer kommt rechtzeitig?", fragte jemand hinter mir. Auf Sergios Gesicht erschien ein breites Grinsen.
Langsam drehte ich mich um. Dort stand Jenson vollständig bekleidet in Rennmontur, seinen Helm lässig in der Hand.
Einen Moment wollte ich auch lächeln und ihm sagen, wie froh ich war, dass er rechtzeitig gekommen war, doch dann besann ich mich eines besseren, und schaubte verärgert.
"Toll, Mr Button. Sie hätten sich aber auch wirklich beeilen können, um nicht Ihr ganzes Team in Verzug zu bringen. Das war total unverantwortlich." Dann drehte ich mich um, und stürmte in Box auf einen Platz weiter hinten, sodass Jenson mich nicht sehen konnte, wenn er in die Box kam.
Sobald die beiden McLaren aus der Box gefahren waren, um erste Testrunden zu versuchen, erhob ich mich von meinem versteckten Platz um ein wenig am Rand der Boxengasse herumzustromern.
Als ich an der Red Bull Box vorbeikam, trat auf einmal niemand anderes als Christian Horner auf mich zu.
"Miss Cumberbatch, darf ich Sie einen Moment begleiten?"
Ich nickte etwas verwundert. Was wollte RBRs Teamchef von mir?
"Wie ich gehört habe, sind sie eine ausgezeichnete Technikerin auf dem Gebiet der Aerodynamik."
War das eine Frage oder eine Feststellung?Also lachte ich verlegen. "Naja, kommt drauf an wie Sie 'ausgezeichnet' definieren."
"Ich wollte Ihnen also ein Angebot unterbreiten. In unserem Team bräuchten wir eine angemessene Aerodynamikerin mehr als sonst. Ich würde Ihnen also vorschlagen, dass Sie nächstes Jahr, sobald Ihr Vertrag bei McLaren ausgelaufen ist, eine feste Stelle bei uns bekommen."
Ich blieb stehen. "Meinen Sie das Ernst?"
Auch Horner blieb stehen.
"Ja, voll und ganz. Sie haben übrigens gerne ein Weilchen Bedenkzeit wenn Sie diese benötigen."
Ich nickte schnell. "Vielen Dank für Ihr Angebot. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen."
Horner lächelte freundlich. "Immer wieder gerne, Miss Cumberbatch."
Dann machte er sich schnellen Schrittes zurück in die Red Bull Box.
Verdammt, und wieder war ich in einer Zwickmühle!
Wenn ich das Angebot annahm, würde ich McLaren verraten und somit Jenson. Wenn nicht, würde mir wahrscheinlich der beste Auftrag meiner gesamten Karriere durch die Lappen gehen.
Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass McLaren meinen Vertrag verlängern würde, nach dem was ich schon für das Team geleistet hatte.
Aber andererseits war Red Bull Racing ein reicheres und berühmteres Team.
Ich kam gerade rechtzeitig zum Ende des ersten freien Trainings in die Box, und bekam mit, wie Jensons und Sergios McLaren in die Garage zurückgerollt kamen.
"Und?", fragte ich teilnahmslos. McLaren war nie gut in freien Trainings, also waren meine Erwartungen nicht ganz so hoch. Sergio kam auf mich zugelaufen, man konnte fast sagen springend, und fiel mir um den Hals.
"Ich bin erster!!" Dann küsste er mich zweimal auf jede Wange und gab mir auch noch einen dicken Kuss auf den Mund.
Ich lachte, und drückte ihn enger an mich. "Kein Wunder, du bist hier auch der beste Fahrer weit und breit!"
"Jenna, ich liebe dich einfach. Du bist die allerallerallerbeste!!"
Über Sergios Schulter sah ich Jenson wie er seinen Helm herunternahm und schnell zu uns sah. Sein Blick streifte und ich wandte mich wieder Sergio zu.
"Mal sehen, was du am Sonntag schaffst, du Weltmeister!"
Alle Teammitglieder kamen auf uns zu, um uns zu gratulieren, Sergio wegen seiner Zeit, mir wegen dem Auto.
Sergio verkündete jedem, dass er mich wohl heiraten würde, wenn er weiterhin so gut blieb.
Ich tat so, als freute ich mich, aber im Innern wurde ich immer nostalgischer. Wenn ich McLaren verließ würde Sergio mir das nie verzeihen. Und ich wollte seine Freundschaft nicht verlieren.
Irgendjemand drückte mir einen Zettel mit den Ergebnissen in die Hand, auf die ich einen schnellen Blick warf.
Jenson war zweitbester?! Und er tat so als sei er aus dem Rennen geflogen!
Die ganze Zeit blieb er in der Nähe seines Autos und kritzelte auf einem Blatt herum.
Sollte ich zu ihm gehen und ihm gratulieren?
Immerhin war das eines der besten Ergebnisse von McLaren seit langem.
Doch dazu kam es nicht mehr, da nun das zweite freie Training anstand, und alle Fahrer wieder in ihre Autos stiegen.
Das Signal zum Beginn der zweiten Traininsphase wurde gegeben. Ich stand an Sergios Auto und überprüfte noch einmal schnell die Heckklappe am DRS, als ich spürte, dass Jenson mich ansah. Ich blickte hoch, direkt in seine dunklen Augen die man durch das geöffnete Visier seines Helms erkennen konnte. Ein paar Sekunden fixierten wir uns gegenseitig, keiner wagte es, den Blick abzuwenden. Dann plötzlich klappte Jenson das Visier herab, und gab Gas, woraufhin er aus der Box die Pit Lane entlangschoss.
"Viel Glück", flüsterte ich und sah seinem Auto hinterher, bis es von der Kurvenplanke verdeckt wurde.
Kurz darauf startete auch Sergio und ich suchte mir einen Platz am Monitor, um alles genau unter Kontrolle zu behalten.
Wie ich aus eigener Erfahrung wusste, die Kontrolle zu verlieren war nie gut und sorgte für massenweise Ärger.
***
Das zweite freie Training war kaum anders ausgefallen als das erste und so herrschte im McLaren Bus ins Hotel mehr als ausgelassene Stimmung.
Sergio war der oberste Partyguy, und sorgte die ganze Zeit für Gelächter, wenn er wieder einmal erklärte, wie genial ich sei. Inzwischen war mir das aber einfach nur noch peinlich, und ich grinste schwach, wann immer Sergio einen Kommentar abgab.
Das Angebot von RBR spukte immer noch in meinem Kopf herum, und ich konnte dieses ungeliebte Thema einfach nicht verdrängen, so sehr ich auch wollte.
Sobald wir im Hotel angekommen waren, schnappte ich mir meinen Koffer und floh richtiggehend in mein Zimmer.
Jenson hatte ich schon eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen, vermutlich hatte er ein eigenes Auto gemietet, mit dem er zurück ins Hotel kam.
Mein Hotelzimmer war ziemlich luxuriös, ich wollte gar nicht wissen wie viel das McLaren wohl gekostet hatte. Aber andererseits brachte ich ihnen im Moment auch ziemlich viel Kohle ein.
Ich wollte gerade unter die Dusche schlüpfen, als mein Handy, das auf dem Bett lag, zu klingeln begann.
Ben, stand auf dem Display. Ich hob ab, wobei ich mit dem Ellbogen total gegen den Nachttisch donnerte.
"Verdammte Hölle!", keuchte ich und biss meine Zähne zusammen.
"Nein, dein Bruder. Falls du dich an den noch erinnerst." Irgendwann würde ich mich wohl noch selber umbringen, mit meiner Tollpatschigkeit.
"Klar, Ben. Ich weiß, dass du es bist. Ich hab mir nur den Arm- ach egal. Warum rufst du an?"
Er lachte leise. "Ich wollte nur wissen wie es meiner kleinen Schwester geht."
"Ganz okay eigentlich. Dir?"
"Auch. Erzähl mal; bist du nicht in Indien?"
Ich nickte, dann wurde mir bewusst, dass Ben mich nicht sehen konnte.
"Ja", antwortete ich deshalb. "Ist total cool. McLaren war heute in beiden freien Trainings am besten, toll oder?"
"Wow!", kam es nach einem Moment der Stille aus dem Lautsprecher. "Das ist mehr als toll!"
Ein paar Minuten fachsimpelten wir über die meine Möglichkeiten, nachdem ich Ben von Horners Angebot erzählt hatte.
"Du musst entscheiden, Jen. Ich kann dir da nichts abnehmen, das weißt du!"
"Hmm", machte ich enttäuscht. Ich hatte wirklich gehofft, dass er mir weiterhelfen hätte können.
"Ach übrigens, Jen. Ich bin über Keira hinweg."
"Wirklich?", rief ich aus. Darüber war ich mehr als erleichtert.
"Ja. Ich habe bemerkt, dass wir einfach nicht zueinander passen. Außerdem ist sie glücklich mit ihrem Mann."
"Und?", fragte ich nachsichtig. Ich wusste wenn mein Bruder mir etwas verheimlichte.
"Nichts und", antwortete er, einen Moment zu schnell.
"Naja, egal." Er sollte es mir erzählen, wenn er wollte. "Jedenfalls freue ich mich total für dich, dass du Keira vergessen konntest."
Mein Bruder lachte ein sehr befreites Lachen. "Und ich erst! Ich meine, wer ist sie schon gegen mich?"
"Genau!", erwiderte ich lachend. "Leg dich nie mit einem Mitglied der Cumberbatch-Familie an."
"Nicht, wenn dir dein Leben lieb ist."
Wir lachten beide.
"Ich muss jetzt schlafen", gähnte Ben. "Morgen hab ich Premiere, da muss ich super aussehen, nicht wahr?"
"Ein Cumberbatch sieht immer super aus", war meine Antwort. Mein Bruder lachte, und legte auf.
Eine Weile starrte ich aus dem Fenster, aus dem ich einen tollen Blick auf den Hotelpark hatte.
Ben war also über Keira hinweg. Wenn das keine gute Nachricht war...
Ich war wirklich froh, dass Ben sich gegen Keira entschieden hatte. Das hätte nur total viele Probleme geschaffen, deren Lösungen beinahe unmöglich gewesen wären.
Toll, mein Bruder war jetzt aus dem Schneider, aber ich?
Auf mich drückte immer noch die zentnerschwere Last der Entscheidungen. Wie ich das hasste. Das nahm einen den gesamten Raum zum Atmen.
Ich beschloss dem ganzen Hin- und Hergegrüble ein vorzeitiges Ende zu setzen, indem ich zuerst duschen und dann schlafen ging.
Wie hieß es doch so schön?
Morgen ist auch noch ein Tag.

AerodynamicsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt