| 12. END

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Diese Nacht tat ich kein Auge zu. Ich warf mich im Bett hin und her und versuchte noch einmal meine Entscheidung richtig abzuwägen. Ein paar mal war ich kurz davor, zu Jenson zu laufen, und ihm zu sagen, dass ich ihn wollte, und niemand anderen.
Doch im letzten Moment hielt ich mich jedesmal zurück. Meine Entscheidung war die einzig richtige gewesen, und ich war froh sie getroffen zu haben.
Als die Sonne am Morgen wieder über den Horizont kam, sprang ich auf und rannte unter die Dusche, wobei mich das eiskalte Wasser zurück in die Realität holte.
Das Leben war verdammt noch mal kein Ponyhof, und ich musste mich endlich mit dem zufrieden geben was ich hatte.
Die Busfahrt zur Rennstrecke war kein Vergnügen, da ich auf engsten Raum mir Jenson zusammengepfercht war, der ebenfalls tiefschwarze Ringe unter den Augen hatte. Wir starrten in entgegengesetzte Richtungen, und gingen nicht auf Sergios Aufmunterungsversuche ein.
Jenson sah so müde und abgekämpft aus, wie schon lange nicht mehr. Er tat mir so unendlich leid, und am liebsten hätte ich ihm gesagt, wie sehr ich ihn liebte, doch das ging nicht. Wir gehörten nicht zusammen.
Den gesamten Vormittag bis lange in den Mittag hinein, überprüfte ich jedes Detail, jedes Ventil am Auto, bis mir bald alles so perfekt saß wie sonst noch nie. Sergio war die ganze Zeit um uns herumgehüpft, wie ein Gummiball, und wir hatten ihn nur schwer dazu bewegen können seinen Anzug anzuziehen.
Gerade als ich in einen riesigen Reifenberg gestolpert war, der daraufhin gefährlich zu schwanken begann, kam die Durchsage, alle Fahrer sollten in ihre Autos, es sei nur noch eine halbe Stunde bis zum Start.
Ohne mich anzusehen, half Jenson mir noch, den Reifenstapel zum Stillstand zu bringen, bevor er sich in das Cockpit seines Autos schwang.
Etwas wehmütig sah ich zu, wie Sergio und Jenson ihre Cockpits überprüften, und die Gurte fester schallten.
Autorennfahrer erinnerten mich so sehr an Ritter. Diese stille und selbstsichere Art sich in den Tod zu wagen, hatte wohl schon in allen Zeiten ziemlich viele Menschen beeindruckt.
Ich war so mit Sinnieren beschäftigt, dass ich gar nicht merkte wie eine mir sehr bekannte Gestalt ihre Hand um meine Schultern legte.
Ich wirbelte herum, und sah direkt in das Gesicht meines Bruders, der ein breites Lächeln zur Schau trug. Doch er war nicht allein. An seiner Seite stand eine bildhübsche, rothaarige junge Frau, ihre Hand mit der meines Bruders verschlungen.
Ben grinste so unheimlich glücklich, dass mein Frust unwillkürlich wie weggeblasen schien.
"Darf ich vorstellen, meine neue Freundin Amelia!"
Sie streckte mir freundlich die Hand entgegen und ich schüttelte sie.
"Hallo, du musst Jenna sein. Dein Bruder erzählt sehr viel von dir."
Sie hatte denselben Akzent wie Nico Rosberg beim Sprechen, was bedeuten musste, dass sie Deutsche war.
"Freut mich sehr, dich kennenzulernen!" Amelia war fast einen Kopf kleiner als ich, was sie aber noch selbstsicherer erscheinen ließ. Mit aufgerissenen Augen drehte sie sich um. "Und hier arbeitest du also, wow!"
Ich grinste. Amelia war mir echt sympathisch. Sie war nicht so besitzergreifend wie die früheren Freundinnen meines Bruders.
Ben beugte sich zu mir hinunter. "Hast du dich schon entschieden?"
Ich nickte. "Ich gehe zu Red Bull."
Auf Bens Gesicht breitete sich für einen Moment Enttäuschung aus, doch er hatte ich schnell wieder unter Kontrolle.
"Schön das du dich entschieden hast."
Verdammt, selbst Ben war gegen meine Entscheidung. Und seinem Urteil vertraute ich voll und ganz.
"Falsche Entscheidung?", fragte ich also kläglich. Statt einer Antwort zog Ben Amelia leicht am Ärmel, die gerade die Autos in Augenschein genommen hatte.
Sie drehte sich um, und lächelte meinen Bruder an. "Ja, Ben?"
"Wenn du zwischen Herz und Verstand entscheiden müsstest, was würdest du nehmen?" Mein Bruder hatte ihr diese Frage leise gestellt, damit niemand etwas mitbekam.
"Ich denke, ich würde Herz nehmen." Sie lächelte mich schüchtern an. "Manchmal ist es wichtiger, sich für das zu entscheiden was man instinktiv führt richtig hält. Der Verstand leitet da nur in die Irre."
Amy hatte recht, ich hätte auf mein Herz hören sollen.
Das Zeichen wurde gegeben, das alle auf ihre Positionen fahren sollten, und Ben brüllte mir über dem Motorenlärm hinweg zu, dass er mit Amy in die Lounge gehen würde.
Einen Moment später war sowohl er mit Amelia als auch die beiden McLaren aus der Box verschwunden, und ich blieb zurück, verzweifelter als je zuvor.
Herz oder Kopf, Herz oder Kopf. Mein neues Mantra half mir der Entscheidung aber auch nicht weiter.
Verdammt, wenn ich vorhin mehr für die Red Bull Entscheidung gewesen war, pendelte es sich jetzt langsam als Gleichstand ein. Jetzt war ich so schlau wie zuvor.
Na, toll.
Inzwischen hatte alle Fahrer ihre Aufwärmrunde gemacht, und standen nun wieder auf ihrem vorgegebenen Plätzen. Auf dem Fernseher erkannte ich die zwei kleinen roten McLaren ganz vorne, dahinter ein dunkelblaues. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zum Start, und unwillkürlich wippte ich nervös auf und ab. Jenson musste gewinnen! Ich wünschte es ihm so sehr.
Endlich wurde das Startsignal gegeben und sofort beschleunigten alle Autos von Null auf mehr als zweihundert Stundenkilometer. Sergios Auto schoss wie ein Blitz nach vorne, dicht gefolgt von Sebastians Red Bull. Wo zur Hölle war Jenson? Verdammt, er war nur vierter. Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen hatten ihn beim unglücklichen Start überholt. Das durfte doch nicht wahr sein.
Ich war kurz davor auf die Strecke zu laufen und diese beiden unhöflichen Autos aus dem Rennen zu ziehen.
Das war doch echt nicht fair! Durch meine Kopfhörer hörte ich den Fernsehkommentator sagen, dass Jenson heute total unkonzentriert fuhr.
Und das alles nur wegen mir! Ich rutschte ein paar Meter vorm Fernseher weg, um nicht noch einen Wutanfall zu bekommen, als ich auf meiner Tasche, die in der Ecke stand, eine schmale Mappe liegen sah. Vermutlich ein Irrtum, sie war wohl für jemand anderen bestimmt. Ich ging hin, um den wahren Empfänger zu ermitteln, und öffnete sie Mappe. Ein kleiner weißer Zettel segelte heraus und landete auf dem Boden. Ich hob ihn auf, und zuckte richtiggehend zusammen als ich meinen Namen auf dem Blatt las.
Es war ein kurzer Brief geschrieben in Jensons Schrift.

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