| 09. FAIRWELL

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"Wohin bringst du mich?", fragte ich verwirrt. Jenson zuckte nur grinsend mit den Schultern.
"Du wirst sehen."
Ich schnaubte und schaute wieder auf die Straße, wie schon die letzte halbe Stunde lang.
Jenson hatte mich nach Beendigung der Arbeit einfach am Handgelenk gepackt, und mich hinter sich hergezogen, bis zu seinem Auto. Dort hatte er mir befohlen einzusteigen, und ich hatte ihn mit Fragen gelöchert, die er aber ignorierte.
Er war echt so stur, wenn es um das Verraten des Geheimnis ging.
"Wann sind wir da?", fragte ich weiter. Wieder nur ein Grinsen, anstatt einer Antwort.
Wir waren von Woking in Richtung London gefahren, als Jense aber ins Industriegebiet eingebogen war. Rechts und links erstreckten sind graue Lagerhallen und kleinere Fabriken.
Der Himmel hatte sich fast vollständig verdunkelt, da es schon nach sieben Uhr war.
Endlich kam Jenson vor dem großen Fronttor von einer der Lagerhallen zu stehen.
Er legte mir nur seinen Finger auf die Lippen, als ich ihn erneut um eine Auskunft bitten wollte.
"Geduld", murmelte er. Kurz darauf wurde das Tor geöffnet, Jenson startete den Motor, und fuhr durch die entstandene Öffnung.
Von innen war die Halle eben so unspektakulär wie von außen. Grau, weit und leer. Keine einzige Kiste oder Container stand in der Halle und verunreinigte den Anblick der Leere. Außerdem war die Lagerhalle riesig. Sie erstreckte sich mindestens über einen Kilometer, und war fast genauso breit. Von der Decke hingen Neonlichter, die die Halle noch gespenstiger erschienen ließen.
"Was machen wir hier?" Ich starrte Jenson ziemlich verwirrt an.
"Ich mach hier gar nichts." Er grinste belustigt. "Du lernst Autofahren!"
Mir klappte die Kinnlade runter.
"Soll das ein Witz sein?!? Ich kann nicht Autofahren!"
"Eben genau deshalb sollst du es doch lernen", erwiderte er ungeduldig. "Und wer ist als Lehrer da besser geeignet als ein Formel 1 Pilot?"
"Ein Fahrlehrer vielleicht? Jemand der eine Lizenz zum Ausbilden hat?"
"Langweilig!" Er lehnte sich vor und sah mir direkt in die Augen. "Lern es von mir!"
Ich starrte zurück, bevor ich meinen Blick über das Lenkrad und die restliche Innenausstattung schweifen ließ.
"Na gut", stimmte ich schließlich zögernd zu. "Aber nur unter der Bedingung, dass du mich nicht anschreist, wenn ich etwas falsch mache. So kann ich nämlich gar nicht lernen."
Bei meinen letzten Worten wirkte Jenson ehrlich verletzt. Er sah mich fest an während er mit sanfter Stimme antwortete: "Jenna, ich würde dich niemals anschreien, selbst wenn du mein Auto komplett zerschrottest." Durch die Herftigkeit seiner Worte verwirrt, nickte ich schnell.
"Okay, dann fangen wir an."
Jenson grinste zustimmend.
"Positionswechsel."
Ah ja, stimmt.
Ich stieg von der Beifahrerseite aus und betrat das Auto wieder von rechts.
Jenson, der nun auf dem Beifahrersitz saß, grinste erwartungsvoll.
"Erstmal, Auto einschalten. Schlüssel rumdrehen." Ich tat wie geheißen, und das Auto begann sanft durch die Energie des Motors zu vibrieren.
"Dann Kupplung drücken und Gang einlegen. Nimm den ersten." Ich schaltete auf den ersten Gang um, und drückte die Kupplung runter.
"Jetzt Gas geben. Nicht zu viel."
Während ich versuchte, das Gaspedal runterzudrücken ließ ich die Kupplung los, und das Auto machten einen Satz nach vorne.
"Ups."
Jenson nickte, als hätte er das erwartet. "Du darfst die Kupplung nicht loslassen während du einen Gang umschaltest. Sonst passiert das. Also nochmal."
Wieder versuchte ich, die Kupplung zu betätigen, während ich in den ersten Gang schaltete. Diesmal hatte ich mehr Glück. Sobald ich aufs Gas gedrückt hatte, fuhr das Auto mit einem Ruck nach vorne.
"Gut gemacht!", lobte Jenson mich und lächelte mir schnell zu. "Probier den zweiten Gang." Ich gehorchte und machte wieder, wie er mir gesagt hatte, mit dem Ergebnis, dass der Maserati wieder ein Stückchen nach vorne fuhr.
"Okay. Jetzt machst du das gleiche wie eben, nur dass du das Bremspedal benutzt, wenn du einiges an Schwung gewonnen hast."
Die nächsten zwei Stunden war ich erstmal mit dem Bremsen und Gasgeben beschäftigt, da ich das mit der Kupplung relativ schnell beherrschte.
"Ich kann nicht mehr", jammerte ich schließlich, wobei ich mir den Nacken rieb. Die letzten Stunden hatte ich in einer sehr unangenehm angespannten Position verbracht.
Jenson warf nur einen kurzen Blick in mein offenbar sehr übermüdetes Gesicht, und er stimmte dem Ende der Fahrstunde zu.
"Ich bringe dich nach Hause. Du hast dich gut geschlagen."
"Danke", entgegnete ich matt.
"Los, Positionstausch!"
Draußen hatte es zu regnen begonnen, und als wir das Gebäude verließen, hatten sich auf der leicht unebenen Straße schon einige Pfützen gebildet.
"Ich mag Regen", sinnierte Jenson vor sich hin. "Man hat das Gefühl alles wird gesäubert. Auch man selbst."
"Hmm", entgegnete ich nur. Mir stand nicht der Sinn nach tiefsinnigen Gesprächen.
Ich beobachtete die Regentropfen, die langsam am Fenster herabperlten und achtete gar nicht auf den Verkehr.
"Was ist denn jetzt los?", riss mich Jensons Stimme plötzlich aus meinen Gedanken. Ich sah hoch, und bemerkte, dass die ganze Straße vollgestopft mit Autos war. Wir waren inzwischen schon in London, jedoch kam kein Auto auch nur einen Zentimeter voran.
Ich schaltete das Radio ein, und durchsuchte die Kanäle nach einer Verkehrsdurchsage.
Auf BBC 1 wurde schließlich sogar eine Quizsendung unterbrochen, um den Riesenstau zu erklären, der sich dem Anschein nach durch ganz London zog.
"Alle Bereiche südlich des Mayfairs sind nicht mehr zugänglich, vermutlich für die nächsten paar Stunden. Die Gasexplosion unter der Eaton Street hat mehrere Straßen zum Einsturz bringen lassen, wobei zum Glück niemand verletzt wurde."
Jenson atmete scharf ein. Ich sah ihn schnell an.
"Du wohnst südlich des Mayfair oder?"
"Yep." Er dachte kurz nach. "Ist kein Problem, ich übernachte in einem Hotel."
"Nein!", entgegnete ich schnell. "Du übernachtest einfach bei mir!"
Jenson wollte etwas entgegnen, nickte aber dann ergeben.
"Danke, Jen."
"Kein Problem." Ich rutschte unruhig in meinem Sitz hin und her.
Jenson bei mir zu Hause, das war auch ein Gedanke, an den ich mich einmal gewohnen musste. Verdammt, hoffentlich hatte ich aufgeräumt. Ich hatte aber die leise Ahnung, dass es nicht so war.
Gestern waren wir erst so spät zurückgekommen, dass ich nur noch ins Bett gefallen war. Da hatte ich echt keine Zeit mehr gehabt, meine Wohnung wie für den Staatsempfang eines Präsidenten herzurichten.
Na ja, wie hieß es denn so schön: Im Nachhinein ist man immer schlauer.
Das hieß, ab jetzt nur die Wohnung verlassen, wenn sie tipptopp aufgeräumt ist.
"Mach dir keine Sorgen, Jen. Es ist nicht schlimm, wenn nicht aufgeräumt ist."
Der Typ konnte meine Gedanken lesen!
"Und nein,", fügte er amüsiert hinzu. "ich kann deine Gedanken leider nicht lesen. Glaub mir, das hätte ich schon viel früher ausgenutzt."
Aha. Okay...
"Macht sich Jessica keine Sorgen, wenn du nicht nach Hause kommst?"
"Die ist in Abu Dhabi. Oder so." Er gähnte. "Hab den Überblick ein wenig verloren."
Charmant.
Kurze Zeit später waren wir vor meinem Apartment angekommen. Jenson parkte sein Auto auf einem der freien Parkplätze und folgte mir dann mit gewisser Neugier in das Gebäude.
Kaum hatte ich die Haustür aufgeschlossen, hatte er die Wohnung schon betreten und sah sich interessiert um. Etwas nervös wartete ich auf sein Urteil. Das Chaos war nicht so schlimm, wie ich angenommen hatte.
"Keine Buddhastatuen", stellte er erleichtert fest. "Keine Bastmatten. Viel Holz und Metall." Er drehte sich grinsend zu mir um. "Jenna, du hast Geschmack."
Ich gab ihm einen spielerischen Schubser. "Warum diese Überraschung? Hast du erwartet, ich wohne in einer pinken Bonbonschachtel?"
"Nein, es ist nur, ich hätte gedacht, das du mehr Jessica-Flair hättest."
"Duftkerzen, Blumenvasen, und Spitzendeckchen?" Ich rümpfte die Nase. "Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss."
Jenson grinste nur und entgegnete dann, mit einem Blick auf die Uhr: "Es ist schon total spät. Wir sollten schlafen."
Ich, die ich kaum noch die Augen offen halten konnte, nickte.
"Gute Idee."
Ich gab ihm ein paar Decken, damit er es sich auf dem Sofa gemütlich machen konnte.
Nachdem ich mir die Zähne geputzt hatte, kam ich in meiner Yogahose nochmal ins Wohnzimmer. Jenson stand am DVD Regal und begutachtete meine Filme.
"Viele davon hab ich auch." Er drehte sich um, und kam langsam auf mich zu. "Wie schon gesagt, dein Geschmack ist hervorragend."
Er stand nur noch eine Handbreit von mir entfernt. Nicht mal ein Schritt, und mein Kopf würde seinen Oberkörper berühren. Einen Moment starrten wir uns unverwandt an, und ich verkrampfte meine Finger ineinander.
"Gute Nacht", brachte ich noch heraus. Dann drehte ich mich um, und verließ fluchtartig das Zimmer.
So schnell wie möglich warf ich mich auf mein Bett, und schaltete das Licht aus.
Ach Gott, sein Objekt der Begierde nur durch eine Wand getrennt von sich zu haben, war keine leichte Situation. Ich musste mich echt zusammenreißen.
***
Am nächsten Morgen erwachte ich sehr früh, lange bevor der Wecker auf meinem iPhone auch nur andeutungsweise die Anstalten machte in Alarm auszubrechen.
Eine Weile lag ich einfach nur auf meinem Rücken und starrte an die Decke. Irgendwo da hinten, in meinem Wohnzimmer, auf meinem Sofa, war Jenson. Schließlich stand ich auf Zehenspitzen auf, und tapste ins Badezimmer, wo ich erstmal ausgiebigst duschte. Ich liebte duschen. Es war so entspannend und man fühlte sich jedes mal wie eine neuer Mensch in einer neuen Haut, wenn man aus der Dusche kam.
Danach stand ich erstmal ewig im Bademantel vorm Kleiderschrank und fragte mich, was ich anziehen sollte. Was gefiel Jenson wohl?
Ach, Jenna! Du bist unabhängig! Was interessiert dich, was Jenson möglicherweise gefallen würde?
Also schloss ich die Augen, und nahm das erste, was ich zu fassen bekam. Graues Sweatshirt mit einem roten Herz, auf dem "Cumberbitch" geschrieben stand. Dazu nahm ich eine graugemusterte Leggings aus dem Schrank. Das Sweatshirt hatte ich mal beim Stöbern in einem Sherlock-Fanshop in der Baker Street erstanden, und ich fand es sehr passend. Immerhin war Cumberbatch auch mein Nachname.
Meine Haare ließ ich an der Luft trocknen, was zur Folge hatte, das sie sich zu wirren Locken kringeln würde.
Dazu nahm ich eine schwarze Wollmütze, das mein Haarchaos bedecken, und mir zu zusätzlicher Wärme verhelfen sollte.
Auf leisen Sohlen schlich ich schließlich in die Küche, um heißes Wasser für Tee aufzusetzen. Das Wohnzimmer hatte zwei Türen. Eine führte vom Flur aus dorthin, während die andere in der Küche angebracht war.
Als ich also darauf wartete, dass mein Wasser endlich kochte, stapfte ich so leise wie möglich zur Verbindungstür in Richtung Wohnzimmer und drückte die Klinke hinunter.
Jenson schlief noch, dies allerdings sehr verdreht. Sein rechter Arm hing vom Sofa hinab, und alle Decken, bis auf eine, lagen zerknüllt am Boden. Er lag am Bauch, und er trug kein T-Shirt, weshalb ich seinen durchtrainierten Rücken anstarren konnte. Nicht, dass ich wollte.
Und wie sollte ich ihn jetzt aufwecken? Ich konnte ihn ja schlecht durch Blicke zum Aufwachen bringen.
"Jenson!", flüsterte ich also. Sofort fuhr mit schreckgeweiteten Augen hoch, und starrte mich an.
"Jenna? Was zur-?" Dann schien es ihm zu kommen und er grinste verlegen.
"Oh, sorry. Ich hab vergessen, dass ich bei dir übernachtet hab."
"Kein Problem", erwiderte ich ehrlich und versuchte, nicht auf sein Sixpack zu starren. "Ähm, ich bin in der Küche."
Warum brachte ich keine intelligente Satzfolge heraus, wenn er vor mir stand?
Zurück in der Küche warf ich schnell irgendeinen Teebeutel ins heiße Wasser und starrte dann bewegungslos auf das Display des Ofens, auf dem die Uhr eingeblendet war.
Nach fünf Minuten riss ich den Teebeutel wieder aus der Kanne und warf ihn in den Mülleimer.
Bis der Tee halbwegs ausgekühlt war, vergingen wieder zehn Minuten.
Alles Zeit, in der Jenson nicht in der Küche auftauchte.
Ich holte mir einen riesigen Eimer Jogurt aus dem Kühlschrank, in dem ich nacheinander Erdbeeren, Blaubeeren und Pfirsiche reinschnibbelte.
Was machte Jenson so lange dort drinnen?
Nach einer gefühlten Ewigkeit trat Jenson schließlich, vollständig bekleidet, durch die Tür.
"Jessica hat angerufen. Sie hat mich gefragt, warum ich nicht zuhause war. Echt creepy, wie sie das wieder rausgefunden hat. Immerhin ist sie selbst nicht einmal zu Hause."
Ich schluckte. Big Brother is watching you!
"Das ist wirklich etwas seltsam. Yoghurt?" Er nickte und ich goss ihm etwas von meinem Mix in eine Glasschüssel.
"Wahrscheinlich hat sie die Nachbarn auf mich angesetzt. Zuzutrauen wäre es ihr."
Er starrte düster ins Leere. "Wenn ich ihr sage, dass ich bei dir war, dann haben wir beide ein Problem. Es ist nämlich leider so, dass sie dich hasst."
Ach echt? Das wäre mir noch nie aufgefallen!
"Aber wenn ich sie anlüge und sie es irgendwie rausfindet, dann wird sie mich auch für ewig verabscheuen." Er seufzte tief. "Jenna, versteh mich nicht falsch. Ich mag Jessica wirklich gerne, aber es ist so, dass wir schon ewig zusammen sind, und vor allem in letzter Zeit gibt es immer mehr Momente, in denen ich mich frage, warum ich überhaupt noch mit ihr zusammen bin." Er sah mich direkt an. "Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war als sie dich aus heiterem Himmel wegen einer Eifersuchtsszene angefallen hat." Er schüttelte den Kopf. "Ich hätte an dem Tag beinahe mit ihr Schluss gemacht, aber sie hat mir so Leid getan. Immerhin macht jeder Mensch Fehler."
Er hätte sie beinahe verlassen?!
"Aber dass sie mich kontrollieren will, finde ich so unmöglich."
Während er geredet hatte, hatte ich ihm zugehört, und nun versuchte ich, ihn aufzumuntern.
"Ach komm schon. So schlimm war das jetzt auch nicht, mit Jessica. Ich hab's überlebt."
Jenson steckte seine Hand aus und strich mir ganz sanft über den Kratzer, den Jessica mir zugefügt hatte.
"Jenna glaub mir, für mich war es schlimm." Er stoppte als suchte er nach den richtigen Worten. "Ich hatte vielleicht so getan, als würde ich dich hassen, aber in Echt hab ich es nicht getan. Nicht eine Sekunde." Mir stockte der Atem. Wie konnte ein einzelner Satz nur so viel in einem auslösen?
"Du warst mir von Anfang an eigentlich sympathisch, Jenna."
Ich schwieg. Ich wollte fragen, warum er so getan hatte, als ob er mich hassen würde. Ich wollte ihn so viel fragen, aber das einzige was ich herausbrachte war: "Du bist auch ganz cool."
Ja, Jenna. Dieser Satz zeigt deinen iQ!
Jenson lächelte nur, als hätte er mit so einer Reaktion gerechnet und sagte dann, um sich schnell vom Glatteis wegzubewegen: "Wir haben nicht mehr viel Zeit, bis wir da sein müssen. Wir sollten und beeilen."
Ich nickte zustimmend und trank meinen Tee aus.
Kurze Zeit später saßen wir auch schon in Jensons Auto auf dem Weg nach Woking. Im Radio lief die ganze Zeit der Bericht über die Gasexplosion unter der Eaton Street. Irgendein Wohnungsbesitzer hatte den Gashahn nicht zugedreht und das ganze Gas war unter die Eaton geströmt und hatte sich dort zu einer Gaswolke geballt, die schließlich durch einen kleinen Funken zur Explosion gebracht worden war. Die gestern abgesperrten Bereiche waren wieder freigegeben worden.
"Glück gehabt", nuschelte ich. "Wenn du noch einmal bei mir übernachten hättest müssen, wäre Jessica wohl im Dreieck gesprungen."
"Das kannst du laut sagen", entgegnete Jenson düster.

Die Fahrt nach Woking verlief wie jede unserer Autofahrten- absolut schweigsam.
Der Weg durch das Foyer an Jensons Seite kam mir noch viel länger vor als sonst, als ob alle Leute mich noch mehr anstarrten als sonst.
Wirklich kein schönes Gefühl.
***
Kurz nach der Mittagspause bekamen wir überraschenden Besuch. Jenson, Sergio und ich hatten gerade die neuen Designs der Autos begutachtet, als Jessica durch die Tür stolziert kam. Ihr mörderischer Blick in meine Richtung versprach nichts Gutes.
"Sie macht dir eine Szene", flüsterte ich Jenson zu, der düster nickte. Ich kannte dieses divenhafte Gehabe noch aus der Schulzeit, wenn die Queens der High School wieder ihren Auftritt gehabt hatten.
"Jenson!", kreischte Jessica auch schon anklagend los, ohne sich darum zu kümmern, dass sich alle nach ihr umdrehten. "Du hast mich hintergegangen! Mit dieser kleinen Schlampe!"
Sergio warf Jessica nur einen zutiefst angewiderten Blick zu, und wandte ihr dann demonstrativ den Rücken zu.
"Jessica! Jetzt bleib mal am Boden der Tatsachen, ja? Ich habe bei Jenna übernachtet, weil ich nicht nach Hause konnte!"
Inzwischen hatte sich jeder Techniker in unsere Richtung gedreht.
"Du lügst doch immer wenn du den Mund aufmachst, Jenson! Du hast doch erst vorgestern noch behauptet, du magst Jenna gar nicht, und sie ist dir egal."
Bitte was? Vorgestern war Sonntag gewesen. Das hieß, er hatte dies zu Jessica nach unserem Tag in der Stadt gesagt. Das hieß, dieser Typ hatte mich verdammt noch mal ziemlich belogen! Auch Jenson schien seinen Fehler zu bemerken.
"Jenna, nein! Es ist nicht so wie sie sagt!"
"Und wieder lügt er", erwiderte Jessica, beinahe gelangweilt.
Jenson wollte mich am Arm festhalten, doch ich wich ihm aus und rannte aus der Garage. Hinter mir begann Jessica irgendeine Beschimpfung auf Jenson zu brüllen, doch ich hörte nichts mehr.
Das einige, dass ich noch hörte, war das stumpfe Geräusch meiner Stiefel am Boden des Gangs. Ich kam zum Fahrstuhl und drückte dort auf den Knopf, um ihn zu rufen. Tränen brannten in meinen Augen, doch ich zwang mich, sie zurückzuhalten.
Ich würde nicht heulen, nicht wegen ihm! Warum kam dieser blöde Lift nicht einfach? Schritte hallten im Gang hinter mir. Schnelle Schritte.
"Jenna, bitte, warte!", rief Jenson mir verzweifelt zu.
"Lass mich in Ruhe, du Idiot!" Ich wollte mich von ihm wegdrehen, ihn wegschubsen, doch er war stärker als ich.
"Jenna, bitte lass mich erklären."
"Ich glaube deine Lügen nicht, du -" Ich ließ ein Schimpftirade gegen ihn los, jedoch wurde ich von ihm unterbrochen. Doch nicht mit Worten, sondern mit einem Kuss.
Er hatte mich an sich gezogen, und sich zu mir hinuntergebeugt, bevor er mich auf die Lippen küsste.
Es war ein verzweifelter Kuss, voller Wut und Schmerz, und doch der beste den ich je gehabt hatte.
Seine Lippen schmeckten nach Einsamkeit, und obwohl ich nicht wollte, erwiderte ich den Kuss. Sein Mund presste sich so hart und wild auf meinen, sodass mir unwillkürlich ein kehliger Laut der Überraschung entschlüpfte.
Jenson vergrub seine Hände in meinen Locken, während ich mich an seinen Oberarmen festkrallte. Ich legte so viel meiner verletzen Gefühle wie nur möglich in diesen einen Kuss, und Jenson erwiderte ihn mit einer solchen Leidenschaft, das es beinahe körperlich wehtat. Aber eben nur beinahe.
Dieser Kuss würde vielleicht der einzige sein, den wir jemals haben würden, also genoss ich jede einzelne Sekunde.
Schließlich lösten wir und voneinander und starrten und mit einer Mischung aus Entsetzten und Verlangen an. Jensons Wangen waren gerötet, und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass ich auch so aussah.
"Jenson...", wisperte ich. "Ich kann nicht, ich kann nicht so mit dir zusammen sein, ohne mich umzubringen." Er erwiderte meinen Blick, verletzt und zurückgestoßen.
"Du hast recht, Jenna."
Und dann ließ er mich einfach stehen.

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