Kapitel 45

330 13 3
                                    

Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Starre in das unschuldige Gesicht meiner kleinen Schwester.
Doch aus irgendeinem Grund, ist dieses kleine Wesen aus meiner Erinnerung, nicht mehr so klein und unschuldig, wie ich sie habe sterben sehen.
Vor mir steht eine erwachsene Frau, aber eindeutig mit dem Gesicht von Emilia.
Ihre unverkennbaren dunklen Augen mustern mich und ihre langen braunen Haare, sind zu einem Zopf geflochten, wie ich ihr ihn früher immer am Morgen gemacht habe.

"Du...du bist tot", wiederhole ich erneut mit zittriger Stimme. Es ist nicht möglich das sie noch lebt. Ihr ganzer Körper wurde in Fetzen gerissen. Von ihr blieb nichts mehr übrig und jetzt soll sie über tausend Jahre später, einfach so quick lebendig vor mir stehen, als ob nie etwas gewesen wäre?
Ich bin eine paranoide Bitch, die sich definitiv nicht manipulieren lässt.

Das hier ist vermutlich nur ein dummes Hirngespinst, oder eine Folge meines Todes. Vielleicht liege ich erneut im Sterben oder wurde von Joran geschnappt und kanalisiert.

Alles Möglichkeiten, die mir alle weitaus wahrscheinlicher vorkommen, als das meine tote kleine Schwester vor mir steht.
"Nein Alex, ich lebe. Ich bin es wirklich", ihre Stimme klingt sanft und beruhigend. Trotzdem traue ich der Sache nicht und schon gar nicht ihr.
Ich stehe einfach nicht darauf, dass man in meinem Kopf herum fuscht.

Ein kurzes verzweifeltes aber panisches Lachen entfährt mir. "Ja genau", schnaube ich verächtlich.
"Du bist eher eine sehr reale Projektion meines Verstandes... mehr nicht", knurre ich und packe sie im nächsten Moment und drücke sie über den Rand des Daches.
Am liebsten würde ich los lassen. Sie würde wirklich sehr tief fallen.
Mal sehen, ob sie dann noch munter genug ist, um mir so eine Scheiße zu erzählen.

"Wer bist du?", knurre ich erneut. Mein Blick wandert langsam zu meinen Händen, die an ihrem Kragen ruhen, aber anfangen zu zittern.
Ich spüre deutlich wie ich die Kontrolle verliere und sich das Monster, welches durchaus sehr wütend ist, an die Oberfläche kämpft.
Langsam treten meine Reißzähne hervor. Am liebsten würde ich sie in ihrer warmen Hauptschlagader versenken und ihr köstliches warmes Blut schmecken. Es würde meinen Magen füllen und meine Sinne vernebeln. Gut möglich, dass ich dann aber nicht mehr aufhören würde. Wäre sie leer, würde ich mir den nächsten suchen und dann den nächsten und den nächsten. Das würde kein Ende nehmen.
Ich würde jeden Menschen töten, nicht nur um deren Blut zu trinken, sondern auch zu meiner Belustigung.
Jeden, der dumm genug ist, sich mir in den Weg zu stellen.

"Alexandria. Ich bin Emilia... ich bin deine Schwester, niemand sonst weiß, dass du dich nachts mit Kol davongeschlichen hast, um mit ihm zum See zu verschwinden. Das du ihn mehr geliebt hast, als irgendjemand sonst. Das Mutter dich gehasst hat, weil du niemanden heiraten wolltest. Weil du Kol wolltest, er aber jemand anderem versprochen war, genauso wie du", beginnt sie zu erzählen.

Sofort blitzen Erinnerungsfetzen in meinem Kopf auf. Mein Griff um ihren Kragen lockert sich ein wenig. "Als ich starb, waren wir zu spät dran. Die Werwölfe waren schneller als wir. Kol hat dein Leben gerettet..." - "... und hat dich sterben lassen", vollende ich ihren Satz. "Wie ist das passiert? Wie kannst du jetzt am Leben sein?"
Meine Skepsis ist mir wohl ins Gesicht geschrieben, ihrem Blick nach zu urteilen.
Ich traue ihr immer noch nicht.
Behutsam schiebt sie meine Hände von ihrem Körper und rückt sich ihre Jacke zurecht.
Es ist wohl wirklich kalt geworden in der Zwischenzeit. Die Sonne ist letztendlich hinter dem Horizont verschwunden und die wundervolle Nacht bricht herein.

Durch den Schock, den ich die letzten Minuten durchmachen musste und auch noch weiter durchmachen werde, denn so eine angespannte Situation ist nicht zu verachten, werde ich wohl verrückt werden.
Endgültig.
Obwohl ich auch am Leben bin, nach über tausend Jahren. Dennoch ist es für mich unvorstellbar, dass sie ebenfalls lebt.
Lange habe ich dafür gebraucht, mich mit der Tatsache abzufinden das sie tot ist und jetzt steht sie vor mir.
Lebendig, als ob nie etwas gewesen wäre.
Und all die Jahre habe ich mich mit Schuldgefühlen geplagt.
Wenn ich sie so ansehe, ist sie glaube ich sogar älter als ich. Zumindest ihr Körper sieht älter aus, als meiner.
Super.
Meine kleine Schwester ist älter als ich, was den Körper betrifft. Und ich sehe nach wie vor aus wie einundzwanzig. Karma oder wie?

"Als ich gestorben bin, habe ich ebenfalls gedacht, dass es vorbei wäre. Doch das war es nicht. Ich wurde zurück geschickt um etwas zu vollenden. Meine Ausbildung hat lange gedauert, aber nun bin ich bereit und hoffe, dass du an meiner Seite sein wirst...", erklärt sie langsam.

Ich ziehe ausdrucklos eine Augenbraue nach oben und verschränke automatisch meine Arme vor meiner Brust. Sie hat wohl nicht viel Erfahrung mit anderen Menschen gemacht. Wenn man einen Plan hat, kommt man nicht einfach daher spaziert und tischt einem solch eine Situation auf.
Schon gar nicht wenn man tot sein sollte, aber man zurück gebracht wurde, weil man etwas beenden möchte.
Das klingt schon nach Verderben und Rache.

"Wer hat dich zurückgeholt und was für eine Ausbildung war das und vor allem, was hast du vor? Und wieso zum Teufel konntest du dich nicht mal melden, wenn du am Leben warst?", herrsche ich sie schließlich an.
Mir brausen noch mehr Fragen durch den Kopf, aber das sind bisher die wichtigsten. Darauf will ich Antworten. Und die am besten sofort.
Ich bin schon immer ungeduldig gewesen.

Würde ich sie jetzt töten, würde es niemand mitbekommen, wir sind schließlich alleine, doch dann würde sie mir keine Fragen beantworten. Andererseits, könnte sie auch lügen...
Und ich frage mich, wie sie mich verdammt nochmal gefunden hat.

"Hier ist es nicht sicher, Alex. Ich werde es dir genauer erklären, aber wir müssen irgendwohin. Irgendwo, wo es sicher ist und uns niemand stört" Ihre Stimme klingt flehend.
"Von mir aus", brumme ich zähneknirschend, bevor ich mich auf dem Absatz umdrehe und losmarschiere.
Kaleb wird mir einiges erklären müssen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er weiß was vor sich geht. Oder zumindest kann er mir erklären was ich davon halten soll. Zumal ich die Befürchtung habe, dass es irgendwas mit Magie zu tun haben muss.
Ich vertraue da in der Hinsicht Kaleb mehr, als Emilia.
Falls sie es wirklich ist. Das wird sich noch herausstellen.

Aber so ein Zauber, der jemanden von den Toten zurückholt, fordert ein großes Opfer.
Schließlich sind wir so zu den Urvampiren geworden.
Der Vampirismus war die Nebenwirkung, dafür, dass wir vom Tod zurück gekommen sind. Und noch einige andere tolle Fähigkeiten bekommen sollten.
Also, wo ist ihr Opfer?
Irgendjemand muss das für mich herausfinden.

Während sie mir brav hinterherläuft, schreibe ich unauffällig eine SMS an Kol. Er muss Nachforschungen anstellen.
Ich vertraue keinen Fremden. Schon gar nicht in solch einer Situation. Dabei würde ich ihr noch zutrauen, dass sie mir gleich ein Messer in den Rücken rammt.
Vielleicht ein magisches Messer, welches mich töten könnte.
Soll sie es versuchen. Ich bitte sie insgeheim darum. Irgendwie bin ich es leid.
Das kann man dich verstehen oder? Das ich einfach nur noch meine Ruhe vor dem ganzen Drama will. Das sie sich mal jemanden anderes heraussuchen sollen.

Über meine Gedanken, kann ich nur den Kopf schütteln.
Was wäre, wenn genau sie es ist, die ich hier finden sollte?
Wenn Esther sie fürchtet? Sie könnte eventuell der Schlüssel zu dem ganzen Schlamassel sein. Und ich lasse mich weiter mit hinein ziehen, obwohl ich schon Knie tief in der Scheisse stecke.
Ein Krieg mit Joran. Ein Komplott mit Esther, eine Dunkelheit die uns vernichten will, jetzt sie...

Langsam gehe ich die knirschenden Treppenstufen hinauf, zu dem alten Apartment von Kaleb, bevor ich die Tür öffne.
"Einige Regeln, bevor wir da rein gehen..."
Ich drehe mich zu ihr um. Kalt sehe ich sie an.
"Du spielst ab sofort nach meinen Regeln. Du tust was ich dir sage, wenn ich es dir sage. Du sagst mir nur die Wahrheit, ich bekomme es so oder so mit, wenn du lügst... und wenn du denkst, du kannst mich verarschen, oder hintergehen, werde ich dich Stück für Stück auseinander nehmen... und dann würdest du dir Wünschen, dass du tot geblieben wärst...", stelle ich klar. Sie scheint nicht wirklich beeindruckt zu sein. Ich ernte nur ein knappes Nicken, als Zeichen dafür, dass sie verstanden hat.

Na schön. Sollen die Spiele beginnen.
Ich bin gespannt wer gewinnt, denn ich habe nicht vor zu verlieren.

Alexandria Petrova - The OriginalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt