⟢ 𝐈𝐕 ⟣

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Eine männliche Stimme aus den Boxen über unseren Köpfen unterbricht das eintönige Dröhnen des Fliegers. Mit müden Augen schaue ich von meinem Buch auf, und blicke geradewegs auf die, in diesem Moment untergehende Sonne. Sie verwandelt den Horizont in ein unrealistisches Farbenspiel. Man kann kaum erkennen, wo der wolkenlose Himmel und das Meer sich trennen. Die Grenzen verschwimmen und vermischen sich mit einander. Der Himmel ein Naturschauspiel vom Feinsten, und das Meer ein Spiegel dessen. Wunderschön und eindrucksvoll.

Atemlos schaue ich zu, wie die Sonne langsam immer tiefer sinkt, bald nur noch halb zusehen ist, und schon in wenigen Minuten diesen Tag als beendet zeichnet und somit die Nacht einläutet. Und auf diese Nacht folgt ein neuer Tag. Ein neuer Morgen. Ein Neuanfang.

Ich bin nicht die einzige, die diesen besonderen Ausblick genießt. Im ganzen Flugzeug drehen sich die Menschen, um den Tagesabschluss mal aus einer etwas anderen Perspektive zu sehen. Einige halten ihre Handys dicht an die Scheiben und versuchen den Moment so einzufangen. Mühsam widerstehe ich dem Drang, mein Handy heraus zu kramen und es ihnen gleich zu tun. Stattdessen lehne ich mich gemütlich nach hinten in den bequemen Sitz, und lasse es einfach nur auf mich wirken.

Das Meer liegt tief unter uns, wird jede Sekunde eine Nuance dunkler und scheint wie eine Ebene. Von hier oben, einige Kilometer entfernt, sieht man kaum, wie unruhig und stürmisch es jetzt eigentlich sein müsste. Der Wind pfeift um das Flugzeug und bereitet dem Pilot eindeutig ein paar mehr Schwierigkeiten als gewöhnlich.

Kinderlachen ertönt laut von der Seite. Lächelnd schaue ich mich nach dem Ursprung davon um. Schnell finde ich, was ich gesucht habe.
Das kleine Mädchen aus meiner Reihe staunt mit leuchtenden Augen über das Kunstwerk am Himmelszelt. Die Faszination steht ihr ins kindliche Gesicht geschrieben. Schnell lehne ich mich zurück und mache so das ganze, sowieso schon sehr kleine Fenster frei.

„Danke!"

Verwundert schaue ich den jungen Mann an, auf dessen Schoß die Kleine sitzt. In seinen Augen spiegeln sich die gleichen Emotionen, wie in denen des Mädchens wieder, zusammen mit dem Sonnenuntergang. Sein Gesicht bleibt unverändert. Emotionslos.
Aber seine Augen zeigen, was er fühlt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ihm wurde verboten Gefühle zu zeigen, aber seine Augen gewähren einen Blick in sein Innerstes.

Das war ja schon immer meine Theorie.
Egal, wie sehr ein Mensch versucht sich zu verstellen, etwas zu verstecken, oder keine Emotionen zu zeigen, seine Augen verraten, wer er wirklich ist, was er versteckt, und wie er fühlt. Man muss nur drauf achten. Manche beherrschen das vollständig Verstecken ihrer selbst so gut, dass nur die engsten Vertrauten solche Dinge bemerken. Manchmal sind allerdings die Dinge, die im inneren Vorgehen, so plötzlich, neu und unvorhergesehen, dass der Mensch gar keine Chance hat, sie rechtzeitig zu verstecken.

Bei meinem Sitznachbarn scheint genau dies jetzt der Fall zu sein.

Seine Augen haben etwas geheimnisvolles an sich. Etwas das ich nicht verstehe. Ein Rätsel, das gelöst werden möchte. Das Rätsel hält mich. Sie fesseln mich. Lassen mich nicht gehen.
Wahrscheinlich werde ich sie nie vergessen. Das Rätsel hinter ihnen nie lösen, und nie die ganzen Gefühle dieses Mannes sehen, sondern nur diesen kleinen Einblick, den er mir ungewollt gegeben hat.

Gebannt beobachte ich kurz die Regungen in dem Grün, bis plötzlich nichts mehr da ist.

Er hat sich wieder gefangen, verschlossen und mich ausgesperrt.

Mit einem komischen Gefühl mustere ich ihn.

Er ist hübsch. Schöne Augen. Definierte Konturen. Volle Lippen. Gerade Nase. Auffällige Wangenknochen, Kiefer und Kinn. Glatte, gebräunte und leicht gerötete Haut. Seine braunen Haare stehen verwuschelt ab. Anscheinend konnte er, im Gegensatz zu mir, den Flug über irgendwann mal schlafen.
Etwas worum ich ihn sehr beneide.

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