Kapitel 22

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,,Nun, wer ist es?", will ich endlich wissen. ,,Sein Name ist Neoh Collins.", antwortet Lucious. Bei dem Namen 'Collins' bleibt mein Herz kurz stehen.  Bilder von der Ernte kommen in meinen Kopf. Der Lostopf, mit dem Namen meines Bruders auf einem Zettel. Levi, der sich freiwillig für ihn meldet, ohne jeglichen Grund, wie ich damals dachte. Seine leicht zitternde Stimme, die seinen Namen laut verkündigen lässt. ,,Jane!", versucht Lucious Stimme zu mir hindurch zu dringen. Doch mein Kopf fühlt sich schon wieder so zugedröhnt an. Ich spüre, dass er mich versucht aus dieser Gedankenwelt zurück zu holen, doch mein Kopf lässt sich nicht beeinflussen. Das meinten die Wissenschaftler aus dem Kapitol also damit, dass ich auch ein jämmerliches Wrack werde, wie alle anderen. Kurz darauf ist es vorbei. Mir wird schwarz vor Augen und die Bilder verschwinden.
Mit leichten Kopfschmerzen wache ich auf. Ich liege wieder im Gästezimmer, als hätte ich alles nur geträumt. Vielleicht war es auch so. Ich sehe hinüber zum Nachttisch, auf dem diesmal keine Spritzen liegen. Entweder hat sie jemand weggeräumt oder ich habe mir das alles nur im Traum vorgestellt. Langsam stehe ich auf und laufe hinüber zur Tür. Ich trage die gleichen Sachen wie in meinem vermutlichen Traum. Langsam gehe ich den Gang entlang und halte nach irgendwelchen Personen Ausschau. Dann vernehme ich plötzlich die hohe Stimme Saphira's, die sich über irgendwas beschwert. Ich gehe in die Richtung, aus der die nervige Stimme kommt. Ich blicke um die Ecke der Tür und sehe Enzo und Lucious an einem Tisch sitzen. Saphira steht neben Lucious und hält ihm eine ordentliche Standpauke. Dieser trinkt ganz gemütlich eine Tasse Tee und es scheint so, als würde er ihr nicht ansatzweise zuhören. Dann entdeckt er mich schlagartig am Türrahmen. ,,Jane, komm doch zu uns.", ruft Lucious und winkt mich herüber. ,,Und hast du dir alles nochmal gut überlegt? Wegen dem Plan mit Snow?", fragt er spitz. ,,Ich werde mich eurem Plan anschließen unter einer Bedingung. Wir werden jetzt sofort Neoh aufsuchen, damit ich mit ihm reden kann.", antworte ich. Alle drei sehen mich völlig verwirrt an. Saphira's Blick schweift schnell wieder zurück zu Lucious. ,,Du hast ihr von ihm erzählt?! Ich habe noch nie so eine verantwortungslose Person getroffen wie dich!", merkt sie an. Lucious schenkt ihr keinerlei Beachtung und starrt in seine Tasse. An seinem Blick erkenne ich, dass er überlegt, ob er mein Angebot annehmen soll oder nicht. ,,Einverstanden.", sagt er plötzlich. Saphira's Augen weiten sich, sie schnappt wild nach Luft und startet eine erneute Diskussion: ,,Bist du von allen guten Geistern verlassen!?", brüllt sie und fuchtelt mit den Armen in der Luft herum. ,,Reg' dich ab.", sagt er ruhig. ,,Ich denke mal, sie hat genug durchgemacht, um selbst zu entscheiden, was sie möchte und was nicht.", erklärt Lucious ruhig. Enzo scheint sich völlig aus dem Gespräch halten zu wollen, denn er trinkt entspannt seinen Tee und begutachtet das Theater, welches sich vor ihm abspielt.
,,Von mir aus.", zischt Saphira ,,Lass' sie sich mit ihm treffen. Du wirst der sein, der sie aus der Katastrophe retten wird."
,,Die einzige, die gerettet werden muss, bist du, meine Gute.", meint Lucious zu ihr und schaut nun von ihr zu mir. ,,Komm' Jane. Dann gehen wir mal." Er läuft voran in Richtung der Eingangstür und lässt Enzo und Saphira hinter sich. Ohne den beiden nochmal einen Blick zu schenken, gehe ich ihn nach und schnell sind Lucious und ich aus dem Haus verschwunden.
Wir laufen bereits seit einer ganzen Weile durch die breiten Gassen von Distrikt 2. Seitdem wir aus dem Haus gegangen sind, haben wir nicht ein Wort gewechselt. ,,Lucious?"
Er nickt leicht. ,,Wo genau gehen wir nun eigentlich hin?", will ich wissen. ,,Du wolltest doch Neoh treffen, nicht?", erfragt er. ,,Ja schon, aber du könntest mir schon verraten, wo er sich im Moment aufhält.", antworte ich. Lucious deutet mir mit einem ernsten Blick zur Seite an, dass ich jetzt lieber still sein sollte.
Wir laufen noch eine ganze Weile durch Distrikt 2 und es fühlt sich so an, als würden wir ganz Panem
durchqueren. Irgendwann steuert Lucious zielstrebig auf ein großes graues Haus zu und bleibt kurz vor der Eingangstür stehen. Nach einem kurzen Seitenblick zu mir, betätigt er den Knopf neben neben dem Türrahmen. ,,Ja?", erklingt plötzlich eine tiefe Stimme aus dem Apparat. ,,Wir möchten zu Neoh Collins.", sagt Lucious. ,,Ihr Name?", will die Person hinter der anderen Leitung wissen. ,,Lucious Sheffield.", antwortet er.
,,Sheffield also.", murmelt die Stimme.  Danach erklingt ein hoher Ton und die Tür springt ruckartig auf. Lucious geht voran und betritt das Foyer. Unsicher folge ich ihm. Uns kommt ein Mann im schwarzen Anzug entgegen. ,,Folgen Sie mir doch bitte.", meint er und läuft davon. Nach einigen Schritten deutet er auf eine nach unten führende Treppe. ,,Einfach gerade aus laufen bis zum letzten Zimmer.", erklärt er. Lucious nimmt die Sache anscheinend nicht halb so ernst wie ich. Mir kommt es vor wie eine Irrenanstalt oder ein Gefängnis. Lucious läuft die Treppe hinunter und  wartet am Ende der Stufen auf mich. ,,Kommst du endlich?", murrt er. Ich gehe ihm nach bis wir am Ende angekommen sind. Links und rechts in dem Gang waren vergitterte Türen mit kleinen Schlitzen. Langsam bin ich mir sogar sicher, dass das ein Gefängnis ist. Während ich am Überlegen bin, ob ich Lucious darauf ansprechen sollte oder nicht, merke ich gar nicht, dass wir bereits am Ende des Ganges angekommen sind. ,,Lucious, ich fühle mich hier echt unwohl. Was ist das hier?", frage ich ihn. Er ignoriert mich absichtlich und kramt wie verrückt in seinen Jackentaschen herum, bis er plötzlich einen Schlüsselbund hervor holt. Als er den richtigen Schlüssel gefunden hatte, steckt er ihn in das Schloss an der Tür und entsperrt diese. Auf den ersten Blick erkenne ich bloß eine wandgroße Glasscheibe, die den Raum trennt. Hinter der Scheibe befinden sich ein paar Möbelstücke, wie eine Matraze auf dem Boden und ein Stuhl aus Holz. Lucious sagt mir mit einer Handbewegung, dass ich das Zimmer betreten soll. Erst nachdem ich das tat, sah ich erst das, warum wir eigenlich herkommen waren. Auf einem weiteren Holzstuhl in einer Ecke des Raumes, die man erst sehen konnte, wenn man den Raum betrat, saß eine Person. Erneute  Schnappatmungen ergreifen mich und ich stolpere einige Schritte zurück. Lucious fängt mich ab, bevor ich gegen die Wand fallen konnte.
,,Beruhige dich! Das ist nicht er!", versucht Lucious mir zu erklären. Dann packt er mich schnell an der Schulter und zieht mich zurück hinaus in den Gang. ,,Gut, Jane. Der Junge, den du gesehen hast, ist nicht Levi! Das ist Neoh, sein Zwilling. Verstehst du?", sagt er. ,,Was ist das hier?", will ich wissen. ,,Nur ein kleines Gebäude für Leute, die versucht haben in die anderen Distrikte vorzudringen.", meint er. ,,Bist du nun wieder in der Lage, um zurück in das Zimmer zu gehen?", fragt er mich. Ich nicke leicht als Antwort auf seine Frage. Lucious kehrt in den Raum zurück und ich folge ihm langsam. Das ist nicht er, versuche ich mir ständig einzureden. Als ich das Zimmer betrete, sehe ich, dass Lucious eben dabei ist Neoh aufzuwecken, indem er gegen die Glasscheibe klopft. Man kann es sich ungefähr so vorstellen, wie wenn ein kleines Kind an ein Aquarium mit bunten Fischen hämmert.
Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob Neoh überhaupt schläft. Er sitzt auf dem Holz und sein Kopf ist nach unten gesenkt. Dann bemerke ich, dass er seine Augen geöffnet hat. Sein Blick geht direkt hinüber zu Lucious, welcher immer noch stetig gegen die Scheibe pocht. Dann springt er plötzlich von seinem Stuhl auf und klatscht seine Hände gegen die Glasscheibe. ,,REICHT DANN AUCH MAL!", brüllt Neoh. ,,Hab mich schon gefragt wann du kommst, Sheffield.", fügt er hinzu. ,,Setz' dich Neoh.", antwortet Lucious und kommt dann auf mich zurück: ,,Das ist-, ,,Jane Odair.", beendet Neoh seinen Satz. ,,Komm' doch zu uns.", meint Lucious, da ich immer noch im Türrahmen stehe. Daraufhin gehe ich zu ihnen hinüber und knie mich hin, um Neoh direkt ins Gesicht sehen zu können. Er sieht wirklich haargenau so aus wie Levi. Das haben Zwillinge ja so an sich. Man könnte glatt vermuten, dass es schon wieder eine elende Simulation des Kapitols sei.
Er starrt mir direkt in die Augen, als versuche er meine Gedanken damit zu lesen. ,,Neoh, ich erkläre dir jetzt wie wir weiterhin vorgehen werden. Also-," Neoh unterbricht ihn: ,,Ich kann's mir denken, Sheffield. Die Kleine möchte zurück nach Distrikt 4, warum auch immer, und ich soll euch dabei helfen. Stimmt's oder hab ich Recht?", meint er. ,,Kannst du bitte aufhören, mich dauernd zu unterbrechen?", fragt Lucious gereizt. ,,Kein Problem. Holt mich hier raus und ab nach Distrikt 4.", sagt er freudestrahlend. Bis jetzt hat er noch kein einziges Mal von mir abgesehen, während er sich mit Lucious unterhalten hat. ,,Ganz so einfach ist das nicht. Es dauert wohl noch einige Tage, bis ich die Leute hier überzeugt habe, damit sie dich gehen lassen.", erklärt Lucious. ,,Einige Tage?", frage ich entsetzt und sehe nun zu Lucious. ,,Nun ja, hier läuft alles sehr viel strenger ab, als bei uns. Hier leben wahrscheinlich mehr Friedenswächter als eigentliche Einwohner.", antwortet er. ,,Zudem war Neoh auch nicht sonderlich angenehm, während seines Aufenthalts hier.", fügt er hinzu. ,,Ach,  schlag' doch einfach die Scheibe hier ein und ich bring mich selbst aus dem Gebäude. Ich werde sicher nicht noch einige Tage darauf warten, dass du mit den Leuten hier Tee trinkst und darüber verhandelst, wann die mich gehen lassen.", protestiert Neoh. Die Scheibe einschlagen.., wiederholt eine Stimme in meinem Kopf. ,,Übe dich in Geduld. Das ganze Gebäude ist förmlich mit Friedenswächtern umzingelt. Du glaubst doch selbst nicht, dass du es so einfach hier weg schaffst.", sagt Lucious und lacht. Jane, jetzt schlag das Glas ein, dröhnt die Stimme wieder. ,,Und Jane? Was meinst du, sollten wir tun?", fragt Neoh mich plötzlich und weckt mich aus meiner Starre. ,,Fliehen?", antworte ich. Das war das erste, was mir in den Kopf kam und ich dachte nicht einmal darüber nach, was es in dem Zusammenhang bedeutet. ,,Fall mir noch in den Rücken. Danke!", murrt Lucious. ,,Ich meine ja nur. Ich möchte nämlich keine Woche warten, bis die ihn freilassen.", erkläre ich und sehe dann leicht flehend zu Lucious. Das ist zwar sonst nicht meine Art, aber vielleicht bringt es ja etwas. An seinem Blick erkenne ich, dass er gerade darüber nachdenkt, ob die positiven oder die negativen Aspekte in dem Plan überwiegen. ,,Schhh Jane.", zischt Neoh plötzlich. Ruckartig ist meine Aufmerksamkeit bei ihm. ,,Befrei' mich einfach heute Nacht. Komm allein.", flüstert er. Ohne groß darüber nachzudenken, stimme ich zu. Das wäre ohnehin meine zweite Wahl gewesen.
,,Ich hab mich entschieden.", meint Lucious plötzlich. ,,Ich werde mit den Leuten hier verhandeln und versuche dich so schnell wie möglich zu befreien." ,,Passt schon.", antwortet Neoh und fängt an zu grinsen. Auch dabei schaut er nicht zu Lucious auf, sondern zu mir. ,,Ich werde mich jetzt sofort mit jemanden in Verbindung setzen und sehen was ich machen kann. Kommst du, Jane?", fragt Lucious. Ich gebe ihm keine explizite Antwort, doch erhebe mich und folge ihm nach draußen in den Gang. Lucious verschließt die Tür zu Neoh's Raum. ,,Denk' nicht mal daran irgendwas unüberlegtes zu versuchen.", vermeldet er auf einmal. ,,Hatte ich nicht vor.", antworte ich bloß. ,,Na das will ich mal hoffen.", sagt er schroff und läuft, mit den Schlüsseln in seiner Hand klappernd, an mir vorbei zurück zur Ausgangstreppe des Ganges.

Die 90. Hungerspiele- Rückkehr eines OdairsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt