Julien's Sicht
Mein Kopf dröhnte. Das schrille Klingeln meines Weckers wurde immer aggressiver, je länger ich ihn schellen ließ. Ich tastete mit zusammengekniffenen Augen nach dem Ausschalter. Als er endlich verstummte ließ ich mich erschöpft zurück in mein Kissen fallen. Was war das für ein Traum? Schon bei dem Gedanken daran wurde mir unwohl. Ein Blick auf meinen Wecker zeigte jedoch, dass ich schon vor einer halben Stunde hätte aufstehen müssen. Dann musste ich das Frühstück eben ausfallen lassen. Mir war eh schlecht.
Schwankend stand ich auf und schlurfte ins Bad. Obwohl ich wusste, dass es bloß ein Traum war, war ich doch etwas erleichtert, als ich im Spiegel sah, dass ich noch beide Augen besaß. Dafür wurden die riesigen dunklen Ringe von meinem blassen Gesicht hervorgehoben. Ich beugte mich über das Waschbecken und spritzte mir eine handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Es half ein wenig und danach fühlte ich mich etwas wacher.
Ich hoffte, dass Gio mich verarscht hatte, denn so konnte ich keine vernünftige Klausur schreiben. Noch während ich dies dachte spürte ich den Drang mich zu übergeben. Gerade noch rechtzeitig erreichte ich die Toilette. Glücklicherweise hatte ich seit gestern mittag nichts mehr gegessen, so dass nur Galle rauskam.
"Julien? Bist du da drin? Geht es dir gut?", hörte ich die Stimme meiner Mutter durch die Badezimmertür. Ich konnte nicht antworten, da sich genau in diesem Moment ein weiterer Teil meines Mageninhaltes in die Kloschüssel entleerte. Die Tür öffnete sich knarrend und meine Mutter betrat den Raum. "Du bist ja kreidebleich! Geh wieder ins Bett. Du bleibst heute zu Hause.", verkündete sie, nachdem sie mich erblickte.
"Ich kann heute nicht fehlen. Ich hab heute eine Klausur.", protestierte ich. Normalerweise störte mich das nicht. Leider hatte ich dieses Jahr schon genug unentschuldigte Fehlstunden gesammelt, wenn ich dann auch noch eine Klausur schwänzte wäre ich nicht überrascht wenn ich das Jahr wiederholen müsste. "Mach dir keine Sorgen. Ich ruf in der Schule an und besorg dir ein Attest. Jetzt geh schnell wieder ins Bett."
Wortlos ging ich zurück in mein Zimmer und kroch unter meine Decke. Meine Mutter kam kurze Zeit später noch einmal rein um mir zu sagen, dass sie zur Arbeit fuhr und Mika mitnahm, damit ich ungestört war. Ich glitt in einen tiefen, Gott sei Dank traumlosen Schlaf.
Als ich zum zweiten Mal heute aufwachte ging es mir schon viel besser. Meine Kopfschmerzen, sowie die Übelkeit waren weg. Ich griff nach meinem Handy. Ich hatte 5 verpasste Anrufe. 3 davon waren von Mia, doch ich hatte überhaupt keinen Bock auf noch eine Unterhaltung mit ihr. Die anderen 2 waren von Gio. Ich konnte mir denken was er wollte, denn er hatte mich auf sowohl WhatsApp als auch Insta und Facebook gefragt wo ich war. Ich beschloss ihm später zu antworten.
Zuerst ging ich duschen. Danach ging ich runter in die Küche und machte mir einen Toast. Während ich aß dachte ich darüber nach, was ich jetzt machen sollte. Ich hasste Schule. Die Lehrer waren Hurensöhne und fast alle meiner Mitschüler waren Missgeburten. Aber irgendwie hatte ich keinen Bock darauf den ganzen Tag nur rumzusitzen. Es war mittlerweile 11 Uhr.
Ich fragte mich, ob Dima wohl schon wach war. Ich öffnete WhatsApp und suchte nach seiner Nummer. Sein Profilbild war ein Foto von ihm und einem Typen, der ihm erstaunlich ähnlich sah. Ich überlegte was ich schreiben sollte. Letztendlich entschied ich mich für ein einfaches 'Hey'.
Lange musste ich nicht auf eine Antwort warten. Beinahe sofort war er online und am schreiben. Als hätte er darauf gewartet.
'Hi' gefolgt von einem 'Hast du keine Schule?'
Das sagte der Richtige. Ich hatte ihn noch nie in die Schule gehen, geschweige denn das Haus verlassen gesehen. Vor Gestern wusste ich nicht einmal, dass er existierte.
'Hab heute morgen gekotzt. Hast du Bock rüber zu kommen?', versuchte ich unser Gespräch zu beschleunigen. 'Mika ist auch nicht da', fügte ich noch schnell hinzu.
'Ich frag mal eben', kam seine Antwort.
Ich wartete 5 Minuten in denen ich meinen Teller in die Spülmaschine stellte und mir eine Flasche Wasser nahm. Als ich wieder am Tisch saß hatte Dima mir geschrieben. 'Ist okay. Ich komm jetzt rüber'
Ich hatte kaum die Nachricht gelesen, da klingelte es schon an der Tür. Ich stand auf und öffnete sie. Dima hatte, genau wie ich, eine Jogginghose und einen Pulli an. Er sah genauso aus wie gestern. Abgesehen von der lila-gelben Verfärbung und Schwellung an seiner Wange. Ich wusste nicht, ob ich ihn darauf ansprechen sollte oder nicht, also ließ ich ihn einfach rein.
"Möchtest du was trinken?", fragte ich, um die Stille zu durchbrechen. Dima schüttelte den Kopf "Nein, Danke." Wir setzten uns ins Wohnzimmer und ich überlegte, was wir machen könnten. Am liebsten hätte ich gefragt, was es mit seinem blauen Auge auf sich hatte, aber Dima schien es zu ignorieren, also sagte ich nichts.
Schließlich entschieden wir uns dazu, auf meiner PS4 zu spielen. Ich versuchte Dima die Grundlagen der Steuerung beizubringen. Er war schlecht. Alle 5 Minuten fragte er mich um Hilfe und ich musste es ihm von vorne erklären. Es wunderte mich, dass er noch nie gespielt hatte. Aber vielleicht war er einfach nicht an Computerspielen interessiert.
3 Stunden und 16 Erklärungen später knurrte mein Magen. Dima sah zu mir rüber und begann zu lachen. "Halt die Fresse.", lachte ich. "Hast du auch Hunger?", fragte ich ihn und stand auf um unseren Kühlschrank zu plündern. Ich suchte nach den restlichen Pizzen, die ich gestern gekauft hatte. Aber wie sollte es auch anders sein, waren sie nicht mehr da.
Ich drehte mich zu Dima um. "Es ist nichts mehr da, wir müssen irgendwo essen gehen. Hast du Bock auf Döner?" Dima nickte und ich holte meine Jacke.
Der Dönerladen war ein paar Straßen entfernt. Den ganzen Weg über fragte ich Dima über seine Familie aus. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass er einige Dinge ausließ. Wenn ich nach seinen Eltern oder anderen Verwandten fragte lenkte er direkt ab. Stattdessen erzählte er von seinem Cousin und den anderen mit denen er zusammen wohnte.
Der kleine Laden war leer. Wir gingen zum Tresen um zu bestellen und setzten uns dann an einen Tisch in der hinteren Ecke. Während wir auf unser Essen warteten antwortete ich Gio. Jetzt wo Dima mir gegenüber saß, konnte ich nicht anders, als auf sein Veilchen zu starren. Er schien meinen Blick zu bemerken und runzelte fragend die Stirn. Ich beschloss ihn einfach zu fragen. "Was ist da eigentlich mit deinem Gesicht passiert?" Für einen kurzen Augenblick verzog er das Gesicht, als würde ihn die Erinnerung daran schmerzen. Dann war das leichte Grinsen wieder da.
"Eigentlich ist das voll peinlich.", begann er und ich sah ihn erwartungsvoll an. "Als ich gestern nach Hause gekommen bin hab ich geduscht und bin halt weggerutscht. Dann bin mit meinem Gesicht gegen das Waschbecken geknallt.", erzählte er, doch die Art wie er das sagte ließ mich an seiner Antwort zweifeln. Trotzdem lachte ich.
Unser Essen wurde gebracht und wir aßen erst einmal schweigend. Plötzlich vibrierte meine Handy. Es war eine Nachricht von Gio. 'Ich hab am Samstag Geburtstag. Hast du Bock zu kommen?'. Ich sah zu Dima rüber. 'Kann ich wen mitbringen?'.
'Ja klar. Wen denn?'.
'Kennst du nicht.'
'K'
Ich wendete mich wieder Dima zu. "Willst du mit auf den Geburtstag von meinem Freund gehen? Der ist am Samstag." Ich sah wie seine dunklen Augen aufleuchteten und er begeistert nickte. "Voll gerne. Danke."
Wir aßen noch zuende und gingen dann wieder nach Hause.
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Mach die Augen auf
Fanfiction"Schließe am letzten Tag jeden Monats deine Jalousien oder Vorhänge, bevor du schlafen gehst. Wenn du in der Nacht klopfende Geräusche an deinem Fenster hörst, öffne nicht deine Augen. Wenn du einer der Pechvögel bist, wirst du diesen Ton irgendwann...