Julien's Sicht
Am Samstagabend stand ich wie verabredet pünktlich um 18 Uhr auf der Straße vor Dima's Haus. Zumindest war das vor 40 Minuten so. Je länger ich hier draußen stand, desto genervter wurde ich. Am liebsten hätte ich schon vor einer halben Stunde geklingelt, aber Dima hatte mir mehrfach gesagt, dass er rechtzeitig rauskommen würde.
Ich zündete mir eine neue Kippe an. Wenn meine Mutter jetzt aus dem Fenster sehen würde, wäre ich am Arsch, doch mir war unfassbar langweilig. Ich überlegte gerade, ob ich Dima noch einmal schreiben sollte, da öffnete sich die Haustür. Dima rief noch irgendwas unverständliches ins Haus und sprintete dann zu mir rüber.
"Sorry, dass du warten musstest. Ich musste noch was erledigen.", entschuldigte er sich sofort. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, was er denn noch unbedingt erledigen musste, aber da ich endlich loswollte zuckte ich bloß mit den Schultern und wir gingen los.
Während wir schweigend die dunklen Straßen entlang liefen erwischte ich mich dabei wie ich immer wieder zu Dima hinüber sah. Im schwachen Licht der Straßenlaternen wirkte seine Haut beinahe weiß. Es war mir vorher noch nie aufgefallen, aber er war schon fast unnatürlich blass. Es konnte natürlich auch an dem schlechten Licht liegen,schließlich hatte ich ihn sonst immer nur tagsüber gesehen. Aber bei genauerem hinsehen fielen mir auch seine Augenringe auf. Sie waren stärker als sonst. Dafür war sein Auge deutlich besser. Die lila-blaue Verfärbung war nur noch ein gelblicher Schatten und die Schwellung war kaum bemerkbar.
Plötzlich drehte er sich zu mir. Seine Lippen zierte ein leichtes Lächeln,seine roten Augen funkeln ließ. Verdutzt blinzelte ich. Dima hatte braune Augen. Vielleicht hatten sie einen leichten Rotstich, aber die eigentliche Farbe war braun. Ich sah ihn wieder an. Das Lächeln war verschwunden, stattdessen blickte er mich verwundert an. "Alles okay?", fragte er mit gerunzelter Stirn.
"Jaja, alles gut." Seine Augen hatten wieder ihre normale Farbe. Dima sah mich weiterhin zweifelnd an. Wir gingen schweigend weiter. Ich spürte Dima's stechenden Blick auf mir.
"Was musstest du eigentlich noch machen?", durchbrach ich schlussendlich die unangenehme Stille. Jetzt war es Dima, der weg sah. Nachdenklich blickte er nach vorne ohne ein Wort von sich zu geben. Ich dachte schon er hätte mich vielleicht nicht richtig gehört da antwortete er.
"Was genau meinst du?", fragte er und sah ernsthaft verwirrt aus.
"Vorhin.Du meintest, dass du noch was erledigen musstest.", wiederholte ich, was er mir erzählt hatte.
"Achso ja. Ich musste nur was klären. Wo wohnt dein Freund eigentlich?",versuchte er sehr unauffällig das Thema zu wechseln.
"Ist nicht mehr weit."
Anscheinend wollte er es mir nicht sagen und wenn ich so darüber nachdachte wollte ich es vielleicht auch gar nicht wissen. Als wir in Gio's Straße einbogen merkte ich, wie Dima sich etwas verspannte. Vor Gio's Haus blieben wir stehen. "Hier wohnt er?" Dima's Stimme klang unsicher, so als wolle er am liebsten direkt wieder nach Hause gehen.
"Keine Panik. Gio ist voll in Ordnung. Wenn es scheiße ist gehen wir halt wieder.", versuchte ich ihn etwas zu beruhigen. Dima wollte gerade etwas erwidern, da wurde die Tür aufgerissen.
"Das eid ihr ja endlich!", begrüßte uns ein schon leicht angetrunkener Gio.
"Ja sorry. Ist ein bisschen spät geworden"
"Nicht schlimm. Kommt rein."
Das Haus war voller Menschen. Die meisten hatte ich schon mal gesehen,aber auf den ersten Blick erkannte ich keinen, mit dem ich mich besonders verstand.
"Getränke und so sind da vorne.", informierte uns Gio und deutete in Richtung einer Menschenmasse. Ich wollte ihn gerade fragen, warum so viele Leute hier waren, doch er war nicht mehr da. Dima sah sich mit großen Augen um. Ich fragte mich, ob dies seine erste Party war.Wahrscheinlich schon.
"Lass mal Getränke holen.", rief ich ihm über die Lautstärke der Musik zu. Dima nickte nur und zusammen drängten wir uns durch die Menge.
Zu meiner Überraschung trank er nicht. Ich holte mir ein Bier und er bloß eine Cola. Die nächsten 2 Stunden standen wir etwas fehl am Platz in der Ecke. Meine Versuche, eine Unterhaltung zu führen wurden durch die Musik vereitelt.
Je länger wir hier standen, desto unwohler wirkte Dima. Ich wollte gerade vorschlagen, dass wir gehen und einfach bei mir abhängen, da tauchte Gio wieder auf. Er war deutlich mehr als nur angetrunken, als er uns fragte, ob wir mit hoch gehen wollte um Trinkspiele zuspielen.
Ich sah zu Dima rüber, welcher bloß mit den Schultern zuckte und willigte ein.
In Gio's Zimmer saßen schon Andy und seine Freundin Sabine, sowie zwei andere Mädchen, die ich nicht kannte. Gio kam mit Bechern und Flaschen.
Als er Dima etwas eingießen wollte zog dieser schnell seinen Becher weg.
"Ich trinke nicht." Aus irgendeinem Grund schien Gio das immens zu verwirren. "Aber du bist doch Russe."
"Ukrainer."Ich spürte förmlich wie Dima immer genervter wurde. "Das ist doch das gleiche.", schaltete sich jetzt auch Sabine ein.
"Ist es nicht." Na ganz toll. Jetzt war er richtig angepisst.
"Wenn du meinst.", murmelte Gio und wir begannen mit "Ich hab noch nie..."
An sich war es ganz lustig. Allerdings fiel mir auf, dass Dima nichts trank. "Du hast aber verstanden wie das Spiel geht, oder?",wollte ich sichergehen. Dima nickte und wir spielten weiter.
Alles lief gut, bis Andy nichts mehr einfiel. Er überlegte geschlagene 5 Minuten, bis er endlich eine Idee hatte. „Ich hab noch nie jemanden umgebracht."
"Sag doch einfach, dass dir nichts einfällt. Dann hätten wir nicht solange warten müssen.", meckerte ich genervt. Da fiel mir auf, wie alle an mir vorbei guckten. Dima war am trinken. "Alter, ich dachte du hättest das verstanden."
"Hab ich auch. Ich hatte nur Durst.", sagte er etwas kleinlaut und vermied es irgendwem in die Augen zu sehen. Wäre ich nicht schon ziemlich voll gewesen hätte ich mir vielleicht mehr Gedanken über sein Verhalten gemacht.
"Lasst mal was anderes machen. Mir fällt auch nichts mehr ein.", meinte Sabine während sie ihren Kopf auf Andy's Schulter legte. "Ich wär für Flaschendrehen." Da keiner etwas dagegen sagte holte Gio eine leere Flasche und stellte sie in die Mitte.
"Wer fängt an?", fragte er in die Runde.
"Mach einfach."
Ein paar Runden später stoppte die Flasche bei mir. "Wahrheit oder Pflicht?" Trotz Sabine's leicht hinterhältigem Grinsen wählte ich'Pflicht'. Eine Sekunde später bereute ich es jedoch wieder, da ihr Grinsen noch breiter wurde. "Gib Dima einen Kuss."
Was? Dima war genauso überrascht wie ich. Er verschluckte sich so stark,dass er husten musste. Alle anderen sahen uns bloß erwartungsvoll an.
Ich drehte mich zu Dima. Ich beugte mich nach vorne und er tat das Gleiche. Es war kein langer Kuss. Bloß ein flüchtiges Aufeinandertreffen unserer Lippen. Aber dennoch hatte ich ein Kribbeln in meinem Bauch. Dima's Lippen waren weich und, trotz der hohen Temperatur im Zimmer, kalt.
Wir spielten noch ein paar Runden, bis Dima meinte er müsse nach Hause.Es war ungefähr halb 1 und als wir zur Tür gingen waren schon weitaus weniger Leute im Haus.
Den ganzen Weg über liefen wir schweigend nebeneinander her. Vor Dima's Haus wurde die Stille unangenehm. Ich wollte mich verabschieden, aber aus einem unerklärlichen Grund wollte ich nicht, dass er schon wieder ging.
"Das war lustig heute.", durchbrach Dima meine Gedanken. "Fand ich auch. Schön, dass du mitgekommen bist.", erwiderte ich.
Dima's Lippen verzogen sich wieder zu einem Lächeln und ich musste gegen den Drang ankämpfen ihn nochmal zu küssen. 'Reiß dich zusammen,Mann. Ihr seid nur befreundet. Du weißt wie das ausgeht.' Leider hatte die Stimme in meinem Kopf mal wieder Recht und so verabschiedeten wir uns und ich drehte mich um, um die letzten paar Meter zu meinem Haus zu gehen.
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Mach die Augen auf
Hayran Kurgu"Schließe am letzten Tag jeden Monats deine Jalousien oder Vorhänge, bevor du schlafen gehst. Wenn du in der Nacht klopfende Geräusche an deinem Fenster hörst, öffne nicht deine Augen. Wenn du einer der Pechvögel bist, wirst du diesen Ton irgendwann...