Julien's Sicht
Seit Gio's Geburtstag war jetzt eine Woche vergangen. Dima und ich hatten uns seitdem fast täglich getroffen. Mit Gio hingegen hatte ich nur ab und zu mal in der Schule geredet. Wenn er denn mal da war. In letzter Zeit kam er nur wenn es wirklich nötig war. Ich wollte ihn zwar fragen, was los war, aber bis jetzt hatte ich noch keine Zeit dazu gehabt.
Eigentlich wollten Dima und ich heute zusammen abhängen, aber er hatte in letzter Sekunde abgesagt. Irgendwas von einem Familiennotfall, aber seine Stimme klang schon wieder so als würde er lügen. Ich hasste es, dass er dauernd log.
Mein Vater musste heute arbeiten und meine Mutter war mit meinen kleinen Geschwistern in den Park gegangen. Ich lag auf meinem und langweilte mich.
Auf einmal hörte ich ein lautes Poltern gefolgt von einem "Scheiße!"
Neugierig, was da los war stand ich auf und verließ mein Zimmer. Im Flur stand Mia mit einem Rucksack und einer Tasche über der Schulter. Am Fuß der Treppe lag ihr gepackter Koffer.
"Was soll das denn werden?" Wollte sie wirklich abhauen?
"Wonach sieht es denn aus? Ich verschwinde!" Mit diesen Worten hievte sie ihren Koffer hoch und ging zur Tür.
Wie aufs Stichwort begann Mika plötzlich lautstark zu bellen. Mia öffnete unsere Haustür und ich sah, wie sie zu einem Audi lief. Ein Typ stieg aus und nahm ihren Koffer. Während sie auf den Beifahrersitz kletterte winkte sie mir noch einmal zu. Ihr Freund verstaute ihre Sachen im Kofferraum. Seine Bewegungen wirkten hektisch, so als könnte er es kaum erwarten von hier zu verschwinden. Er hatte blonde Haare und hinter den Gläsern seiner Ray-Ban funkelten rote Augen.
Ich schüttelte meinen Kopf. Vielleicht sollte ich mal zum Arzt gehen. So langsam war das nicht mehr normal.Ich wollte ihr hinterherlaufen und sie aufhalten, doch meine Beine bewegten sich nicht. Ich stand wie angewurzelt auf der Treppe und konnte bloß zusehen, wie auch er einstieg und den Motor startete. Erst als das Auto von unserer Einfahrt auf die leere Straße bog stolperte ich mehr oder weniger die Stufen hinunter.
Innerlich wusste ich, dass es sinnlos war, aber ich konnte nicht aufhören zu laufen. Der Abstand wurde immer größer, doch ich lief weiter. Wie einem Instinkt folgend rannte ich weiter. Ich konnte das Auto schon lange nicht mehr sehen.
Ohne zu wissen wohin ich lief, bewegte ich mich vorwärts. Ich konnte jetzt noch nicht zurück. Meine Schwester war gerade einfach gegangen.
Ich spürte, wie sich bei dem Gedanken ein Brennen hinter meinen Augen breitmachte. Auch wenn wir unsere Probleme hatten hätte ich nie gewollt, dass sie einfach verschwindet.
Meine Beine trugen mich zur Stadtgrenze. Hier standen schon keine Häuser mehr, stattdessen tauchten immer mehr Bäume auf, welche die Straße einzäunten. Ich lief weiter und weiter. Die Bäume wurden immer dichter.
Es gibt Momente, da weiß man das etwas nicht stimmt, noch bevor man es gesehen hat. Dies war einer dieser Momente. Noch bevor ich die Reifenspuren auf der Straße erkennen konnte fiel mir das Loch auf,welches in die Bande gerissen wurde.
Einige der kleineren Bäume wurden mitgerissen, aber an einer stabil aussehenden Tanne war der Audi gescheitert. Das Auto hatte sich einmal um den Baum gewickelt. Die Beifahrertür lag ein paar Meter entfernt.
Der hintere Teil war zusammengepresst und das Dach hatte sich nach Innen gewölbt.'Nein nein nein nein nein neinneinneineineineinein' echote es in meinem Kopf. Ich traute mich nicht näher ran zu gehen. Mit zitternder Hand griff ich in meine Tasche und holte mein Handy heraus.
Ich brauchte insgesamt 3 Versuche um die Nummer des Notdienstes zu wählen und mindestens doppelt so viele um der Frau auf der anderen Seite die Situation zu beschreiben.
Nachdem sie aufgelegt hatte näherte ich mich nun doch dem Wrack. 'Viele Leute fahren so ein Auto. Da unten könnte jeder liegen. Sie hatten so viel Vorsprung. Sie sind bestimmt schon lange weg.'
Doch je näher ich dem Wrack kam, desto schwerer wurde es mich selbst davon zu überzeugen. Es sah alles so surreal aus. Es erinnerte mich an meinen Traum. Schon bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht. Allerdings konnte es auch an dem Geruch liegen. Eine abartige Mischung aus verbranntem Gummi und Benzin, bei der sich mir der Magen umdrehte.
'Fuck'
Das Brennen hinter meinen Augen war zurück.
'Reiß dich zusammen. Das könnte jede Frau mit blonden Haaren sein. So einzigartig wie sie immer getan hat war ihr Aussehen nicht.'
Dann hob sie ihren Kopf.
"Julien?"
Ihre blauen Augen schauten mich angsterfüllt an.
'Fuck'
„Alles wird gut. Ich hab Hilfe gerufen. Bleib einfach nur bei mir." Ich konnte die Tränen in meinen Augen spüren, doch wischte sie weg bevor sie fallen konnten. Meine Schwester war der letzte Mensch vor dem ich weinen wollte.
Ich redete weiter auf sie ein, während sie immer mehr in die Bewusstlosigkeit driftete. Nach einer gefühlten Unendlichkeit konnte ich dann endlich die Sirene eines Krankenwagens hören.
„Hörst du das? Alles wird gut." Ich glaubte mir selbst nicht.
Erst als die Sanitäter sie aus dem Audi geholt und im Krankenwagen verstaut hatten fing ich an daran zu glauben. 'Was kann jetzt noch schief gehen? Sobald wir im Krankenhaus sind wird sie operiert und dann kommt sie wieder nach Hause.'
Von meinem Platz im Krankenwagen konnte ich beobachten, wie ihr Freund aus dem Auto gezogen wurde. Beim Aufprall war er anscheinend durch die Frontscheibe geflogen. Selbst von dieser Entfernung konnte ich die Verfärbungen auf seinem Shirt erkennen. Es sah nicht gut aus. Mein Verdacht bestätigte sich, als er, anders als Mia, nicht auf eine Trage, sondern unter ein Tuch gelegt wurde.
Mir war egal was mit ihm passierte. Für mich zählte nur, dass Mia so schnell wie möglich in ein Krankenhaus kam.
'Und sie können jetzt nicht mehr abhauen.' Vielleicht war dieser Gedanke egoistisch, aber auch das war mir im Momemt egal.Auf der ganzen Fahrt zum Krankenhaus behielt ich den kleinen Monitor im Auge, welcher Mia's Herzschlag überwachen sollte. Oder so ähnlich. Einer der Rettungskräfte hatte es mir zwar erklärt, aber ich hatte ihm nicht richtig zugehört.
Meine Schwester sah schlimm aus. Ihr Gesicht war von Scherben zerkratzt und sogar ihre Haare waren an einigen Stellen rot verfärbt. Ihre Augen waren geschlossen und eine Atemmaske bedeckte den Großteil ihres Gesichts.
'Was Mum und Dad wohl sagen werden? Soll ich sie vielleicht anrufen? Würde Mia sie überhaupt da haben wollen?'
Ein schrilles Piepen unterbrach meine Gedanken. Panisch blickte ich auf den Monitor. Die Linie, welche sich eben noch ganz leicht hoch und runter bewegt hatte blieb nun unverändert. Die Sanitäter sprangen hektisch um sie herum. Ich beobachtete alles wie durch einen Schleier.
Einer der Sanitäter redete mit mir, zumindest ging ich davon aus, da er mich ansah, doch ich verstand kein Wort. Das einzige, was ich wahrnahm, war das Piepen. Es dröhnte viel zu laut in meinen Ohren.
Dann war es still.
Wenigstens musste ich jetzt meine Tränen nicht mehr verstecken.
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Mach die Augen auf
Fanfic"Schließe am letzten Tag jeden Monats deine Jalousien oder Vorhänge, bevor du schlafen gehst. Wenn du in der Nacht klopfende Geräusche an deinem Fenster hörst, öffne nicht deine Augen. Wenn du einer der Pechvögel bist, wirst du diesen Ton irgendwann...