Schmerz

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Prepare for Überlänge :P
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Er schlug die Augen auf und sah sich um. Er befand sich in einem dunklen Wald. War er auf Berk? Er wusste es nicht. Auf jeden Fall kam ihm hier nichts bekannt vor. Die Bäume standen nicht gerade dicht beieinander, aber die Kronen bildeten ein undurchdringliches Blattwerk. Es musste Tag sein, auch wenn man von Helligkeit nicht viel mitbekam.

Ziellos wanderte er durch diesen Wald. Wozu? Er hatte absolut keinen Plan.

Nach einer Weile jedoch bekam er ein mulmiges Gefühl, als würde ihn etwas beobachten.

Oder jemand.

Für einen Moment hielt er inne und lauschte. Tatsächlich! Da war etwas.

In diesem Moment konnte er förmlich fühlen, wie etwas an seinem Ohr vorbeizog. Wie ein leiser Windhauch, aber irgendwie hatte er etwas... menschliches.

Er wollte nach seiner Axt greifen, aber da war nichts. Nichts als Luft. Also ging er leicht in die Knie und horchte weiter.

Da war es wieder! Der Hauch.

Dieses Mal drehte er sich rechtzeitig um und schlug zu, von wo die Quelle des Geräuschs kam.

Doch da war nichts. Nichts als Luft. Seine Faust stieß ins Leere.

«Siiiii...rd...»

Sein Atem beschleunigte sich. Er hatte es sich nicht eingebildet. Es war, als würde der Wind sprechen. Ein leises Flüstern.

«Komm schon...», murmelte er. «Komm schon.»

Und da war es wieder, dieses Mal jedoch schneller und lauter. Wieder drehte er sich um, doch hob nicht die Faust, denn wie zu erwarten war, war da nichts. Nur Bäume, Waldboden, Blattwerk.

«Siiiiiiiguuuuurd...»

Ihm stockte der Atem. Der Wind hatte seinen Namen ausgesprochen. Nein, nicht der Wind...

«Zeig dich gefälligst!», rief er wütend. «Wer bist du?»

Das Hauchen begann wieder leise, doch dann wandelte es sich zu einer richtigen, klaren Stimme um. «Haaaast du mich etwa schon vergessen, Sigurd?»

Er hielt inne. Seine Miene wurde ausdruckslos und er schloss die Augen, während er den Kopf senkte. Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte er sich langsam um und öffnete die Augen wieder. Und da stand sie.

Sie stand mit gesenktem Kopf seitlich zu ihm, die rotbraunen Haare über ihrem Gesicht. Aus ihrem Rücken ragte auf Schulterhöhe ein Armbrustbolzen. Das Oberteil war blutdurchtränkt, mehr rot als irgendeine andere Farbe.

Dann drehte sie sich zu ihm und hob den leicht seitlich geneigten Kopf. Ihr Gesicht kam unter dem Haar zum Vorschein. Die feinen Züge, die Narbe... und die grünen Augen, die ihn glasig und tot anstarrten, fast als würde vor ihm eine Untote stehen. Eine Draugr.

Sigurd schloss gepeinigt die Augen. So wollte er sie nicht sehen. Unter gar keinen Umständen.

«Wieso hast du auf mich geschossen?» Ihre Stimme war sanft, kaum mehr als ein Seufzen.

Mit nur halb geöffneten Augen starrte er den Boden an.

«SIEH MICH AN!», schrie sie auf einmal, die Zärtlichkeit vollends verschwunden. «SIEH, WAS DU ANGERICHTET HAST!»

Er versuchte, regelmäßig zu atmen, um sich zu beruhigen und hob nach und nach den Blick.

«Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Sigurd. Sieh mir ins Gesicht.»

Das tat er, so schmerzhaft der Anblick ihrer leb- und glanzlosen Augen auch war. Es schien, also würde sie ihn nicht einmal ansehen, sondern einfach hindurchblicken.

«Wieso hast du mich getötet?» Und da war sie wieder, die Sanftheit in ihrer Stimme, als wäre sie nie wütend gewesen.

Es war so surreal, mit ihr darüber zu reden, wieso er ihr Leben beendet hatte. Mit einer Toten zu sprechen... «Ich hatte keine Wahl...»

«Die hattest du. Du hättest dich entscheiden können, nicht zu schießen.»

«Ich habe nicht auf dich schießen wollen!»

«Genau. Dafür auf das, was mir am Teuersten war.»

Wieder sah er weg, während die Frustration in ihm hochkam. Verstand sie denn nicht? Oder wollte sie nicht verstehen, warum er es tun musste? Dann sah er sie wieder an.

«Ich wurde gezwungen.»

«Nein. Du hast freiwillig abgedrückt.» Diese Zärtlichkeit, mit der sie gnadenlos jeden seiner Sätze abschmetterte, als würden sie ihr nichts bedeuten... Es war grausam.

«Du verstehst es einfach nicht!», entgegnete er frustriert. «Ich wäre verbannt worden. Meine Familie... diese Schande hätten sie nicht überlebt. Erst mein Onkel Finn, dann ich... Sie hätten jegliches Ansehen verloren. „Hofferson" wäre zu einem Namen geworden, von dem Mütter ihren Kindern als abschreckendes Beispiel erzählen.»

«Und war es dir das wert?», hakte sie hauchend nach. «Denkst du, es ginge dir schlechter, wenn du nicht geschossen hättest? Wenn du einmal an dich selbst gedacht-»

«Wie bitte? An mich selbst gedacht?», wiederholte er ungläubig und unterbrach sie, doch darüber schien sie nicht im Geringsten wütend zu sein. «Du willst mir allen Ernstes vorwerfen – DU, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, alles für die Familie zu tun – dass ich zu wenig an mich selbst denke?»

«Im Gegensatz zu dir musste ich nie abwägen, mich nie entscheiden», antwortete sie ruhig. «Meine Entscheidungen waren immer schon klar und vorhersehbar. Etwas für mich und für die Familie, für meinen Bruder zu tun, war bei mir immer im Einklang. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet: Bereust du es, geschossen zu haben?»

Für einen Moment war er still und sah ihr dann tief in die Augen. «Jeden Morgen», sagte er und machte einen Schritt auf sie zu. «Jeden Tag», fuhr er fort und näherte sich ihr weiter. «Und jede Nacht.»

Sie standen sich so nah gegenüber. Es wäre so leicht für ihn, die Hand auszustrecken und sie zu berühren, doch ihre Gestalt schrie förmlich „Tod". Ihre Lippen waren bleich, ihr Gesicht strahlte Kälte aus und war knochig.

«Ich bereue diesen Moment, wenn ich die Augen schließe und ich bereue ihn weiterhin, wenn meine Augen geöffnet sind. Ich erinnere mich, wenn ich esse und ich wünsche mir jeden Tag vor dem Schlafengehen, ich könnte die Zeit umkehren und mich noch einmal entscheiden.»

Er streckte seine Hand nach ihrem Gesicht aus und er spürte, wie sich erste Tränen ankündigten.

«Ich wäre bereit, alles zu tun. Ich würde die Welt absegeln oder barfuß über ein Meer aus heißen Kohlen steigen. Ich würde alles geben, nur um...» Er stockte. Ihr Gesicht... Sie war zum Greifen nah. «um dich ein letztes Mal in meine Arme schließen zu können.»

Er blinzelte und sie verschwand, bevor er sie berühren konnte. Mit verzerrtem Gesicht schloss er die Augen und ballte die Hand zu einer Faust, während er gegen die Tränen ankämpfte.

«Aber du kannst es nicht», tönte es hinter ihm. Ihre Stimme war nun schlagartig kalt und unnachgiebig. «Aber weißt du, was du tun kannst?»

Er schüttelte leicht den Kopf, während er sich herumdrehte und ihr wieder ins Gesicht sah. Eine Träne kullerte über seine Wange.

«Du könntest aufhören, dich in deinem Selbstmitleid zu suhlen», spie sie, und als er nichts darauf antwortete, fuhr sie fort. «Was hast du in den sechs Monaten getan, die ich nun schon weg bin? Alles, was du getan hast, ist, dich im Wald zu verkriechen und den trauernden Einsiedler zu spielen. Seit einem halben Jahr, Sigurd! Du lungerst am Krähenkliff herum und tust nichts! Hör auf, so zu tun, als wärst du der einzige auf dieser verdammten Insel, der irgendetwas zu beklagen hat!»

Jedes ihrer Worte glich einem Schlag in die Magengrube, aber gleichzeitig waren sie auch seltsam heilend. Sie sprach genau, wie sie zu Lebzeiten gesprochen hätte. Als wäre sie lebendig.

«Du hast mich getötet, na und? Genug geflennt! Was willst du jetzt mit diesem Wissen anfangen? Siehst du jetzt mir, siehst du jetzt den Tatsachen endlich ins Gesicht? Oder willst du weiterhin in der Vergangenheit leben und dich den Rest deines Lebens beklagen?»

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Auch ihr Körper schien nun weniger steif. Als würde sie gerade zu neuem Leben erwachen.

«Du hast recht», sprach er sanft und lächelte.

«Dann weißt du, was du als nächstes tun willst?»

«Nein», widersprach er kopfschüttelnd. «Aber ich weiß, was getan werden muss.»

Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. Ihre Haut bekam Farbe und ihre grünen Augen füllten sich mit Leben. Sogar der Wald um sie herum schien prächtiger und heller zu werden. Schließlich wandte sie sich um und setzte zum Gehen an.

«Maeri?»

Ein letztes Mal wandte sie sich noch um und lächelte ihn wortlos an.

«Ich liebe dich.»

Sie schmunzelte. «Wach auf, Sigurd.»
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Zum ersten Mal seit sechs Monaten wachte er nicht schweißgebadet und von Alpträumen geplagt auf. Zum ersten Mal seit diesem schicksalhaften Tag fühlte er sich tatsächlich ausgeruht.

Seine Träume fingen immer auf exakt dieselbe Weise an, aber dieser Traum von Maeri war der erste, der sich von all den anderen unterschied.

Sigurd setzte sich auf und sah sich um.

Er befand sich im Inneren einer winzigen Holzhütte.

Nachdem die beiden Haddock-Geschwister mit dem Nachtschatten verschwunden waren, hatte sich Sigurd aus dem Dorf zurückgezogen und sich zum Krähenkliff begeben. Noch bevor der Winter einsetzte, hatte er sich seine eigene kleine Hütte errichtet. Er jagte allein, er hackte sich sein eigenes Feuerholz, er ging in diesem halben Jahr, den gesamten Winter eingeschlossen, nicht ein einziges Mal ins Dorf zurück. Nicht einmal zum Snoggletog.

Ob seine Familie ihn vermisste, war ihm gänzlich egal. Nach seiner Tat wollte er einfach nur Zeit für sich allein. Und so wie es aussah, schienen sie das auch zu verstehen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie ihn gefunden hätten, hätten sie es nur gewollt.

Schließlich trat Sigurd aus seiner Hütte. Im gesamten Krähenkliff war der Schnee seit gut zwei Monaten weggeschmolzen. Sie hatte recht. Er konnte hier nicht ewig bleiben.

Seine Axt lag auf einem Holzblock, den er dazu genutzt hatte, Feuerholz zu hacken. Dennoch hatte er nie das Schärfen vernachlässigt, obwohl er sie nicht unbedingt brauchte. Drachen kamen hier in letzter Zeit nur wenige vorbei, und wenn, dann nur um einfach weiterzufliegen.

Dennoch hatte er keinen Zweifel daran, dass das Dorf in der Zwischenzeit etwa zehn Mal angegriffen wurde.

«Götter, was war ich egoistisch...», murmelte er kopfschüttelnd und schnallte sich die Axt seiner Mutter auf den Rücken. Dann strich er sich über das Gesicht. Raue Stoppeln hatten sich gebildet und seine Haare waren ein Stück länger geworden. Damit sie ihn nicht nervten, band er sie kurzerhand hinter seinem Kopf zusammen, was nichts Ungewöhnliches war. Viele Wikinger machten das.

Es war nun Zeit, diesen Ort ein für alle Mal zu verlassen und zurückzukehren, also ging er durch die kleine Schlucht, die den einzigen Zu- und Ausgang zu diesem Kliff darstellte, und machte sich an den Aufstieg.

Oben angekommen streckte er sich erst einmal ausgiebig. Über das letzte halbe Jahr hatte er gelernt, allein zu überleben, selbst unter den widrigsten Bedingungen. Er hatte den berkianischen Winter überlebt, und das in einer erbärmlich gezimmerten Holzhütte, deren Ritzen mit Moos und Dreck gestopft waren. Sein Körper ging gestählt hervor; Angepasst an die unnachgiebige Wildnis und eiskalte Temperaturen. Unzufrieden hatte er mehrfach feststellen müssen, dass die Axt seiner Mutter einfach nicht für ein Gebiet gemacht war, wo es nur selten auf Kraft ankam. Sie war viel zu sperrig und es war lästig, mit ihr in der Hand zu rennen.

Ein Rascheln aus der Ferne weckte seine Aufmerksamkeit. Rasch zog er sich die Axt vom Rücken und blickte herausfordernd in die Richtung, aus der er das Geräusch gehört hatte. Aber da war ni-

Doch! Da war etwas. Er kniff die Augen zusammen und näherte sich, bis auf einmal etwas Bekanntes aus dem Busch ragte.

Überrascht blinzelte er, als er das weiße Fell und die eisblauen Augen erblickte, die zu einem ihm nur allzu bekannten Tier gehörten. Es verblüffte ihn, dass er diese unglaublich auffällige Farbe trotz des überall um ihn herum präsenten Waldgrüns nicht vorher gesehen hatte.

Bei genauerer Überlegung hatte er ihn nicht mehr gesehen seit-

Mit einem Mal drehte sich das weiße Geschöpf um und rannte davon, noch bevor Sigurd ein einziges Wort rausbringen konnte.

«Was zum... Schnee! Warte!», rief er dem weißen Wolf hinterher und verfolgte ihn.

Der große Vierbeiner ging ihm fast bis zur Brust – immerhin entstammte er einer einzigartigen Zucht – und daher war es auch nicht verwunderlich, dass er deutlich schneller war als der blonde Wikinger.

Zu seiner Verwunderung blieb Schnee jedoch mehrfach stehen, um sich nach seinem Verfolger umzusehen, nur um dann in einem Affenzahn weiterzurennen. Sigurd bemerkte jedoch, dass sie sich in Richtung Küste bewegten.

Als er an einem verlassenen Strand ankam, hatte er den Wolf endgültig aus den Augen verloren. Schwer atmend, aber noch längst nicht am Ende seiner Kräfte, sah er sich in dem unbekannten Gebiet um.

Er hatte diesen Ort noch nie besucht. Dazu gab es auch keinen Grund. Er ernährte sich von den Erzeugnissen des Waldes, im Krähenkliff gab es frisches Wasser und ebenso konnte man sich auch in seiner Zuflucht waschen und baden, wenn man es als nötig erachtete. Daher gab es für ihn nichts von Bedeutung an den Küsten von Berk.

Dieses Mal jedoch sollte es anders sein, als er nämlich wieder etwas Weißes in seinem Blickfeld aufblitzen sah. Als er genauer hinschaute, konnte er eine kleine Höhle erkennen.

Skeptisch und stirnrunzelnd lief er auf das Loch in der Felswand zu, bis er schließlich eintrat.

«Schnee?», rief er, ohne dass ein Echo ertönte. Die Höhle musste also so klein sein, wie sie von außen bereits aussah. Der Boden war mit Sand vom Strand bedeckt. «Jetzt zeig dich schon!»

Sigurd horchte eine Weile, hörte aber nicht einen Mucks von dem Jagdwolf und schüttelte brummend den Kopf.

«Das darf doch nicht wahr sein...», murmelte er und lief auf die Mitte der Höhle zu. «Er kann doch nicht einfach verschwi-»

Er war über etwas gestolpert, konnte sich jedoch fangen. Im Wald waren heimtückische Wurzeln nicht selten. Zwar konnten sie ihn nicht zu Fall bringen und darüber machte er sich auch hier keine Sorgen, aber wieso war er eigentlich über Sand gestolpert?

Sigurd sah nach unten zu seinen Füßen und kniff die Augen zusammen, bis er etwas entdeckte und sich hinhockte.

Er war gar nicht über Sand gestolpert, sondern über etwas Hölzernes.

Unter das Stück Holz schob er einen Finger, um es spielerisch hochzuwerfen, doch er musste feststellen, dass es anscheinend dafür ein wenig zu groß war. Also schloss er die gesamte Hand darum und zog es heraus.

Sigurds Atem stockte, als er den Gegenstand schließlich in der Hand hielt. Nur hätte es von einem einfachen Stück Holz oder einem Ast nicht weiter entfernt sein können. Es war-

«Hey Mistvieh!»
«Ich hatte alles unter Kontrolle!»
«Wo ist mein Bruder hin?»
«NEIN!»

Es war Maeris Bogen.

Eine ganze Weile starrte er das hölzerne, geschwungene, exotische, damaszener Kunstwerk an. Es war an einigen Stellen grünlich verfärbt. Sigurd erinnerte sich, dass sie ihren Bogen ins Meer hatte fallen lassen. Anscheinend hatten sich Algen festgesetzt. Schließlich hob sich sein Blick wieder und er bemerkte, dass ihm Schnee nun schließlich doch gegenüberstand.

Nach sechs Monaten wurde er wieder daran erinnert, wie verflucht schlau dieses Tier war und warum Maeri so vernarrt in ihn gewesen war.

«Du wusstest, dass er hier ist», hauchte Sigurd, aber dann fragte er sich, wie der Bogen dann in die Höhle gekommen war und ihm wurde noch etwas klar. «Du hast ihn aus dem Wasser gefischt?»

Der weiße Wolf leckte sich nur um das Maul und setzte sich, während er den blonden Wikinger weiter mit intelligenten Augen anstarrte.

Scheinbar wurde der Bogen irgendwann im Verlauf der letzten Monate angespült und Schnee hatte ihn gefunden. Und Sigurd schließlich hergeführt. Er konnte sich denken, aus welchem Grund.

«Ich weiß, was du mir sagen willst», meinte der junge Krieger und nickte bedächtig. «Ich habe mich bereits entschieden und weiß, was ich nun tun muss.»

Das Ohr des Wolfs zuckte und er sah den Verlobten seiner Gefährtin an.

Sigurd kniete sich vor ihn. «Aber ich möchte, dass du mich begleitest, Schnee. Du warst ihr so wichtig... Es würde mir sehr viel bedeuten.»

Eine Weile sahen sich die beiden schweigend an, bis sich der weiße Jagdwolf schließlich wieder aus seiner sitzenden Haltung erhob. Sigurd lächelte.

«Gehen wir zurück nach Berk.»
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Die Namenlose öffnete nach Luft schnappend die Augen und wurde sogleich an den monströsen Schmerz in ihren völlig zerfetzten Lungen und den fast zur Unkenntlichkeit zersplitterten Rippen erinnert, während sich das Allheilmittel rapide entfaltete. Energie dafür bekam sie von dem Dolch, der in ihrer Hand lag.

«Das war wohl wieder nichts», krächzte Donner in einem Tonfall, der fast an Belustigung grenzte.

Als sich schlussendlich ihre Wirbelsäule auf Hüfthöhe wieder zusammenfügte und sie ihre Beine nach einer gefühlten Ewigkeit endlich spüren konnte, obwohl es sich nur um wenige Sekunden gehandelt hatte, fuhr sie nach oben und sah ihre Mentorin wütend an, die ihr nur den Dolch in aller Seelenruhe aus der Hand nahm.

«Schon der-»

«Schon der einhundertsechsundsiebzigste Versuch in einem halben Jahr und ich habe es noch immer nicht geschafft, ich weiß! Zehn Dutzend Mal bin ich schon verreckt!», entgegnete die junge Frau laut und sah frustriert an ihren blutdurchtränkten Klamotten herunter, bevor sie die steile Felswand des Vulkans hinaufdeutete. «Aber wie soll das denn bitte zu machen sein? Der Vulkan ist riesig und ich befinde mich die meiste Zeit davon im Überhang, aber die schlimmste Stelle ist ja wohl die glatte, die ich auch noch im totalen Überhang bewältigen muss. Kannst du mir mal sagen, wo ich mich da festhalten soll?!»

Die ältere Frau kicherte hinterhältig. «Du missverstehst das Ziel, Kind.»

«Was gibt es denn da falsch zu verstehen?!», rief sie frustriert und warf die Arme in die Luft, während sie wütend auf und ab stapfte. «Du hast damals gesagt: „Also gut, meine Schülerin, klettere diesen verfluchten Vulkan hoch, und zwar nur an genau der verdammten Strecke, die ich dir vorgebe, sonst jage ich dir hinterrücks einen vergifteten Pfeil in den Rücken und lasse dich gnadenlos runterstürzen. Ach, und hab keine Furcht vor den dreimal verdammten Höllenschmerzen!"»

«Ganz so war der Wortlaut zwar nicht, aber den Kern der Sache hast du getroffen», meinte Donner weiterhin kichernd.

«Das einzige, woran ich nahe dran bin, ist der Teil mit den Schmerzen. Die werden allmählich langweilig», brummte die Namenlose alles andere als begeistert.

«Na immerhin, nicht wahr? Also dann, auf geht's! Versuch Nummer Einhundertsiebenundsiebzig», befahl die Alte streng, aber grinsend. «Ich werde für ein wenig Nachschub an Energie sorgen. Du hast die gesamte Lebenskraft von ganzen drei Füchsen und zwei Hasen restlos verbraucht, nur um wiederhergestellt zu werden. Der Leerengeborene will versorgt sein.» Mit diesen Worten schritt sie davon, nichts als den Dolch mit dem violett leuchtenden Kristall im Griff und einem gepfiffenen Liedchen auf den Lippen, was aber aufgrund der Narbe an ihrer Kehle eher wie Todesgejaule klang.

Die Augen verdrehend starrte die junge Jägerin den Vulkan hinauf und knurrte. Dann legte sie eine Hand an den Fels und griff sich fest.
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«Eh, Grobian! Was ist mit meinem Schwert?»

«Mach dir darüber mal keinen Kopf, Lars. Das kommt noch früh genug.»

«Und meine Axt?»

«Ja Magnus, die ist auch unterwegs...» Ein Seufzen war zu hören.

«Was ist mit-»

Die Männer und Frauen vor der Schmiede zuckten zusammen, als ein ziemlich fertig aussehender Dorfschmied mit einem grummelig verzogenen Gesicht und einem Hammer in der Hand, welchen er prompt frustriert auf die Theke knallte. «Björn, deinen Hammer habe ich hier. Gudrun, nein, deine Klinge ist noch nicht geschliffen und Jörg-»

«Ich heiße Jorg!»

«MIR VÖLLIG SCHNUPPE, WIE IHR NASEN HEIßT», brüllte Grobian schließlich. «Ich habe allein für heute noch 28 Bestellungen, die Waffen türmen sich im Lager, dass ich längst den Überblick verloren habe und ich habe zwei Nächte kaum geschlafen. Jetzt macht die Flatter, sonst nutze ich euch als Brennmaterial für die Esse!»

Für einen Moment herrschte Stille, bis auf einmal in den hinteren Reihen gemurmelt wurde, was das Zeug hielt.

«Sagt mal hört ihr schlecht, oder...? Was ist denn da hinten los?», fragte Grobian und lehnte sich weit über die Ladentheke.

«Keine Ahnung...», meinte eine Wikingerin schulterzuckend und stellte sich auf die Zehenspitzen in der Hoffnung, irgendetwas sehen zu können. Als sie es schließlich tat, sog sie scharf die Luft ein. «Ich glaub's ja nicht...»

«Was? Was ist denn nun los hier? Macht das woanders, aber nicht vor... meiner...»

Dann fiel ihm ein blonder Schopf ins Auge, den er schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte.

«He, stell dich gefälligst hinten-», setzte gerade jemand an, den es ausgesprochen wenig juckte, wer da seinen Weg kreuzte, bevor er durch ein lautes Knurren unterbrochen und schlagartig mucksmäuschenstill wurde.

«Ja leck mich doch fett an meinem ungewaschenen... Sigurd!», rief er und wusste nicht, ob er froh oder verwirrt sein sollte. «Und Schnee! Was führt euch denn hierher? Hab euch schon ewig nicht mehr gesehen.»

Sigurd stellte sich einfach wortlos an die Theke und stützte seine Arme darauf, während sich der weiße Wolf selbst einlud und schnüffelnd durch die Schmiede streifte.

«Du siehst nicht gut aus», stellte der Heimgekehrte geradeheraus fest. «Viel zu tun?»

«Kannst du laut sagen», grummelte Grobian missmutig und seufzte dann. «Seit ich hier allein arbeite und Hicks weg ist...» Seine Augen wurden groß und er hob seine Hände... pardon, Hand und seine Prothese entschuldigend vor sich. «Tut mir leid, ich wollte nicht-»

«Ist schon gut», wurde er von Sigurd unterbrochen, bevor ein unangenehmes Schweigen über sie fiel. «Können wir kurz reden? Allein?»

Brummend blickte der Dorfschmied hinter den jungen Krieger und rümpfte genervt die Nase. «Nichts lieber als das. Komm rein!»

Vereinzelte Rufe wurden laut, dass Grobian sich gefälligst wieder an die Arbeit machen sollte, aber als sie von einem Paar eiskalter, blauer Wolfsaugen angestarrt wurden, verloren sie schnell die Lust auf Protest. Sigurd trat ein und Grobian schloss seine Schmiede.

«Mach's dir gemütlich, Junge», sagte Grobian, schraubte sich die Hammerprothese ab und suchte stattdessen seine Metkrugprothese, während Sigurd sich zwei Hocker schnappte und sie neben die heiße Esse stellte. Schnee machte es sich ebenfalls daneben gemütlich.

«Aaaah», ächzte der Schmied erleichtert, als er sich auf den Hocker mit einem gefüllten Metkrug fallen ließ. «Ich muss dir danken, Jungchen.»

«Wofür?», fragte er nach und schmunzelte.

«Du und der Wolf habt den armen Teufeln einen solchen Schrecken eingejagt, dass ich mir jetzt endlich mal eine kleine Ruhepause gönnen kann», führte er an und reichte dem jungen Krieger ebenfalls einen Krug Met.

Sigurd jedoch hob ablehnend eine Hand. «Danke, aber ich bin ein halbes Jahr auch gut ohne ausgekommen.»

Grobian lachte kurz auf. «He, ist vielleicht sogar besser so. Ohne bewahrt sich ein kühler Kopf leichter und außerdem habe ich so mehr für mich.»

Sigurd lachte ebenfalls, bevor er nachdenklich in die Esse und die tanzenden Flämmchen sah.

Der Schmied nahm ein paar Schlucke und musterte den ihm gegenübersitzenden Burschen anschließend. «Wieso wolltest du mit mir sprechen? Was hast du auf dem Herzen?»

Für ein paar weitere Sekunden war es still, bevor der blonde Krieger seufzte. «Ich habe viel verpasst.»

«Aber hallo. Mehltau ist noch grummeliger geworden. Keine Ahnung, wie das möglich ist... Aber wir haben wieder Nachwuchs bekommen. Ein paar Mädels mehr als Jungs. Die Gunnarsons haben sogar Zwillinge, beim gütigen Thor. Ich hoffe, diese Hohlnüsse kriegen die nicht in ihre Finger. Ach, und Astrid, deine Schwester, hat vor zwei Monaten den Riesenhaften Alptraum erlegen dürfen.» Er lachte auf und klatschte sich mit der freien Hand auf den Oberschenkel. «Was war das für ein Kampf. Du hättest sie sehen müssen! Wurde gefeiert wie eine Heldin, die Kleine.»

Sigurd lächelte, ließ aber nicht die Augen von der Esse. Seiner Schwester ging es gut. Das war beruhigend. Dann jedoch schwand die Freude aus seinem Gesicht. «Das Dorf... es sieht ziemlich demoliert aus.» Er hatte es bereits bemerkt, als er die Waldgrenze zum Dorf überquert hatte. Es sah wirklich nicht gut aus.

Nun war auch Grobian nicht mehr so frohen Mutes. Seine frohe Stimmung erfuhr einen ordentlichen Dämpfer. «Tja... das... das ist halt so ne Sache.»

«Was ist passiert? Hat sich irgendetwas verändert? Sind es mehr Drachen geworden? Sind neue Drachenarten dazugekommen?»

«Das wäre mal was Neues, wie? Aber nein, wir haben es immer noch ausschließlich mit Zippern, Naddern, Gronckeln und Alpträumen zu tun. Die Schrecken lassen wir einfach außen vor. Die Größe der Schwärme war auch unverändert. Naja, fast. Der Nachtschatten ist nicht mehr aufgetaucht seit... du weißt schon...»

«Sehr gut sogar», sprach Sigurd und lehnte sich dann nach vorn. «Also was ist passiert, dass das Dorf derart zerstört ist? Komm schon Grobian, rede mit mir!»

Der Ältere seufzte schwer und senkte seinen Blick. «Seit Hicks und Maeri... fort sind... hat Haudrauf einfach seinen Kampfeswillen verloren.»

«Wie? Seinen Kampfeswillen verloren? Was meinst du damit?», fragte Sigurd verständnislos.

«Wir haben uns gestritten, der alte Ochse und ich. Es fing alles so friedlich an. Er war völlig am Boden vor Trauer und brauchte jemanden zum Reden. Also habe ich mit ihm geredet. Wir kamen auf die Vergangenheit zu sprechen, auf alte Abenteuer, fast vergessene Dummheiten... und auf Hicks.»

Sigurds Blick wurde hart.

«Alle hassen Hicks, vor allem jetzt», fuhr der Schmied einfach fort. «Aber auch davor. Er war nie beliebt, bis auf diese eine Phase. Die eine Lüge war, wie wir jetzt wissen.»

«Er ist ein Verräter», knirschte der junge Krieger missmutig.

«Und kann man es ihm verübeln? Rückblickend wundert es mich nicht, dass er und dieser Nachtschatten im Bunde standen. Ich meine, der Bursche war ein Genie!» Kurz stand er auf, humpelte zum nächstgelegenen Tisch, wühlte dort kurz herum und kam schließlich mit einem Stück Papier zurück. «Hier, sieh dir das mal an», sprach er und hielt Sigurd das Blatt hin, das dieser widerwillig annahm.

Sein Missmut wandelte sich jedoch schnell in Interesse um, als er eine Zeichnung sah. Mit Beschriftungen, die er einfach nirgendwo in seinem Wissensschatz einordnen konnte. Zahlen und Formeln ohne Ende, alle an die Seite neben der Skizze irgendeiner Vorrichtung, einer... Waffe gekritzelt. «Was ist das?», fragte er interessiert.

«Das», begann Grobian geheimnisvoll und tippte einige Male auf das Papier, «das ist es, womit er den Nachtschatten erwischt hat. Ein Bolawerfer jenseits aller meiner Jahre Erfahrung als Schmied. Guck nicht so! Ich habe Überreste davon an einer Klippe mit Blick auf's Meer gefunden. Ich bin mir sicher, dass er ihn damit getroffen hat!»

«Warte... du willst sagen, dass-»

«Ja!», verdeutlichte Grobian und nickte eifrig. «Lass dir das mal durch den Kopf gehen! Er hat eine Waffe gebaut, die es dem schlechtesten, kleinsten, schwächsten und im Kampf unerfahrensten Wikinger ermöglicht hat, den gefürchtetsten aller uns bekannten Drachen vom Himmel zu holen. Und wir haben es seit Jahren versucht!»

«Die Möglichkeiten... wären endlos.»

«Jetzt hast du es begriffen. Jetzt weißt du, warum er so ein Genie war.»

Sigurd grinste schief. «Also Genie ist jetzt vielleicht doch etwas übertrieben. Das war eine Waffe. Ein Glückstreffer.» Als er Grobians vielsagenden Blick sah, runzelte er die Stirn. «Du willst mir nicht sagen, dass-»

«Oh doch, er hat noch viel mehr davon. Und nicht nur Waffen. Das meiste ist unausgereift, aber ich habe immerhin einen Bruchteil davon überflogen und es geht über alles hinaus, was ich mir jemals erträumt hätte. Eine ballistenartige Vorrichtung, mit der sich dutzende Pfeile auf einmal abfeuern lassen, ein Katapult, das Steine wie am Fließband schießen kann, ohne innezuhalten, vielseitig einstellbare Prothesen, sogar ein vollautomatisches Löschsystem für brennende Häuser!»

«So etwas geht?»

«Ich hab's mir angesehen. Klar geht es! Sogar recht simpel. Aber das Beste kommt noch. Sieh dir das an!», sprach er aufgeregt und hielt Sigurd ein weiteres Blatt hin.

Dieser kniff seine Augen zusammen. Irgendwo hatte er das schon einmal gesehen. Dann wurde es ihm klar. «Das war an dem Nachtschatten dran...»

«Eine Prothese für eine Nachtschattenfinne, richtig», ergänzte Grobian nickend. «Hicks hatte sie dem Drachen mit seinem Bolawerfer abgeschossen. Die Götter allein wissen warum, aber anscheinend hielt er das schließlich für einen Fehler und machte es rückgängig. Überleg mal! Er hat seine Tat einfach ungeschehen gemacht.»

Für einen Moment hielt Sigurd einfach inne und ließ sich all das Gesagte durch den Kopf gehen. Er würde es definitiv im Gedächtnis behalten. Dann entschloss er sich jedoch, auf das Thema zurückzukommen. «Und was hat das jetzt alles mit dem Häuptling zu tun?»

Der Glanz in Grobians Augen verschwand und er sackte wieder auf seinen Hocker. «Wie dir jetzt sicherlich ein bisschen eher klar ist, war Hicks wenigstens für mich einfach unersetzlich. Ich habe Haudrauf gesagt, wie praktisch es gewesen wäre, wäre er geblieben. All die klugen Dinge, die er vorhatte...»

«Lass mich raten: Er wollte davon nichts hören.»

«Und das ist noch verdammt freundlich ausgedrückt. Nach einer Weile ist er einfach brüllend aufgesprungen. Okay, er war vielleicht betrunken, aber diese Reaktion war doch etwas unerwartet.»

«Warte... betrunken?»

«Hatte ich das nicht? Oh... nee, hatte ich nicht... Na jedenfalls besäuft er sich seit Hicks und Maeri... verschwunden sind. Er ist ein einziges Wrack.»

«Deshalb ist das Dorf so am Boden...», murmelte Sigurd. «Er kommt seinen Pflichten als Häuptling nicht mehr nach.»

Grobian nickte betrübt. «Er ist nur noch ein trauriger Schatten seiner selbst. Jeden Tag brechen neue Streitereien aus, die niemand schlichtet, die Drachenangriffe hinterlassen mehr Zerstörung als wir beseitigen können. Wie du siehst, herrscht ein unglaublicher Mangel an Waffen...»

«Berk verändert sich», erkannte Sigurd und faltete nachdenklich die Hände im Schoß zusammen.

«Und nicht zum Guten», ergänzte der Schmied und trank den zweiten Metkrug leer. «Irgendwer muss mal hier gründlich aufräumen.»

Der junge Blonde nickte entschlossen. Stille breitete sich wieder aus. «Grobian», sprach er schließlich. Sein Gegenüber sah auf. «Ich habe eine Bitte an dich.»

«Nur raus damit, mein Junge», entgegnete er lächelnd.

Leise seufzend zog Sigurd den um seine Schulter geschlungenen Bogen hervor. Grobian hatte ihn bis dahin gar nicht bemerkt. Dann jedoch stockte ihm der Atem.

«Aber das ist doch-»

«Pass darauf auf, Grobian. Bitte», verlangte der junge Krieger mit sanfter Miene. «Dieser Bogen bedeutete ihr sehr viel. Und mir nun genauso.»

Ein paar Male öffnete und schloss sich der Mund des Schmiedes. Eigentlich wollte er fragen, wie er ihn gefunden hatte, aber das war irrelevant. «Es wäre mir eine Ehre, Jungchen», sagte er stattdessen und runzelte dann die Stirn. «Aber was hast du vor...?»

«Etwas, das ich nun schon viel zu lange vor mir hergeschoben habe», antwortete er entschlossen und stand von seinem Hocker auf. «Und ich habe noch eine Bitte: Ich brauche morgen zwei Äxte. Einhändige.»

Als er sich in Richtung Tür wandte, stand der Schmied ebenfalls auf. «Halt!»

Sigurd hielt inne und drehte sich langsam um, bis er Grobian in die Augen sah.

Der ältere Mann blickte ihn mit einer Mischung aus Schock und Bewunderung an. «Du forderst ihn heraus, nicht wahr?»

Der blonde Krieger sagte nichts. Sein Kiefer verhärtete sich nur und er hob den Kopf.

Grobian atmete kurz durch und schloss dann die Augen. «In diesem Fall... möchte ich, dass du noch etwas weißt. Etwas sehr Wichtiges... Es geht um deinen Vater Tjelvar.»

Fragend und skeptisch sah er den Schmied erst an, bevor seine Augen groß wurden.
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Geduldig und gewissenhaft kratzte Ingun Hofferson die letzten fleischigen Hautfetzen von dem Bärenfell, das sie zum Gerben aufgespannt hatte und säuberte schließlich ihr Messer. Genau wie Grobian kam auch sie kaum noch aus dem Haus. Es gab zu viel Kleidung zu flicken, zu viele Felle und Leder herzustellen und neue Kleidungsstücke anzufertigen.

Sie seufzte. Sie vermisste Maeri. Das Mädchen war mindestens so talentiert wie sie selbst. Die Gewissenheit, mit der sie Felle gerben konnte, führte immer wieder zu hochqualitativen Stücken. Vor allem Handschuhen. Sie hatte ihr damit zumindest etwas Arbeit abgenommen, aber nun...

Sie schüttelte betrübt den Kopf. Wenn sie nur ihren Sohn wieder sehen könnte... Schon oft hatte sie darüber nachgedacht, ihn zu suchen oder zumindest Astrid darum zu bitten...

Anfangs dachte sie noch, er bräuchte einfach etwas Zeit für sich. Als der Winter einbrach, machte sie sich Sorgen, doch gerade in dieser Zeit war sie unersetzlich. Ihre Handschuhe sorgten dafür, dass im Dorf alle Finger dranblieben und auch sonst gab es viel dicke Kleidung herzustellen. Es war schon so kaum zu stemmen, aber dann auch noch nach Sigurd suchen zu wollen hatte sie sich sofort aus dem Kopf geschlagen. Astrid hatte sie darum auch nicht gebeten. Sie hatte vollstes Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Tochter, doch wer sich einmal in den winterlichen Wäldern Berks verirrte, der kehrte nie wieder zurück...

Dann kam der Frühling und mit ihm die Drachen. Direkt zu Beginn wurde ihre Familie von... einem schrecklichen Unglück heimgesucht.

Bei einem Drachenangriff fiel Tjelvar Hofferson, ihr Mann und der Vater ihrer Kinder.

Es war in der Zeit, als sich Haudrauf durch einen ausgesprochenen Mangel an Initiative auszeichnete, da sich Tjelvar gezwungen sah, die Verteidigung selbst zu leiten. Viele jedoch erkannten seine Autorität nicht an und folgten ihm und seinen Befehlen nicht. Die Koordination ging den Bach runter und der Angriff wurde von Minute zu Minute schlimmer.

Er verbrannte vollständig, als er den jungen Gustav Larsson aus den flammenden Trümmern des Hauses seiner Familie rettete. Er starb ohne Furcht, ohne Geschrei und ohne jegliche Überreste.

Sich an den grausamen Tag erinnernd entglitt Ingun Hofferson kurz die Fassung und sie schluchzte.

Dieser Laut entfuhr ihr jedoch kein zweites Mal, auch wenn sie gegen die Tränen ankämpfen musste. Sie musste stark sein. Zumindest für ihre Tochter.

Astrid hatte der Tod ihres Vaters ganz besonders mitgenommen. Für ein paar Tage war sie kaum ansprechbar, doch dann begann sie wie eine Wilde zu trainieren.

Es schien ihre Art zu sein, so mit dem Schmerz umzugehen. Gerade einen Monat nach dem Tod ihres Vaters wurde ihr die Ehre gewährt, die zuletzt ursprünglich Hicks zustand. Sie tötete den Drachen in einem atemberaubenden Kampf, ganz ohne Kraft und Gewalt, sondern mit Schnelligkeit und Finesse, ganz wie es Tjelvar ihr beigebracht hatte.

Wo auch immer er nun war, er war gewiss stolz auf sie.

Ingun lächelte schwach. Dann klopfte es.

Kurz blinzelte sie und sah zur Tür.

Normalerweise kündigten sich Wikinger immer lautstark an und platzten sofort hinein, anstatt das völlige Gegenteil zu tun, also wortlos anzuklopfen und stumm abzuwarten.

Schnell wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und wandte sich von ihrer Arbeit ab.

Es klopfte erneut.

Sie seufzte, während sie auf die Tür zuschritt. «Wer auch immer du bist; Mach es einfach wie die anderen und komm rein, statt anzu-» Sie öffnete die Tür und blieb mitten im Satz stecken.

Vor ihr stand-

«SIGURD!», schrie sie überglücklich und ließ die Tränen laufen, während sie ihn fest in die Arme schloss. «Du bist zurück...»

Er erwiderte augenblicklich die Umarmung. «Ja, Mutter... ich bin hier», sagte er und drückte sie fest an sich. Bis jetzt hatte er selbst gar nicht bemerkt, wie schrecklich er sie eigentlich vermisst hatte.

«Oh, mein großer Junge...», wimmerte sie und krallte sich an ihm fest. «Du hast mir so gefehlt...»

«Du mir auch, Mutter», entgegnete er mit erstickter Stimme, während ihm fast selbst die Tränen hochquollen.

Wieder wurde ihm klar, wie selbstsüchtig er gehandelt hatte, als er seine Familie einfach über alles im Dunkeln hatte tappen lassen. Wie es ihm ging, wo er war und wie sie sich überhaupt fühlten... Er hatte seine eigene Familie komplett links liegen lassen.

«Sigurd», sprach seine Mutter schließlich und drückte ihn mit großen Augen von sich. «Ich muss dir etwas sagen... Dein Vater-»

«ist tot, ich weiß. Grobian hat es mir gesagt», ergänzte er mit gesenktem Blick und schüttelte betrübt den Kopf. «Es tut mir so leid... Ich hätte da sein müssen. Ich hätte ihm helfen sollen. Ich-»

Sofort drückte Ingun ihren Sohn wieder an sich. «Sch, sch... Ist schon gut, mein Junge.» Sie kniff die Augen fest zusammen und atmete tief durch. «Jetzt bist du ja da...»

Aus dem Augenwinkel konnte Sigurd sehen, wie sich noch jemand näherte.

«Mutter? Was ist denn... Bruder?»

«Astrid.»

«Sigurd!» Seine Schwester kam ebenfalls sogleich angerannt und fügte sich in die Umarmung mit ein. Auch wenn sie es ihn nicht sehen ließ, wusste Sigurd genau, dass auch sie mit den Tränen kämpfte. Dafür kannte er sie zu gut.

«Ich bin so froh, dich zu sehen...»

«Ich auch, du Esel...»

Ein kurzes, auf Tränen basierendes Lachen rang sich aus der dreiköpfigen Familie heraus.

Eine Weile standen sie noch wortlos so da, bevor sie sich schließlich voneinander lösen konnten.

Astrid war die erste, die das Wort ergriff: «Bruder, nicht dass ich mich nicht freue, aber warum bist du zurückgekehrt? Und warum erst jetzt? Und wo warst du überhaupt?»

Sigurd lächelte sanft. «Ich will ehrlich mit euch beiden sein. Das habt ihr verdient. Ich war am Krähenkliff. Sechs Monate lang in einer kleinen, erbärmlichen Hütte und allein in der Kälte. Die Wahrheit ist: Noch bis gestern hatte ich keine Ahnung, wann oder ob ich überhaupt zurückkehren würde. Ich habe die Zeit nicht zum Nachdenken benutzt. Ich wollte nur vergessen...»

«Aber wieso?», fragte Ingun verständnislos.

Mit vor Trauer getrübten Augen sah er seine Mutter an. «Wegen Maeri. Weil sie tot ist. Schlimmer noch: Weil ICH sie getötet habe. Wir haben alle schon wichtige Menschen verloren – erst heute hab ich von Grobian erfahren, dass mein Vater gefallen ist – aber ich habe Maeri nicht einfach nur verloren, sondern sie umgebracht. Damit... damit wollte ich einfach nicht leben... Ich wollte vergessen.»

«Aber jetzt bist du hier», stellte Astrid blinzelnd fest. «Also was hat deine Meinung geändert?»

Eine Weile sagte er nichts, bevor er schließlich doch mit der Sprache rausrückte. «Ein Traum. Ich träumte von ihr. Von Maeri. Es war nichts Ungewöhnliches, aber... dieses Mal war es anders. Sonst habe ich mich immer im Traum von ihr ein paar Minuten anbrüllen lassen...» Er lächelte schwach. «So wie sie es wahrscheinlich wirklich getan hätte... Aber heute habe ich tatsächlich richtig mit ihr gesprochen. Und sie hat mich motiviert, hierher zurückzukehren und das Richtige zu tun.»

«Und... was ist das Richtige?», hakte Ingun nach.

«Was genau meinst du damit?», fragte auch Astrid.

Sigurds Blick verhärtete sich und er ließ die Zähne knirschen. «Monatelang habe ich mir die alleinige Schuld an ihrem Tod gegeben... Zahllose Nächte habe ich nicht richtig schlafen können, weil ich mir selbst immer und immer wieder eingebläut habe, ich allein würde die Verantwortung tragen.» Er ballte die Fäuste. «Aber ich habe nur das getan, was ich für das absolut Richtige hielt: Ich habe auf meinen Häuptling gehört und versucht, seine Kinder aufzuhalten.»

Er lief wütend auf und ab, während seine Mutter und seine Schwester ihm dabei schweigend zusahen.

«Derselbe Häuptling, der mir mit der Verbannung gedroht hat, wenn ich nicht gehorche. Derselbe Häuptling, der sich nun aufgrund dieser Entscheidung halb in den Tod säuft. Derselbe Häuptling, der sich nicht um die Belange seines Volkes kümmert, so wie es seine Aufgabe ist. Derselbe Häuptling, der meinen Vater hat sterben lassen.»

Nun kam der weiße Jagdwolf Schnee an seine Seite. Astrid und ihre Mutter lächelten. Auch sie hatten ihn lange Zeit nicht mehr gesehen. Und er schien Sigurd ein Stück zu beruhigen. Langsam und sachte strich der junge Wikinger durch das Fell des kräftigen Biests.

«Ein wahrer Häuptling schützt die Seinen. Er droht ihnen nicht grundlos mit Verbannung. Er lässt nicht auf seine eigene Familie schießen. Er stellt die Belange des Volkes über seine eigenen und lässt sie nicht im Stich.»

Mit verzerrter Miene sah er zu seiner Familie auf.

«Vater wäre ein besserer Häuptling gewesen als Haudrauf. Er gab sein Leben, um die Seinen zu schützen. Er widmete seine Existenz seinen Kindern und zog sie zu Kriegern heran.» Er nickte Astrid stolz zu. «Und er nahm die Verantwortung des Häuptlings in die eigenen Hände, als Haudrauf zu feige war. Seit heute weiß ich, was ich zu tun habe, was das Richtige ist. Ich werde in Vaters Fußstapfen treten.»

«Es ist Zeit für einen neuen Häuptling von Berk.»
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Sie ächzte.

Ihre Muskeln brannten, aber den Schmerz ignorierte sie.

Das Problem war der Schweiß, der ihre Hände rutschig machte, ihren kompletten Körper herunterlief und sie völlig dehydrierte.

Nicht Schmerz ließ sie ächzen, es war die Erschöpfung. Sie konnte kaum noch klar denken. Ihr Körper hatte einfach keine Energie mehr.

Wie immer an dieser verdammten Stelle der dreimal verfluchten Klippe...

Natürlich gab es auch Zeiten, in denen sie schon nach wenigen Metern aufgegeben hatte und die kleine Strecke, die sie zurücklegen konnte, wieder heruntergeklettert war, aber dann legte Donner ihr jedes Mal ohne Umschweife den Dolch in die Hand und gab ihr neue Energie aus dem Artefakt, in dem der Leerengeborene eingeschlossen war.

Es gab da nur einen Knackpunkt: Leerenenergie schmerzte, als würde man tausende heiße Nadeln im Körper versenken, sich mit eiskaltem Wasser überschütten, anschließend jedes Haar einzeln entfernen lassen, danach gehäutet werden und zum Schluss über Glassplitter robben.

Sie hatte also die Wahl. Entweder klettern, bis sie aufgab und sich dann nach unten bewegte, oder klettern, bis sie abfiel und sowieso auf dem Boden ankam.

Der Schmerz kam so oder so. Nur spürte sie bei der zweiten Variante weniger davon, weil...

Weil sie jedes Mal starb. Jeder zu hohe Sturz führte zu ihrem Tod und sie musste vom Rand ihrer Existenz zurückgeholt werden.

Inzwischen jedoch war der Schmerz nach unzähligen misslungenen Versuchen, diese verdammte Klippe zu bezwingen, in den Hintergrund gerückt. Sie wollte einfach nur nach oben und mit dieser Sinnlosigkeit fertig werden.

Seit Monaten machte sie nichts anderes als klettern, abfallen, sterben, wiederbelebt werden und das alles wiederholen. Doch während ihre Geduld abnahm, nahm ihre Stärke unweigerlich zu, denn Kha'Zix versorgte sie stets neu mit Energie. Sie wurde ausdauernder, schneller, kräftiger. Und das waren nur die physischen Gewinne.

Entschlossen blickte sie auf und erkannte die altbekannte und verhasste Stelle. Der übliche glatte Überhang, der den Weg zum letzten Drittel der Klippe versperrte.

Langsam ausatmend schloss sie ihre grünen Augen und festigte ihren Stand. Ihre verkrampften Finger lockerte sie noch einmal und schüttelte ihre Arme in Ruhe aus. Gedanklich ging sie die Abfolge ihrer Bewegungen durch, die sie ausführen würde. Die Muskeln, die sie dafür brauchte und die Intensität und Stärke, mit der sie sich selbst vorantreiben musste.

Bei ihren letzten Aufstiegen hatte sie bemerkt, dass die Felswand doch nicht so glatt war, wie sie immer aussah. Wind und Wetter hatten ihr zu schaffen gemacht, sodass sich kleine Rillen gebildet hatten. Lange konnte sie sich gewiss nicht an ihnen festhalten, aber wenn sie sie nur berührte und direkt weitersprang...

Dann hätte sie dieses Mal vielleicht wirklich eine Chance.

Ein letztes Mal atmete sie noch aus, bevor sie ihre Augen wieder öffnete und die erste kleine Rille in der Felswand fand.

Sie machte sich bereit zum Sprung-

als auf einmal ein Pfeil herangeflogen kam und sich in ihre linke Kniekehle bohrte.

Sie rutschte ab. «NEIN, VERDAMMTE SCHEI-» Der Rest ihres Fluchs wurde unterbrochen, als sie bereits ein Stück fiel und ihr Unterkiefer mit einem saftigen Krachen gegen ein Stück Felsen knallte.

Den Rest des Luftweges nach unten legte sie stumm, aber mit einem wilden Ausdruck in den Augen, zurück.

Sie wachte wieder auf, zeitgleich mit dem Gefühl eines sich wieder selbst einrenkenden Kiefers, und stützte sich mit ihren Ellenbogen nach oben, während sie noch von der Hüfte abwärts gelähmt war. Der Dolch befand sich wie nach jedem Sturz in ihrer Hand. Jedes Mal war Donner, ihre Lehrmeisterin da und legte ihn in ihre Hand, sodass das Nachtschattenelixier seine volle Wirkung entfalten konnte.

Der Schmerz war nach so vielen Fehlschlägen inzwischen Nebensache. Alles was sie spürte war Enttäuschung.

«So ein verdammter Bockmist», schimpfte sie ärgerlich. «Dieses Mal hätte ich es fast geschafft...»

«Ja, so ein Mist aber auch», merkte Donner heiser mit einer Spur Spott in der Stimme an.

Irgendetwas an ihrem Tonfall stimmte nicht...

Die Namenlose sah auf und erkannte zu ihrem Schrecken und ihrem Zorn, wer den Pfeil auf sie geschossen und ihren Versuch zunichte gemacht hatte.

Donner hielt gelangweilt einen Bogen in der Hand und grinste sie schelmisch an.

«DU!», knurrte die junge Jägerin und richtete sich auf, als ihr Körper wieder vollständig repariert war. Ihre Finger schlossen sich um den kristallbesetzen Dolch, dass die Knöchel weiß hervortraten.

«Ja, ich», kicherte die alte Frau, der man ihr Alter von über 200 Jahren wahrlich nicht ansah, hässlich und schmunzelte dann. «Mir war langweilig und ich brauchte meinen Spaß. Du hast zu lange gebraucht.»

«GENUG!», donnerte ihre jüngere Schülerin und senkte in bedrohlicher Manier ihren Kopf ein Stück. «Du lässt mich eine unmögliche Aufgabe versuchen. Wieder und wieder und wieder UND WIEDER! Und dann besitzt du die Frechheit, mich einfach abzuschießen, während ich gerade den besten meiner Durchgänge habe?!»

Donner wollte grinsend zu einem weiteren Kommentar ansetzen, doch die Schülerin ließ sie gar nicht zu Wort kommen.

«Ich habe genug von deinen Spielchen», grollte sie, als der violette Kristall in Griff des Dolchs zu leuchten begann. Man konnte förmlich zusehen, wie von ihrer linken Hand ausgehend ihre Blutgefäße durch den Einfluss der Leerenenergie eine violette Färbung erhielten, bis sie schließlich ihren Torso erreichte, von wo aus eine rapide Ausbreitung in alle übrigen Bereiche ihres Körpers stattfand. Selbst ihre Iris wurden von einem dunklen Violett erfüllt. «Jetzt. Ist. Schluss!»

Davon, dass ihre Meisterin große Augen bekam und freudig grinste, bekam sie wenig mit, als sie mit ihrer Rechten zu einem gewaltigen Hieb ausholte.

Donner wich jedoch flink und elegant aus, sodass der mächtige Schlag stattdessen auf die raue Felswand traf.

Einen Moment hielt die Namenlose inne, als sie realisierte, dass sie in ihrer Faust keinerlei Schmerz verspürte, obwohl sie mit einer Kraft auf puren Fels geprügelt hatte, dass ihre Hand eigentlich als blutiger Haufen an ihrem Gelenk hängen müsste. Stattdessen war die Steinwand gesplittert. Stücke waren herausgebrochen und von der Einschlagstelle gingen Risse aus. Zu ihren Füßen sammelten sich kleine Kiesel.

«Wie fühlst du dich?», fragte die Alte erwartungs- und fast hoffnungsvoll, während die Blutbahnen ihrer Schülerin ihre übliche Farbe annahmen.

Ihre Stirn zog sich in Falten, als sie sich langsam umdrehte und ihre Meisterin ansah. Noch immer war sie wütend, aber dieses Gefühlt verzog sich allmählich zugunsten von Neugierde und Verblüffung. «Ich...»

«Ja? Fühlst du Schmerz?»

«Ich... nein», antwortete sie langsam, bevor ihre Augen groß wurden, als sie begriff.

Die Nutzung von Leerenenergie war immer mit Schmerz und höllischen Qualen verbunden. Heiße Nadeln, eisiges Wasser, ausgerupfte Haare, abgezogene Haut und spitze Splitter.

Aber der Schmerz blieb aus. Er war in den Hintergrund gerückt.

Sie hatte ihn verdrängt.

Donners freudiger Ausdruck wurde durch ein dunkles Grinsen ersetzt. «Dann hast du diese Prüfung also endlich bestanden.»

«Was? Aber ich dachte-»

«Die Klippe?» Die Meisterin lachte heiser. «Kindchen, ich sagte dir doch, du missverstehst das Ziel. Deine Aufgabe war es nie, die Felswand zu bezwingen. Du solltest lernen. Disziplin, Ordnung, Zielstrebigkeit. Und du solltest die Furcht verlieren.»

«Die Furcht wovor?»

«Vor allem, das in Schmerz resultieren kann», antwortete sie. «Denn es ist Furcht, die Schmerz erst bemerkbar macht.»

«Und... was bringt mir das jetzt?»

«Ganz einfach. Würdest du in Zukunft wirklich die Macht des Leerengeborenen nutzen, wenn du kannst, obwohl du weißt, dass seine Nutzung mit unsäglichem Schmerz verbunden ist?» Die Worte ihrer Meisterin brachten die Schülerin ins Grübeln. «Natürlich nicht. Jeder normale Mensch hätte Bedenken, was Konsequenzen angeht. Oder kurz: Furcht. Doch du nicht mehr. Du hast vor der Nutzung nicht gezögert. Du kannst das Artefakt tragen, ohne Schmerz und Furcht zu spüren. Denn vergiss nicht: Trotz allem sind die Leerengeborenen Bestien. Intelligent zwar, aber Bestien. Und wer sich wie wir mit Monstern einlässt, muss selbst zu einem werden.»

Die Namenlose brach in nachdenkliches Schweigen aus, wurde darin jedoch jäh wieder unterbrochen.

«Also dann, komm mit. Zeit für deine zweite Prüfung; Die Ausbildung.
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Dass die Tore der Großen Halle aufschwangen, war nichts Ungewöhnliches, aber dieses Mal war es anders, sodass schon nach wenigen Sekunden alle Augen auf den Eingang gerichtet waren, als mehrere Figuren ihn durchschritten.

Sogar die Zwillinge, die sich um eine letzte Hammelkeule stritten und sich uneins darüber waren, wie genau sie denn nun geschwisterlich aufzuteilen war – Taffnuss war der Meinung, er müsse das Fleisch bekommen, wohingegen seiner Schwester der Knochen zustehe – hielten für einen Moment inne. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich gleich weiter zu prügeln.

«Sieh an!», dröhnte eine Stimme aus dem entgegengesetzten Ende der Halle. Eindeutig Haudrauf, auch wenn sein Tonfall klang, als hätte er zwei Met zu viel getrunken. «Der feige Mörder meiner Tochter...»

Sigurds Augen zogen sich zu zornigen Schlitzen zusammen. Seine Schwester und seine Mutter flankierten ihn und ihren Gesichtsausdrücken nach konnten sie nur zu gut mitfühlen.

«Ich will ihn tot sehen!», grölte der Häuptling und gab Lars, dem Vater eines Jungen namens Gustav, ein Handzeichen.

Dieser schritt sogleich auf den blonden Krieger mit gezogener Axt zu, doch da schlich hinter den Hoffersons der weiße Jagdwolf hervor und knurrte bedrohlich, um sich auch vollends bemerkbar zu machen.

«Vorsicht, Lars», beschwichtigte Sigurd sein Gegenüber mit gezwungener Ruhe in der Stimme. «Haudraufs letzter Befehl hat dazu geführt, dass ich jemanden getötet habe, den ich nicht töten wollte. Überlege dir also genau, was du tust.»

Verunsichert blieb der Wikinger stehen. Erst als Schnee noch lauter knurrte und die Zähne fletschte, da ließ er die Axt sinken und trat eilig zur Seite.

Sonst wagte es niemand mehr, sich den drei Hoffersons und dem Wolf zu nähern. So gelangte Sigurd ungehindert an Haudraufs Tisch, wo er sich dem Häuptling gegenübersetzte.

«Bist du hier, um mich zu verspotten?», brummte Haudrauf, während sein Schädel leicht hin und her schwenkte und er seinem Gegenüber tief in die Augen sah. «Erst bringst du meine Tochter um, haust ab und dann reibst du es mir auch noch unter die Nase?»

«Ich habe nur auf deinen Befehl hin gehandelt», erwiderte Sigurd. Er wollte seinem Häuptling noch eine Chance geben, alles ins Lot zu bringen, aber so, wie er sich jetzt schon aufführte, fiel es ihm wirklich schwer.

«Ich habe nicht gesagt, dass du meiner Tochter einen Bolzen in den Rücken jagen sollst!», grollte der Mann mit dem flammenden Bart.

«Du hast mir befohlen, sie aufzuhalten.»

«Und du dachtest dir, mein kleines Mädchen zu töten sei das Beste?»

«Ich habe nicht auf sie gezielt!»

«Hättest du mal besser gezielt!»

«Ich habe perfekt auf Hicks gezielt», entgegnete Sigurd mürrisch und ballte seine Hände zu Fäusten. «Ich bin längst kein Schütze wie Maeri, aber an meinem Schuss war nichts auszusetzen. DU warst es doch, der mir befohlen hat, deine Kinder aufzuhalten! Also habe ich versucht, den Verräter zu erwischen. Deinen Sohn.»

«Ich habe keinen Sohn!», grölte Haudrauf nun.

«Und genau deshalb hast du jetzt auch keine Tochter mehr.»

«Diese Beleidigung muss ich mir nicht bieten lassen, du kleiner Wicht! Ich-»

«Du WIRST dir bieten lassen, was ich zu sagen habe!», fuhr Sigurd ihm zornig dazwischen und schlug mit der Faust auf den Tisch. «Was hätte ich tun sollen? Hätte ich auf den Drachen schießen sollen? Wirklich aufgehalten hätte ihn vielleicht ein einwandfreier Schuss ins Auge oder ins Herz, aber ich bin kein Schütz wie Maeri es war! DU hast MICH gezwungen, unter Androhung der Verbannung eine Entscheidung zu treffen. Wir sitzen hier wegen DIR!»

«Du bist hierher-»

«Ich bin hierhergekommen, richtig! Maeri war meine Verlobte und es war der größte Fehler meines Lebens, an diesem Tag auf dich zu hören. Ich habe sie getötet und ich habe sie betrauert! Ein halbes Jahr lang habe ich getrauert, weil mich an diesem Ort nichts mehr gehalten hat. Aber du...»

«Auch ich habe sie betrauert!», entgegnete der Häuptling. «Und ich tu es immer noch. Erst habe ich Valka verloren und dann auch noch sie...»

«Ja, du hast deine Familie verloren», stimmte Sigurd zu. «Aber du hattest noch etwas, das dich hier hielt und das wusstest du. Deine Verantwortung lag hier in der Leitung des Dorfes. Ich hatte gar nichts.»

«Du hast noch nicht deine ganze Familie vor deinen Augen sterben sehen», brummte er und nahm einen weiteren Schluck Met.

«Und ich dachte, wir wären Wikinger und das sei ein Berufsrisiko.»

«Du bist davongelaufen. Ich bin geblieben.»

«Und jetzt sieh dir Berk an.»

Haudrauf wurde still.

Sigurd beugte sie weiter nach vorn. «Ich verließ Berk in dem Wissen, dass es in guten Händen ist und ich kam wieder mit der Erkenntnis, dass ich mich erneut in dir getäuscht habe. Wann hast du das letzte Mal gegen einen Drachen gekämpft?»

Wieder erhielt er keine Antwort, aber es war erkennbar, wie der Griff des Häuptlings um seinen Krug fester wurde.

«Du hast Berk im Stich gelassen, du hast deine eigenen Leute im Stich gelassen, du hast meinen Vater im Stich gelassen, aber vor allem hast du Maeri im Stich gelassen und ihr Andenken beschmutzt!»

«HALT DEIN VORLAUTES MAUL!», brüllte Haudrauf in einem plötzlichen Wutanfall, richtete sich von seinem Sitzplatz auf und ließ seine Faust auf den Tisch knallen. «WILLST DU DICH PRÜGELN, KLEINER?!

Auch Sigurd stand nun auf, aber wesentlich langsamer und deutlich beherrschter, auch wenn er selbst unglaublich wütend war. «Du siehst deinen Fehler also nicht ein?»

«Ich habe keinen Fehler gemacht!», grollte der Häuptling, beugte sich über den Tisch und ließ nun beide Fäuste als Stütze auf den Tisch knallen, dass dem jungen Krieger sein mit Alkohol angereicherter Atem entgegenstieß.

«Dann lässt du mir also keine andere Wahl», stellte Sigurd fest. «Haudrauf der Stoische, du hast deine Pflichten als Häuptling vernachlässigt, hast den Tod der eigenen Leute in Kauf genommen und deine Macht missbraucht.»

«Was tust-»

«Hiermit fordere ich dich zu einem Duell um den Titel des Häuptlings von Berk heraus. Nenne die Zeit, ich nenne den Ort. Der Kampf wird in der Arena stattfinden. Jeder soll sehen, welch eine jämmerliche Figur aus unserem großen Häuptling geworden ist.»

Wütend brüllte Haudrauf, riss die Bank unter sich in die Luft und warf sie gegen die nächstbeste Säule, bevor er sich an den Herausforderer richtete. «In zwei Stunden, du kleiner Wicht!»

«Du bist betrunken. Das wäre nicht fair.»

«Hast du was an den Ohren oder hast du dir die Hosen vollgemacht?!», fuhr der Häuptling ihn an und wedelte mit einem Finger vor seinem Gesicht. «Ich werde den Boden mit dir aufwischen, so oder so!»
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«Hier, trink», forderte Donner ihre Schülerin sanft auf und deutete auf die Holzschale zwischen ihnen.

Beide saßen sich in der Hütte der alten Heilerin gegenüber.

«Was genau tun wir hier?», fragte die junge Jägerin mit hochgezogener Augenbraue, während sie wie befohlen das Getränk an ihre Lippen führte und einen Schluck nahm.

Ihre Meisterin grinste und nahm die Schale wieder entgegen, bevor auch sie sich ein wenig von dem Getränk selbst einflößte. «Deine nächste Prüfung vorbereiten. Du musst lernen, richtig mit den Kräften des Leerengeborenen umzugehen. Natürlich darf auch die Verwendung menschlicher Waffen dabei nicht fehlen.»

«Und was hat das hier damit zu tun?», fragte die Namenlos und deutete zwischen sich und Donner. Dort lag nun die Schale, in der immer noch ein Rest enthalten war, sowie der Dolch, dessen violetter Kristall leicht glimmte.

«Das ist alles, was wir dafür brauchen», lautete die Antwort und Donner lachte leicht, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Schülerin sah. «Das ist nicht einfach nur irgendein Getränk. In ein paar Sekunden wirst du ziemlich müde werden... Aber vorher...»

Plötzlich schnitt sie mit dem Dolch der jungen Frau über die Handfläche. Sofort wurden ihre Augen schwer und sie hielt sich den Kopf. «Was...», murmelte sie. «Was hast du getan...?»

«Das werde ich dir gleich erklären-»

Sie fiel mit geschlossenen Augen nach hinten...

aber sie kam nicht auf dem Boden an.

Auf einmal war sie wieder auf den Beinen. Sie schlug die Augen wieder auf, aber da war nichts. Es war alles einfach nur schwarz.

«sobald wir da sind.»

Schlagartig drehte sie sich um, auch wenn sie nicht wusste, wo vorne und wo hinten war, aber sie konnte Donner ganz eindeutig erkennen. «Was ist das für ein Ort? Was war das für ein Zeug? Was hast du mit mir gemacht?»

«Du meinst wohl: Was habe ich mit UNS gemacht?», erwiderte die Lehrmeisterin kichernd. «Wir haben unseren Geist gerade mit Kha'Zix verbunden. Und nein, das ist keine Halluzination in Folge des Getränks. Ich bin echt.»

Jetzt war sie vollends verwirrt. «Und was tun wir jetzt hier? Zu welchem Zweck-»

«Du stellst viele Fragen», merkte die ältere Frau lachend an. «Aber ich werde sie dir beantworten. Das hier ist der Ort, an dem wir dich trainieren werden. In der realen Welt vollführen wir Bewegungsabläufe, die sich unser Geist merkt. Unsere Körper hier sind nicht echt, aber sie funktionieren genauso. Wir können also trainieren, ohne wirklich zu trainieren. Du denkst nur, dass es so ist, aber das macht es so wirkungsvoll.»

«Ich verstehe nicht...»

«Natürlich nicht. Lass es mich dir zeigen.» Donner machte eine einzige Handbewegung und die absolute Schwärze um sie herum veränderte sich. Ehe sie sich versahen, befanden sich die beiden Frauen an einem Fluss im Wald.

Der Schülerin stiegen völlig beliebe Düfte in die Nase, aber jeder einzelne von ihnen passte in diese Umgebung. Sogar Tierlaute waren zu hören, und das nicht zu knapp. «Diese Umgebung fühlt sich so...»

«Fühlt sich so echt an? Ganz genau das ist der Plan», vervollständigte Donner lächelnd. «Wir können in verschiedenen Umgebungen», sie wischte wieder mit der Hand und zum Vorschein kam ein Dorf, «mit verschiedenen Waffen», sie ließ einen Bogen und ein Schwert vor der Nase ihrer Schülerin erscheinen, «gegen verschiedene Menschen und Menschenmassen trainieren», und schon standen da zwei bewaffnete Männer vor ihr, die sie mit täuschend echten, wütenden Mienen anstarrten, doch dann ließ Donner sie schon wieder verschwinden. «Und das ohne die Insel zu verlassen.»

Jetzt verstand sie es. Das war der perfekte Ort um zu üben. Obwohl... genau... er war doch perfekt... «Warum hast du mich dann diese Klippe hochklettern lassen, wenn sich hier alles genauso anfühlt?», fragte sie verständnislos.

Der Blick ihrer Meisterin wurde ernst und besorgt. «Weil ich ganz sicher sein wollte, dass du vorbereitet bist. Und ganz sicher konnte ich nur sein, indem ich dich wirkliche, physische Schmerzen spüren lasse. Denn so wie die Leerenenergie unglaubliche Qualen zufügt, so tut es auch der Geist des Leerengeborenen, der damit verbunden ist.»

Die Namenlose konnte auf einmal eine unangenehme Präsenz hinter sich spüren, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Langsam drehte sie sich um.

Und sah in die neongrünen, pupillenlosen Augen von Kha'Zix dem Räuber.

Sie konnte hören, wie er leise insektenartige Klicklaute von sich gab und Donner schief ansah.

Und da war sie wieder: Die Stimme, die ihr jedes Mal eine Gänsehaut aufdrängte.

‹Können wir beginnen?›
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Auf Berk war die Stimmung mindestens ebenso bedenklich. Das halbe Dorf hatte sich um die Arena versammelt, in dessen Mitte sich zwei Kontrahenten aus gegenüberliegenden Seiten trotzig anstarrten. Die andere Hälfte des Dorfes hatte ganz andere Sorgen, denn das Dorf war immer noch komplett zerlegt.

Sigurd wurde von seiner Familie unterdessen viel Glück gewünscht, während Haudrauf noch einen letzten Krug Met schlürfte, bevor er ihn einfach zur Seite warf und seinen Hammer zückte.

Der junge Hofferson zog seine Axt vom Rücken. «Astrid!», rief er und winkte seine Schwester heran, die sich gerade erst wieder entfernen wollte. Mit hochgezogener Augenbraue ging sie wieder auf ihren Bruder zu, der seine Axt noch einmal ansah und sie ihr dann mit dem Stiel voran hinhielt.

Ihre Augen wurden groß und ihr Mund klappte auf, doch schließlich schüttelte sie den Kopf. «Nein, das... das kann ich nicht annehmen.»

«Nimm sie, Schwester», sprach er sanft und lächelte traurig. «Als Besitzer dieser Axt habe ich Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Ich habe meine eigene Verlobte getötet und mich dann ein halbes Jahr feige im Wald versteckt. Das ist die Axt unserer Mutter und ich bin ihrer nicht würdig. Mach du es besser. Bitte.»

Ihr Mund klappte auf, ging wieder zu und ging wieder auf, bis sie schlussendlich doch die Waffe mit einem schweren Seufzer annahm. «Und womit wirst du kämpfen?»

«Ich habe mir schon etwas organisiert», entgegnete er lächelnd und sah Grobian entgegen, der gerade gemeinsam mit Schnee die Arena betrat. «Wünsch mir Glück.»

«Du wirst es nicht brauchen», entgegnete sie zwinkernd, während sie sich umdrehte und auf den Eingang der Arena zuging. «Du bist ein Hofferson.»

Er lachte leise, wandte seinen Blick dann aber gen Grobian, der zu seiner Zufriedenheit mit zwei Einhandäxten ankam.

«Hier, Minjung. Wie du verlangt hast. Die besten aus meinem Sortiment. Also... zumindest was davon noch übrig ist.»

«Danke, Grobian.» Freundlich lächelnd legte er eine Hand auf die Schulter des Schmieds, während er mit der anderen die beiden Äxte in die andere Hand nahm.

«Eins noch, Jungchen.»

«Hm?»

«Bring ihn nicht um, ja? Aber klopp ihm wenigstens seinen Verstand wieder in den Schädel.»

«Ich hatte nichts anderes vor», versicherte Sigurd und nickte.

Ebenfalls nickend wandte sich nun auch Grobian mit einem abschließenden „Viel Glück" dem Eingang zu, aber Schnee blieb noch ein wenig, stellte sich auf die Hinterpfoten, legte seine Vorderpfoten auf die Schultern des jungen Kriegers und schleckte ihm ein, zwei, drei Male quer über sein Gesicht.

«Bwah!», machte Sigurd angewidert und drehte sich weg, lachte dann aber, als der weiße Wolf von ihm abließ und kniete sich vor das große Geschöpf. «Wünsch mir Glück, Großer.»

Schnaufend blies der Jagdwolf ihm heiße Luft ins Gesicht und legte seinen Kopf über dessen Schulter, sodass Sigurd ihn angemessen umarmen konnte. Nachdem er ihm ein paar Male durch das weiche Fell fuhr, ließ er ihn schließlich los. Auch Schnee verließ ihn nun.

«Kämpfen wir nun heute noch?», tönte Haudrauf von seiner Seite und schwang probehalber seinen Hammer

Sigurds Augen verengten sich, als er sich auf die Füße stellte und jede von Grobians Äxten in eine Hand nahm. Sie waren verdammt gut ausbalanciert. Der Schmied hatte zu seiner Zufriedenheit eine sehr gute Wahl getroffen.

«Meinetwegen kann's losgehen», verkündete der junge Hofferson und gab der Stammesältesten Gothi ein Nicken.

Kurz darauf schlug ihr Stab auf den steinernen Boden. Das Duell hatte begonnen.

Haudraufs Miene verzog sich schlagartig, als er ein paar schnelle Schritte in Richtung seines Kontrahenten machte. «Dann bekomme ich also endlich meine Rache!», rief er und holte mit seinem Hammer zu einem Überkopfschlag aus.

Sigurd versuchte erst gar nicht, den Hammer abzublocken, sondern wich ihm stattdessen seitlich aus. «Und womit genau rechtfertigst du deine Rache?», entgegnete er kalt, bevor ein darauffolgender seitlicher Schlag auf ihn zuflog, dem er mit einem flinken Sprung nach hinten ebenfalls auswich.

«Mit dem Tod meiner Tochter, du arroganter Bengel!» Der seitliche Schlag des Häuptlings, der ins Leere ging, wurde direkt fortgeführt, indem er einfach eine vollständige Drehung machte und im Endeffekt denselben Schlag aus derselben Richtung ausführte.

Hastig drehte der Herausforderer sich unter dem wilden Schlag durch, drehte sich an dem Häuptling vorbei und rammte ihm einen Axtstiel in die Kniekehle, sodass der ältere Krieger wütend knurrend einknickte. Er reagierte jedoch schnell und schwang Sigurd seine Faust hinterher.

Ächzend empfing der junge Hofferson den Hieb in die Magengrube, der ihn prompt zurücktaumeln ließ.

Das bedeutete eine Atempause für beide.

«Ich hatte nie die Absicht, sie zu töten», erklärte er atemlos, während er nach Luft schnappte, die er auch schließlich wiederfand und er sich somit von dem Schlag erholte, während sich Haudrauf mit einiger Mühe aufstemmte. «Du jedoch hattest die volle Absicht, mich zu verbannen, sollte ich mich weigern zu schießen.»

«Denkst du, das macht es besser?!»

«Nein, aber im Gegensatz zu dir erkenne ich meine Schuld an. Und du bist für den Tod so vieler anderer Berkianer verantwortlich», entgegnete Sigurd und schwang wieder probehalber seine Äxte. Auch der Häuptling hob wieder seine Waffe und machte sich kampfbereit. «Ich habe mehrere Gesichter derer nicht gesehen, die dich vor einem halben Jahr noch bedingungslos unterstützten, als Hicks seine Prüfung an eben diesem Ort ablegte.»

«Halt dein Maul und KÄMPFE!», brüllte der Mann mit dem feuerroten Bart auf einmal und stürzte sich erneut auf den Herausforderer.

Wieder duckte sich der Jüngere unter dem Schlag weg und verpasste nun auch dem Häuptling einen Hieb in die Magengrube, der allein durch das Tempo des Heranstürmenden noch einmal in seiner Kraft verstärkt wurde. Als Haudrauf die Luft aus den Lungen wich und er zwei Schritte zurück machte, ließ Sigurd jedoch nicht locker, sprang ihm hinterher und schlug mit dem metallverstärkten Ende des Axtstiels gegen seine Kniescheibe, dass es unangenehm krachte.

Das Gesicht des Häuptlings verzog sich vor Schmerz, doch er konnte nicht einfach auf ein Knie sinken, denn auf das Zertrümmerte konnte er sich weder stützen noch knien. Also verlagerte er schmerzerfüllt sein Gewicht auf sein unverletztes Bein.

Unterdessen nahm sich Sigurd etwas mehr Zeit, dem Mann ins Gewissen zu reden. «Ich sah keinen Halvar Gunnarson, keine Helga Magnusson und die gesamte Familie Ivarson. Nicht einmal ihre zwei Söhne. Sie alle waren enge Bekannte meiner Familie. Auch mein eigener Vater kann heute nicht hier sein. Und das alles wegen einem einzigen Mann. Weil dieser Mann nicht imstande war, sein eigenes Volk zu verteidigen oder zumindest den einfachen Befehl zu geben, auf einen Stellvertreter zu hören, der seine Aufgaben erledigen würde.»

Bei dem Versuch, auf Sigurd zuzustürmen, knickte Haudrauf kurz ein und verzog das Gesicht. Sein Gegner konnte also einfach ungerührt weiterreden. Und die Leute schienen ihm zuzuhören.

«Mein Vater starb, weil sich die Menschen Berks noch immer ihrem Häuptling zugehörig fühlten. Einem Häuptling, der seit Monaten nichts anderes tat, als zu saufen und sich gelegentlich mit jemandem zu prügeln. Sieh dich doch an! Du kannst nicht mehr kämpfen wie früher, geschweige denn klar denken. Die letzten Monate haben dich schwach gemacht. Du bist nicht mehr der Mann, der du mal warst.»

In einem letzten Versuch stürzte sich Haudrauf noch einmal brüllend und hammerschwingend auf den jungen Mann, der seinen Ruf in den Schmutz zog, die Schmerzen so gut es ihm eben möglich war ignorierend.

Die letzten Monate hatten ihn viel von seiner Kampfkunst und Finesse gekostet. Es gab Zeiten, da war er unumstritten der wohl beste Krieger weit und breit. Viele Berkianer hatten jedoch auch den Aufstieg des jungen Hofferson bemerkt und wussten, dass er dem Häuptling als Krieger in nichts nachstand. Doch jetzt, da Haudrauf durch Monate der Selbstvernachlässigung zurückstecken musste, war die Rangfolge klar.

Mühelos konnte sich Sigurd schon wieder unter dem Schlag wegducken, brachte eine seiner Äxte hinter Haudraufs Ferse von seinem gesunden Bein und zog einmal kräftig, sodass er den einst so mächtigen Häuptling von den Füßen hob. Noch während des sehr überraschenden Falls führte der junge Herausforderer den Axtstiel seiner zweiten Waffe an die Brust des Kolosses und verband ihn hart mit dem Solarplexus, als Haudrauf auf dem Boden aufschlug.

Kurz rang er nach Luft und hob den Kopf, bevor sich seine Augen schlossen und er in Ohnmacht sank.

«Und jetzt bist du auch kein Häuptling mehr», sprach Sigurd mehr zu sich selbst als zu dem Mann, der ihm vorher nicht zuhörte und jetzt erst recht nicht.

Ein kurzer Moment der Stille folgte. Viele fanden es besser so, dass Haudrauf besiegt wurde, aber es betrübte sie, dass der Kampf ein verhältnismäßig so kurzer war. Für eine Legende wie ihn war das... erniedrigend. Und auch für sie selbst als Volk von Berk, dass dieser Mann trotz allem so lange noch ihr Häuptling geblieben war.

Die Stille blieb, bis sich Grobian zu Wort meldete: «Der Kampf ist entschieden», verkündete er laut.

«Lang lebe der Häuptling von Berk!»
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Lang, lang ist's schon wieder her, aber auch dieses Kapitel ist schon wieder so lang wie zwei, also... hab ich ne Entschuldigung? Nicht? Nein?

Pech für mich, schätze ich :D

Aber ich hoffe natürlich trotzdem, dass auch dieses Kapitel jedem gefallen hat :)

Als nächstes kommt dann wohl wieder ein Kapitel für den „Wächter des Flügels". Mal gucken, ob das ein wenig einfacher wird. Über dieses folgende Kapitel hab ich nämlich schon eine ganze Weile nachgedacht. Wir werden sehen, was draus wird ^^

Na, dann werde ich wohl jetzt auf eintrudelnde Reviews warten, dass ich schon wieder so lange gebraucht habe und dass erneut viel zu viel Geld für meine Grabpflege aufgewandt wurde :P

Keine Bange, schreibt was ihr wollt :D
Ich freue mich über jedes Review und jeden Kommentar

Dann auf bald. Hehe

LG Haldinaste ;)

P.S.: Im nächsten Kapitel kommt wieder etwas mit Hicks, keine Sorge :D

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