#11 Managerin

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"Ich werde eure Managerin!"
Entschlossen sah ich den Kapitän Seijohs an. Er schien kaum verwirrt von meiner plötzlichen Entscheidung, aber zufrieden über diese.
"Bist du dir sicher?"
Iwaizumi sah besorgt zu mir hinab. Nicht so wie ich, hatte er daran gedacht, dass ich noch mit meinen Freunden darüber sprechen wollte. Aber irgendwie war ich mir sicher, dass sie mir diese Entscheidung nicht übel nehmen würden. Aber was, wenn es sie dennoch enttäuscht? Trotzdem stehen Freunde doch hinter der Entscheidung des jeweils anderen, oder nicht?
"Ich habe nichts anderes von dir erwartet, Yui-chan.", sagte Oikawa plötzlich ziemlich ruhig und ernst. Auf seinen Lippen lag dennoch ein Lächeln. Und diesmal schien es nicht so vorgetäuscht und auch nicht fremd. Irgendwie wirkte es echt, als würde er sich wirklich über meine Entscheidung freuen. Auch seine Augen glänzten mir entgegen. Noch immer konnte man ihre Neugier aber nur zu gut erkennen. Trotzdem schien ihn diesmal keine Unwissenheit zu plagen. Es fühlte sich wieder so an, als könne er all meine Gedanken durch meine Augen hindurch einfach so ablesen. Als wäre ich ein offenes Blatt, ganz einfach zu entziffern. Und mit seinem durchdringlichen Blick, wie er von oben zu mir hinab sah, wirkte er mir überlegen. Er wusste, dass ich mich für die Stelle der Managerin entscheiden würde. Es schien so, als hätte er lediglich auf den perfekten Moment gewartet, um eine Antwort von mir zu bekommen. Er wusste, welche Leidenschaft ich für diesen Sport habe und auch, wie viele Erinnerungen ich mit ihm verband. Er ahnte, dass es einen Grund gab, weswegen ich die ganze Zeit über gezögert hatte. Aber trotzdem wusste er, dass ich mich meiner Leidenschaft früher oder später hingeben würde.
All das jedoch änderte nichts an seiner Neugier. Er wollte wissen, was mich an der Entscheidung zögern ließ, trotz meiner starken Leidenschaft.
Verdammt ist das frustrierend.
Ich wusste doch, wie schlau er ist und auch, wie gut seine Beobachtungsgabe ist. Natürlich würde er seine Neugier nicht einfach so abstellen.
Und schon wieder war es ein Moment, indem ich mich ihm unterlegen fühlte. Indem ich mich beobachtet fühlte. Wie ich mir nämlich dachte - Wenn ich ihm nicht sage, von welcher Schule ich komme, findet er es früher oder später selbst heraus.
"Du wirkst unsicher, Yui-chan."
Seine Stimme war tief und ruhig, aber seine Augen fixierten meine noch immer genau.
"Was ist der Grund für deine Anspannung?", fragte er, während er seine Augen leicht verengte. Er dachte nach. Er kennt den Grund noch nicht. Aber wenn es so weiter geht, dann wird er es bald herausfinden, aber dafür ist es noch zu früh. Vielleicht nicht für ihn, aber für mich. Das Gespräch mit meinen Freunden hatte noch immer Vorrang. Bevor ich es nicht mit ihnen führen kann, kann ich Oikawa nicht die ganze Wahrheit erzählen. Aber mit einer einfachen Ausrede würde er sich diesmal nicht zufrieden geben. Ich musste ihm irgendetwas erzählen, etwas, was nicht zu viel aber auch nicht zu wenig verraten würde.

"Es ist meine alte Schule, Oikawa."
Meine Stimme klang brüchig und unsicher, woraufhin der angestrengte Blick des Zuspielers zu einem entspannten wich.
"Was würdest du machen, wenn du plötzlich die Schule wechseln musst, weil sich deine Eltern getrennt haben? Wenn du plötzlich in eine unbekannte Stadt ziehst? Wenn du all deine Freunde und deine Heimat zurücklassen musst?", fragte ich und fixierte seine Pupillen dabei kurz genau, um die anderen Spieler danach wieder beim Üben zu beobachten.
"Natürlich liebe ich diesen Sport und natürlich macht es mir Spaß, ein Team auf ihrem Weg zu begleiten. Aber ich bin unsicher darüber, ob es die richtige Entscheidung ist, weil ich doch vor kurzem noch an der Seite meiner Freunde war. Würden sie sich nach fast drei Jahren hintergangen fühlen, wenn ich plötzlich ein anderes Team begleite? Ein Team, was ein Rivale für sie ist, wenn sie ihm auf dem Spielfeld gegenüberstehen. Und für wen freue ich mich, wenn er gewinnt? Für wen trauere ich, wenn er verliert? Kann ich mich über einen Sieg freuen, oder über eine Niederlage trauern?"
Ich merkte, wie meine Stimme immer brüchiger und verzweifelter wirkte. Ich war den Tränen diesmal zwar nicht nahe, aber ich hatte Angst. Angst davor, dass sich alles plötzlich erneut verändern würde. Angst, dass weder meine Freunde, noch Seijoh hinter mir steht. Würde ich mich für Seijoh freuen, wenn sie gegen Karasuno gewinnen? Würde ich mit Karasuno trauern, wenn sie gegen Seijoh verlieren? Und andersherum genauso? Mit wem würde ich fühlen?
"Als eure Managerin, sollte ich bei einem Sieg oder einer Niederlage mit euch fühlen. Aber als Freundin und alte Managerin meiner alten Schule, sollte ich mich mit meinen Freunden freuen oder mit ihnen trauern. Also, was ist nun richtig? Zu wem muss ich stehen?", fragte ich direkt an Oikawa gerichtet. Er schien zu überlegen, was er antworten sollte. Aber eine Antwort lag ihm bereits auf den Lippen, das zeigten seine entspannten Gesichtszüge. Er dachte nicht angestrengt über meine Frage nach, sondern schien nur nach den richtigen Worten zu suchen.
"Wer sagt, dass du nicht beides kannst? Trauer mit dem, der verliert und freue dich mit dem, der gewinnt.", erklärte er und lächelte mich dabei an. Sein Blick war sanft und verständnisvoll, seine Gesichtszüge schienen noch immer komplett entspannt und diesmal konnte ich keine Neugier in seinen Augen erkennen. Es war verwirrend. Wegen was genau war er zuvor so neugierig gewesen? Ich ging bis jetzt davon aus, dass er unbedingt wissen wollte, von welcher Schule ich kam. Aber jetzt scheint es eher so, als wollte er wissen wieso ich gezögert hatte sein Angebot anzunehmen. Interessierte es ihn also gar nicht von welcher Schule ich kam? Hatte ich mir einfach zu viele Gedanken über seine Reaktion gemacht, dass ich nicht ganz mitbekommen konnte was ihn wirklich interessierte?
"Und wegen sowas zerbricht du dir ernsthaft den Kopf?", lachte er plötzlich leise und legte dabei eine Hand auf meinen Kopf. Natürlich, seine Antwort war einfach aber dennoch so ehrlich. Ich könnte mich mit Seijoh freuen oder mit ihnen trauern. Aber ich kann das gleiche auch mit Karasuno. Nur weil ich Seijohs Managerin bin, heißt das nicht, dass ich nicht mit Karasuno mitfühlen kann. Sollten sie wirklich eines Tages als Gegner auf dem Spielfeld stehen, freue ich mich mit dem, der gewinnt und trauere mit dem, der verliert. Auch wenn ich dann vermutlich von meinen Emotionen hin und her gerissen werde, stehe ich zu beiden Teams.
"Und außerdem, bist du dir so sicher, dass die Volleyballmannschaft deiner alten Schule in Zukunft auf unsere trifft?", fragte er leicht neckend. Er versuchte mich aufzumuntern. Wusste er vielleicht, wie schwierig diese ganze Situation für mich war? Nein, er hatte Verständnis dafür und wollte nicht, dass ich mir weiterhin Gedanken darüber machte. Es ist so, wie Iwaizumi sagte. Oikawa ist trotz seines verwirrenden Charakters kein unzuverlässiger Freund, sondern ein eigentlich guter Mensch. Früher dachte ich noch anders darüber. Aber was soll man auch anderes denken, wenn man Oikawa nur von seiner bedrohlichen und überheblichen Seite kennenlernt? Aber so wie es scheint, hat er auch eine sanfte Seite. Eine Seite, die mir beweist, dass ich mich sehr in ihm getäuscht hatte. Aber dennoch..
"Natürlich! Wer sagt denn, dass sie schlecht sind?", fragte ich etwas beleidigt wegen seiner überheblichen Frage.
"Ich habe nicht davon geredet, dass sie schlecht sind. Aber es würde mich wundern, wenn sie gut genug sind, uns auf dem Spielfeld zu schlagen.", erklärte er und nahm seine Hand wieder von meinem Kopf.
"Bis jetzt haben wir hauptsächlich jedes Jahr gegen die Shiratorizawa verloren.", fügte er nachdenklich und leicht verärgert hinzu.
Ja, das war mir doch klar. Die Shiratorizawa ist nunmal die stärkste Mannschaft unserer Präfektur. Aber vielleicht könnte es sich dieses Jahr ändern. Nicht nur Seijoh scheint sich gut auf das Frühlingstunier vorzubereiten, Karasuno ist auch nicht zu unterschätzen. Zunächst steht aber zuerst das Oberstufentunier an. Nicht nur für Seijoh, auch für Karasuno wird es also ein Tunier, bei dem sie ihre Grenzen überschreiten können. Ob es Seijoh wieder ins Finale schafft? Ob Karasuno sie vielleicht schlagen kann? Und ob Shiratorizawa wieder gewinnen wird?
"Ich bin gespannt, was uns die Zukunft bringen wird.", seufzte ich. Aber diesmal war es aus Erleichterung. Irgendwie hatte ich nämlich das Gefühl, dass sich langsam alles zum besseren verändern würde. Und vor allem, dass ich Oikawa definitiv falsch eingeschätzt hatte und ihm etwas schuldig bin. Auch wenn ich es die ganze Zeit nicht einsehen wollte, aber Oikawa scheint wirklich ein guter Mensch zu sein. Nur weil er auf dem Spielfeld überheblich wirkt, muss sein Charakter nicht auch so sein. Ich bin mir sicher, dass das alles seine Gründe hatte. Früher oder später werde ich sie vielleicht erfahren. Und außerdem.. schien die Neugier in seinen Augen komplett erloschen zu sein. Ich konnte keinen einzigen Funken von dieser Neugier erkennen. Wollte er also wirklich die ganze Zeit über nur wissen, wieso ich bei seinem Angebot gezögert hatte? Aber dennoch.. wie würde er reagieren, wenn er herausfindet, dass ich zuvor bei Karasuno war? Wie würde er reagieren, wenn er ihnen dann auf dem Spielfeld begegnet? Wäre er noch immer so überheblich und bedrohlich oder würde er sie verschonen? Ihnen keine dummen Sprüche an den Kopf werfen und sie nicht provozieren? Oder würde er meine Position als Managerin genau für diese Zwecke ausnutzen? Um sie zu provozieren und somit zur Unruhe zu treiben? Egal wie sehr ich auch darüber nachdachte, Oikawa war wie ein weißes Blatt, was man zuvor in Wasser getaucht hatte. Würde man jetzt versuchen, etwas auf dieses Blatt zu schreiben, würden alle Schriftzeichen verschwimmen. Sie würden unvorhersehbare Formen annehmen und undenkbare, verschwommene Linien auf dem Blatt ziehen. Es war genauso, wie Oikawas Reaktion, die ich weder einschätzen, noch vorhersehen konnte.

Liberty [Oikawa x OC] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt