18. Kapitel

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             Hayes sah Toran lange an. Auf seinen markanten Zügen und in seinen Augen spiegelten sich unendlich viele Gefühle auf einmal wieder. Ich konnte sie nur schwer deuten. Es war ein Gemisch aus Trauer aber auch das Gefühl von Rührung und Freude. So sah es jedenfalls für mich aus. Dann schlich sich schließlich ein Lächeln auf seine Lippen. »Ich weiß deine Worte sehr zu schätzen. Danke, Toran«, sagte Hayes zu ihm und sah dann auch alle anderen an. Einen Moment holte er tief Luft und schien sich fassen zu wollen. »Es tut mir leid, dass ich euch Sorgen bereitet habe. Das war nicht meine Absicht. Ich konnte euch nur nicht mehr unter die Augen treten. Es tut mir wirklich leid«, erklärte er ihnen, mit Reue in seinen grünen Augen. Eine Reue, die mir die Kehle zuschnürte. Es tat ihm wirklich leid, nur hatte er zu dem Zeitpunkt keinen anderen Ausweg gesehen, da er sich geschämt hatte. So sehr, dass er weggelaufen war. »Du hättest dich für nichts schämen müssen, Hayes. Egal, was passiert ist«, schaltete sich Lorcan an. Sein Blick war sanft, wie seine Stimme. Ich bewunderte ihn dafür.
               Von außen wirkte er wie ein harter Kehl, ein Alpha der vor nichts Halt machte. Doch er war ein herzensguter Mensch, der niemals zulassen würde, dass es seiner Familie schlecht ging. Niemals. Da war ich mir einfach sicher. Es gab nur einen, der so war. »Doch. Ich habe Lucie nicht beschützt. Es war meine Aufgabe sie zu beschützen. Aber ich bin gescheitert. Kläglich«, widersprach Hayes ihm. Lorcan rollte mit den Augen. »Es war ein Hinterhalt. Woher hättest du das wissen sollen?« Hayes sah ihn lange an und schien tatsächlich über seine Worte nachzudenken.
             »Trotzdem. Ich hätte nicht so naiv sein sollen«, widersprach er weiter. Einfach so. In seinem Blick lagen Schuldgefühle und er sah Lucie an. Ich wusste, dass er sich die Schuld gab, dass sie so war. Das wusste ich einfach. Das war aber kein Grund. Es war nicht allein seine Schuld. Niemals. »Es ist nicht deine Schuld, Hayes«, sprach Lucie meine Gedanken aus. Hayes betrachtete sie und ich glaubte Tränen in Augen der beiden zu sehen. Nervöse Stille herrschte am Tisch. Niemand wagte zu sprechen.
             Sie alle warteten auf Hayes Antwort. Immer länger und länger. Auch ich wartete darauf. »Doch. Es ist meine Schuld, dass du so gelitten hast. Lorcan hat mir erzählt, dass du dich nicht verwandelt hast in diesen drei Jahren. Kein einziges Mal. Auch, weil ich nicht da war. Also ist es meine Schuld. Außerdem habe ich dich nicht beschützt. Deswegen musstest du aus Notwehr Leute töten.« Stille herrschte. Hayes letzte Worte hallten in meinem Kopf wider. Immer wieder. Sie hatte töten müssen. Dieses Mädchen hatte mit 14 schon getötet. Jetzt verstand ich. Zwar nicht alles, aber ihre Veränderung machte Sinn.
             Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich hatte mit Tränen zu kämpfen. In dem jungen Alter hatte sie viel auf sich nehmen müssen, nur um sich selbst zu retten. Um Hayes zu retten. Mein Magen drehte sich um und ich musste mich an der Tischkante festkrallen, um nicht vom Stuhl zu fliegen. Der ganze Tisch war still. Alle sahen betreten auf ihre Teller und sagten keinen Ton. Sie schienen nicht mal zu atmen. Lucie lächelte traurig. »Das ist aber auch nicht deine Schuld. Es war meine Entscheidung mich nicht mehr zu verwandeln, nachdem meine erste Verwandlung damit geendet hat, dass ich andere umgebracht habe.«
             Hayes wollte zum Widerspruch ansetzen, doch Lucie fuhr bereits fort. »Außerdem war es auch meine Entscheidung nicht mit allen darüber ehrlich zu sprechen. Ich habe alles lange für mich behalten und mich verschlossen. Nur weil du nicht da warst. Es war meine Entscheidung. Ich war ja eigentlich nicht allein, habe mich aber so gefühlt. Hör auf, dir die Schuld zu geben.« In ihrer Stimme schwang viel Ernst mit, doch ich wusste, dass Hayes sich nicht so schnell umstimmen lassen würde.
             Niemals. Das Gefühl von Schuld hatte sich zu tief in ihn gegraben. Viel zu tief. Es gab kein Entkommen mehr. Noch nicht jedenfalls. Lucie musste es erst besser gehen, bis er sich langsam verzeihen konnte. So wirkte es jedenfalls auf mich. Er wirkte nicht so, als wäre alles von heute auf morgen für ihn vergessen. Besorgt musterte ich meinen Gefährten, der angespannt neben mir saß und eine Hand zur Faust geballt hatte. Er sah nicht glücklich aus. Eher im Gegenteil. Er schien sich noch immer die Schuld zu geben.
             »Und warum hast du dich allein gefühlt? Genau, weil ich einfach gegangen bin«, argumentierte Hayes und ein schmerzvolles Ziehen durchzog meine Brust. Ich hörte den Schmerz in seiner Stimme. Diese Schuldgefühle. Ich hörte es. Und es tat weh. Sehr weh. »Hayes, hör auf damit. Ich hatte meinen Bruder. Ich hätte mich nicht allein fühlen müssen. Ich hatte ihn und Nera und das Rudel. Es ist nicht deine Schuld und wenn du jetzt noch einen Ton dazu sagst, schlage ich dich. Ich meine es ernst.«
           Auf Hayes Lippen erschien ein kleines Lächeln bei ihrem letzten Satz. Es schien ein echtes Lächeln zu sein, doch sicher war ich mir da nicht. Er widersprach ihr jedenfalls nicht weiter, sondern machte sich wieder daran, weiter zu essen. Langsam aber sicher taten es ihm alle gleich. Nur ich musterte ihn etwas länger und machte mir Sorgen um ihn. Wie von selbst glitt meine Hand zu seiner und ich drückte sie fest. Er hob den Blick und sah mich an. Zögerlich lächelte ich.
               Nach einer Weile erwiderte er meinen Händedruck und darüber war ich mehr als froh. In dem Moment glitt sein Blick wieder zu den Männern, die alle mit am Tisch saßen. Ihre Blicke lagen auf mir. Außer die von Toran und Lorcan. Und noch einer sah mich nicht an, seinen Namen kannte ich aber nicht. Ein Muskel an Hayes' Kiefer zuckte. Bevor es aber ausarten konnte, zog ich ihn zu mir und drückte einen Kuss auf seine Wange. Als er sich zu mir drehte, war die Farbe seiner Augen eine Nuance dunkler als zuvor. Mal wieder. Ein Beben ging durch seinen Körper.
            Instinktiv wusste ich, dass er nur seinen inneren Wolf zurückhalten musste, nicht über mich herzufallen. Allerdings störte mich dieser Gedanke nicht, dass er mich hochziehen könnte, mich in ein Zimmer ziehen würde und mich küssen würde, bis meine Lippen wund waren. Im Gengenteil. Dieser Gedanke war so aufregend, dass ein heißes Kribbeln durch meinen Bauch jagte. Allein diese Vorstellung mochte ich. Doch es wäre nicht sehr freundlich, dass zu tun, während man zu Besuch war.
             Seine Berührung und sein stechender Blick sorgte dafür, dass die Luft zwischen uns knisterte und mir ganz heiß wurde. In meinem Bauch kribbelte es. Obwohl es seine Reize hätte, jetzt von ihm geküsst zu werden, da ich die Begierde in seinen Augen sah. Schon lange wollte er mehr, hielt sich aber immer wieder zurück, als hätte er Angst mir damit wehzutun. Als hätte er Angst, dass er mich verschrecken könnte. Ich wusste nicht genau, was es war. Ich wusste nur, dass ich ihm nicht mehr lange gab, denn ich auch kam langsam aber sicher an meine Grenzen.  Bevor ich aber weiter darüber nachdenken konnte, löste er seinen Blick von mir und aß weiter.
              Meine Hand ließ er ebenfalls los, was dafür sorgte, dass das Knistern in der Luft verschwand und das Kribbeln langsam aber sicher verschwand. Also machte ich mich wieder daran zu essen. Nach und nach beendeten alle ihr Essen und warteten gespannt auf die Nachspeise. Nera stellte Cookies, sowie Muffins auf den Tisch, über sie sich alle begierig stürzten. Hayes war der erste, der sich zwei Muffins schnappte und mir somit einen sicherte. Das Rudel schien gefräßig zu sein. Während ich mit diesem Muffin kämpfte, da es langsam zu viel wurde, schlangen manche bereits den dritten Muffin hinunter und sie hatten sicher auch mehr gegessen als ich.
              Etwas sprachlos sah ich ihnen dabei zu und konnte meinen Augen nicht ganz trauen. Natürlich aßen sie anders als normale Menschen aber dass sie so viel verdrücken konnten, war ein Wunder. Ein großes Wunder. Ich beobachtete sie lange dabei, da ich meinen Muffin bereits verschlungen hatte. Erst nach guten zehn weiteren Minuten war das Essen für beendet erklärt. Dennoch bewegte sich keiner, fast so, als hätten sie Angst, dass der schöne Moment dann vorbei sei. In gewisser Weise war er das auch sicher. Vorbei.
             Hayes hatte sich noch nicht ausgelassen, wie lange er bleiben wollte. Er hatte nur gesagt, dass wir zum Essen eingeladen waren. Ich wusste nicht, wie lange er bleiben wollte. Alle beeilten sich den Tisch abzuräumen, nur Hayes wirkte noch immer etwas verloren. Er saß am Tisch und rührte sich minutenlang nicht. Erst, als die meisten abgeräumt hatten, stand er roboterartig auf. Wie ferngesteuert.
                Seine Haltung machte mir einen Moment lang Angst. Besonders die ausdruckslose Miene, die auf seinen scharfen Zügen lag. Bevor ich allerdings etwas zu ihm sagen konnte, stand er einfach auf und lief davon. Sein Weg führte ihn zur Treppe. Unsicher sah ich ihm dabei zu, wagte es nicht, mich von dem Holzstuhl zu erheben. Eher im Gegenteil. Ich blieb sitzen und sah zu, wie er nach oben verschwand. Hilflos sah ich auf die Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte.
               Er war einfach fort. Einfach so. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Verunsichert, was ich tun sollte. Dafür schien es keine Antwort zu geben. Erst als Nera ins Zimmer kam und bemerkte, wo ich hinsah, schien sich Hoffnung breit zu machen. »Geh ihm nach. Er ist sicher auf dem Balkon«, sagte sie, ohne zu zögern. Fragend sah ich sie an, erhob mich aber schleppend langsam. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln, was ihre Wangen nach oben zog, die leicht gerötet waren.
              »Auf welchen?«, fragte ich, da ich einen Rundbalkon gesehen hatte, der um das ganze Haus ging. »Der in meinem Zimmer«, erwiderte sie. »Gleich die erste Türe, wenn du nach oben kommst.« Etwas erstaunt sah ich sie an und fragte mich wie Hayes es wagen konnte, durch ihr Zimmer zu gehen. Dennoch lächelte ich dankbar und eilte nach oben. Fast flog ich die Treppe nach oben. Immer schneller trugen mich meine Beine, während mein Herz wild klopfte. So wild, dass ich befürchtete, dass er es jetzt schon hören könnte.
             Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, während ein nervöses Kribbeln durch meinen Bauch jagte. Mit jeder Sekunde wurde es kräftiger. Stärker. Es ebbte erst etwas ab, als ich Hayes sah, der seine Arme auf dem Geländer abgestützt hatte und in die Ferne blickte. Für eine Sekunde stand ich unsicher im Türrahmen und rührte mich nicht. Dann lief ich zu ihm. Obwohl er noch immer den Blick auf den Wald gerichtet hatte, dessen Baumkronen im Licht der Sonne golden leuchteten, wusste ich, dass er mein Kommen bemerkte.
               Ich sah es daran, wie ein kleines Beben durch seinen Körper ging. Langsam ging ich zu ihm und blieb etwas hinter ihm stehen. Im einen Moment überlegte ich noch, dann schlang ich einfach meine Arme von hinten um ihn. Dieses Bedürfnis hatte ich schon die ganze Zeit gehabt. Einfach, um für ihn da zu sein. »Ist alles okay?«, fragte ich leise. Ich spürte, wie sich seine Hände auf meine legten und er sanft mit dem Daumen über meinen Handrücken strich. »Jetzt schon«, hauchte er.
               Seine Antwort löste ein Lächeln meinerseits aus. Ich spürte, wie meine Wangen nach oben gezogen wurden. Dennoch machte mir seine Antwort dennoch Sorgen. »Ist es wegen Lucie?«, fragte ich vorsichtig nach. In dem Moment spannten sich seine Muskeln an und ich hatte das Gefühl, eine Wand zu umarmen, so steif wurde sein Körper. »Es ist meine Schuld. Sie kann sagen, was sie möchte. Es wird immer meine Schuld bleiben. Sie hat dich drei Jahre lang nicht verwandelt, Rieka. Nur weil sie denkt, sie sei ein Monster. Und das denkst sie nur, weil ich nicht fähig war sie zu schützen. Ich hätte sie schützen sollen. Ich hätte so vieles anders machen können«, meinte er.
               Seine Stimme zitterte. So stark, dass ich nicht wusste, ob er jeden Moment den Halt verlieren würde oder ob er anfangen würde zu weinen. Doch er drehte sich nicht zu mir. Er ließ sich einfach weiter von mir halten. Einfach so. »Es ist einfach meine Schuld. Lorcan weiß nicht, was ich hätte anders machen können. Doch ich hatte im Gefühl, dass wir verfolgt wurden, ich habe mir nur gedacht, dass ich paranoid bin. Ich hätte es eher merken müssen. Ich bin schließlich ein Alpha. Doch nicht nur bei Lucie habe ich versagt. Ich konnte ja nicht mal mein Rudel schützen«, fuhr er weiter fort, ohne mich zu Wort kommen zu lassen. Sein Blick lag weiter in der Ferne.
             Als würde er dort die Vergangenheit noch einmal sehen. Das, was vor drei Jahren passiert war. Ich wusste noch immer nicht genau, was geschah. »Weißt du, ich hätte sie alle irgendwie beschützen können. Ich hätte sie warnen sollen, ihnen sagen sollen, dass sie ja nicht kommen sollen. Als Befehl. Stattdessen tat ich das nicht und wurde bewusstlos geschlagen, bevor ich das tun konnte. Weil ich unachtsam war. Als Alpha sollte ich ein Anführer sein, ich sollte der stärkste sein und ich sollte alle schützen. Doch ich habe versagt. Und deswegen sind die Meisten aus meinem Rudel tot«, endete er.
             Seine Stimme zitterte noch immer und er wirkte nicht so, als ginge es ihm gut. Seine Haut schien selbst unter seinem leichten Shirt zu glühen. Ich spürte die Hitze stärker als sonst und sein Körper zitterte stark. Es schien, als würde er gegen etwas in sich ankämpfen. Nur wusste ich nicht was genau das war. Unsicher sah ich ihn an, wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fühlte mich hilflos, da ich nicht genau wusste, was geschehen war. Doch ich wollte für ihn da sein. Ich musste für ihn da sein. Daran gab es keinen Zweifel.
            »Hayes... ich weiß nicht, was passiert ist aber niemand hasst dich. Und du solltest dich am wenigsten hassen. Natürlich ist es nicht schön, dass das alles passiert ist aber auch du bist nicht perfekt. Man kann nicht immer alles voraussehen. Es ist verständlich, dass du dir im Nachhinein wünscht, das alles anders wäre aber du kannst es nicht mehr ändern. Du hast so gehandelt, wie du es für richtig gehalten hast. Und Lorcan und besonders Lucie machen dir keine Vorwürfe«, versuchte ich irgendwie ihn davon abzubringen, dass er schuld war. Doch er schien mir gar nicht richtig zuzuhören.
                Als ich mich von ihm löste, stellte ich mich neben ihn, nur um zu sehen, dass er reglos in die Ferne starrte. Er schien in der Vergangenheit gefangen zu sein. Die Vergangenheit hatte ihre dunklen Klauen um ihn geschlungen und ihn einfach mit sich gezogen. Die dunklen Erinnerungen hatten ihn dann in ihren Bann gezogen und ließen ihn nicht mehr los. Unsicher stand ich einen Moment lang da und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Dann drehte ich ihn einfach zu mir. Er blinzelte und schien wieder in der Realität anzukommen. Ernst sah ich ihn an. »Dein Leben besteht nicht nur aus der Vergangenheit, Hayes. Sie besteht aus dem Hier und Jetzt und der Zukunft. Die Zukunft kannst du aber nicht erreichen, wenn du weiter in der Vergangenheit hängst. Du musst mit ihr abschließen, nur dann kannst du in die Zukunft gehen und alles besser machen, was du damals vielleicht falsch gemacht hast. Du kannst für Lucie da sein und sie auf den richtigen Weg bringen. Es hilft euch beiden nicht, wenn ihr weiter an die Vergangenheit denkt«, sagte ich zu ihm.
                 Ich wusste nicht, welches meiner Worte etwas bei ihm auslöste, doch kaum hatte ich mich versehen, hatte er mich an sich gezogen und seine Lippen fest auf meine gepresst. Damit erstickte er jedes weitere Wort und nahm mich gefangen.

Hayes - "Sie gehört zu mir" ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt