Kapitel 7

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In der Nässe und der beißenden Kälte des Alltags stehe ich nun also. Ohne Tränen in den Augen. Nur mit Leere. Die Leere bringt mich nicht zum Weinen. Sie bringt mich nicht zum Fühlen. Sie bringt mich zum Nachdenken. Zum Hinterfragen. Zu den Gedanken. Und ich weiß nicht, was schlimmer ist. Eine nasse Hand tippt mir auf meine Schulter und sofort fahre ich herum. Vor mir steht Lizzy, ein Mädchen aus meinem Studiengang. wir haben fast alle Vorlesungen zusammen und wir verstehen uns super, auch, wenn ich sie nicht als wirkliche Freundin bezeichnen würde. Augenblicklich setze ich mein Lächeln auf und begrüße sie.
"Heyy", höre ich freudig aus meinem Mund kommen.
"Na, wie gehts, Mia?", drint Lizzys Stimme an mein Ohr. Wie automatisch erklingt die vorprogrammierte Antwort
"Gut und dir?" Sie klingt so echt.
So überzeugend.
So, dass ich mich selber häufig wundere, wie ehrlich sie klingt.
So, dass ich es selber manchmal gerne glauben würde.
"Auch gut, bist du auch hier zum Essen vor Urbane Geographie?" Urbane Geographie ist eigentlich eines meiner liebsten Fächer. Aber heute wird mir schon bei dem Gedanken daran, in einem Hörsaal zu sitzen übel.
"Ich wollte grade Mittagessen, da hab ich dich hier stehen sehen", lacht sie. Ich lache mit. Überzeugend. Ehrlich scheinend. Gelogen. Mir ist nicht nach Lachen zumute. Mir ist nicht nach Essen zumute. Genauer gesagt will ich gar nichts. Nichts. "Nichts" klingt auf einmal erstaunlich verlockend.
"Klar, ich war auch grade auf dem Weg mir was zu Essen zu holen", gebe ich lächelnd zurück.
"Oh coool, dann lass uns doch was zusammen essen gehen. Das wird bestimmt super lustig", grinst Liz mich an.
Oh Gott. Irgendwas zu essen, besonders im Beisein von Menschen ist gerade der letzte Punkt auf meiner To-Do Liste und der erste Punkt meiner Not-To-Do Liste.
"Klar, wo gehts hin?", höre ich mich selber sagen und verfluche mich augenblicklich dafür. Es hätte so viele gute Ausreden gegeben. Egal. Sie freut sich drauf.
Ich werde meine Maske an lassen.
Ich werde lachen.
Ich werde mich für sie interessieren.
Ich werde ihr nicht das Gefühl geben, dass ich keine Lust habe.
Und ich werde versuchen zu essen.
Obwohl ich das alles nicht möchte.
Als wir losgehen grinse ich sie an.

"Bis morgen", sagt Liz mit freudigem Gesicht und umarmt mich fest.
Ich erwidere die Umarmung und lächle ihr zu. "Komm gut nach Hause", sage ich und setze mich auf mein Fahrrad, während Liz mit ihrem in die andere Richtung fährt.
Ich atme auf. Endlich. Nach dem Essen, bei dem es mir schon anstrengend war, die Maske aufrecht zu erhalten, kam sie auf die Idee, gemeinsam die Vorlesung zu besuchen. Ich konnte ihr das natürlich nicht abschlagen.Die Leere ist fast unerträglich geworden. Liz ist nett. Liz ist schon fast eine Freundin und eigentlich habe ich auch immer mit ihr Spaß. Aber so, wie es mir heute geht ist Spaß ein Fremdwort. An Tagen wie heute, hat ein anderer Teil von mir die Überhand.
Der Teil von mir, der unsicher ist.
Der Teil von mir, der das positive in jeder Situation ausblendet.
Der Teil von mir, der das Gefühl hat, unwichtig zu sein.
Unbeliebt zu sein.
Fehl am Platze zu sein
Wie im Gymnasium.
Wie damals.
Ich versuche dieses Gefühl los zu werden. So wie seit Jahren. Und selbst nach vier Jahren habe ich keinen Weg gefunden zu entfliehen.
Nur über zwei Wege bin ich immer rausgekommen. Entweder habe ich mich ins Bett gelegt, so lange gelegen, mal geweint, mal nachgedacht, bis ich eingeschlafen war und am nächsten Morgen besser dran war. Oder ich habe die Leere gefüllt. Ich will einfach nur etwas spüren. Und einige Gefühle sind in diesem Zustand einfach nicht möglich. Glück. Freude. Trauer. Spaß. Langeweile. Wut. Praktisch alle. Nur eine Sache konnte ich schon immer wahrnehmen und genau damit habe ich mich gerettet. Schmerz. Es funktioniert einwandfrei.
In mir kommt etwas hoch. Ein Brodeln, das nicht zu stoppen ist. Das Verlangen, dieses Loch zu füllen. Ich gerate in eine Trance, langsam aber sicher. Ich trete schneller in die Pedale. Ich muss dringend in meine Wohnung. Dampf ablassen. Füllen. Füllen um etwas zu fühlen. Die Schublade. Ich bin noch nicht weit gekommen und, wenn ich mich jetzt nicht ausversehen vor ein Auto werfen möchte, brauche ich meine Wohnung und meine Schublade. Ich nehme nichts mehr um mich herum wahr, die Welt zieht an mir vorbei, während ich meinen Druck an den Pedalen herauslasse und immer schneller fahre. Meine Arme verkrampfen sich, ich umfasse meinen Lenker stärker, kralle mich in das sanfte Polster, welches auf beiden Seiten befestigt ist. Meine Hand zittert. Ich kann sie nicht steuern. Ich drücke den Lenker fester. Ich darf nicht zittern. Nicht auf dem Fahrrad. Ich fahre an den Autos vorbei. Sie rauschen nur so vorbei, während ich sie gar nicht bemerke. Ich presse meine Lippen zusammen. Es ist alles gut. Es ist nichts passiert. Es hat dir keiner wehgetan. Es ist nichts passiert. Es ist alles gut. Ich denke es mir immer wieder. Bis ich es verstehe. Bis ich es verstanden habe. Bis -
"Mia?", reißt mich eine Stimme aus den Gedanken. Ich reagiere nicht.
Ich brauche keine Gesellschaft von Menschen.
Ich will keine Gesellschaft von Menschen.
"Miaa", ruft die Stimme erneut. Langsam drehe ich mich um und ziehe die Handbremse meines Fahrrads.
"Na endlich", höre ich die Stimme wieder. Ich steige vom Fahrrad und suche den Ursprung der Stimme.
Und dann steht er plötzlich vor mir. Mit seinen mandelbraunen Augen.

hoping for sunlightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt