Kapitel 6

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Ich ziehe die Bettdecke etwas weiter hoch.  Ich fühle mich sicherer mit der Decke. In Gedanken lasse ich den weiteren Abend revue passieren. Wir saßen noch lange in der kleinen Küche, irgendwann hat Janet eine Flasche Wein rausgeholt, die wir dann innerhalb weniger Minuten weg hatten. Ich habe viel über Sam herausgefunden, zum Beispiel, dass er hier studiert, ursprünglich nur einigen Minuten weiter weg wohnt. Trotzdem hat er eine eigene Wohnung, weil er nicht gut mit seinen Eltern steht und nicht weiterhin dort wohnen wollte. Er studiert das gleiche wie ich, wie ich ja in der Vorlesung schon herausgefunden hatte und liebt es wie ich zu lesen. Er scheint nach Außen hin ein BadBoy zu sein. Er hat uns einige Storys von Partys erzählt auf denen er war, nicht gerade nüchtern übrigens und auch, dass er morgens mal neben fremden Frauen aufwacht kommt wohl vor. Trotzdem ist er total fokussiert auf das Studium und seine Ziele. Sein großer Traum- irgendein spezifischer Beruf in der Geologie, steht wohl immer an erster Stelle, gleich vor Karate. Dass ich mir so viel über ihn merken konnte wundert mich sehr, denn den Großteil des Gespräches hab ich damit verbracht ihn anzuschauen. Dieses Freuer in seinen Augen, wenn er über etwas reden, was seine Leidenschaft ist. Dieses Feuer macht süchtig. Irgendwas in mir möchte dieses Feuer näher kennenlernen. Es ist ein ganz anderes als das der Sonne auf meiner Haut oder das Brennen in meinem Arm. Promt spüre ich wieder dieses Kribbeln auf meiner Haut. Dort, wo er meine Hand geschüttelt hat. Wo er mich beim Wein trinken gestreift hat. Und überall, denn er hat mich beim Abschied umarmt.
Schlagartig erinnere ich mich auch an den anderen Teil des Gespräches und mir wird ganz anders. Nicht nur er hat viel erzählt- auch ich. Ich habe viel von mir preisgegeben. So viel, wie ich noch nie einer anderen Person, die ich erst wenige Stunden kannte, erzählt habe. Es war ein Fehler. Es war ganz sicher ein Fehler. Was, wenn ich mich verletzlich gemacht habe? Was, wenn er zu viel über mich weiß? Ich weiß nichts über seinen Charakter. Nur weil er einen Abend nett war, heißt das nicht, dass er mit diesen Infos gut umgeht. Weiß er überhaupt, wie vertraulich die sind? Vermutlich nicht. Auf den ersten Blick sind es auch nur grobe SmallTalk Infos. Aber es ist mehr, als ich je vorher so schnell erzählt habe.
Angst überkommt mich.
Angst, dass er es missbrauchen könnte.
Angst, dass es ein Fehler gewesen sein könnte.
Angst, dass er mich verletzen könnte.
Denn er macht jetzt schon etwas mit mir.
Ich versuche die Angst beiseite zu schieben.
Es zu ignorieren.
Mir einzureden, dass ich total überreagiere.
Ich schlafe ein.

Der nächste Morgen ist wie einer von so vielen. So oft hatte ich dieses Gefühl. Und instinktiv ist mir klar, dass dieser Tag verloren ist. Diese Leere. Sie wird nicht weggehen. Den ganzen Tag nicht. Woher auch immer diese Leere kommt. Sie kommt zufällig. Ohne Gründe. Einfach so. Wie heute. Ich fühle nichts. Nichts und zu viel gleichzeitig.

Ich hebe ein Bein aus dem Bett und gehe zum Lichtschalter. Obwohl das Licht nun an ist, sehe ich noch nichts. Das Schwarze ist wieder vor meinem Auge und ich sammel mich kurz. Als ich wieder mein Augenlicht zurück habe werde ich geblendet. Bleibe aber stehen. Ich hole mir den Pulli heraus, den ich mir für heute rausgesucht habe. Ein schwarzer Pulli, auf dem vorne die Weltkugel und einige Muster in weißen Schatten aufgedruckt sind. Die schwarze enge Hose passt gut dazu, also ziehe ich beides an und gehe in die Küche. Beim Anblick der verrückten Stühle und den noch nicht gewaschenen Wein Gläsern kommen Erinnerungen an gestern Abend hoch. Doch anders als in der Nacht spüre ich nichts.

Wie auch.

Vor der Tür merke ich, dass ich Glück habe. Das Wetter ist das Gegenteil von gestern. Es regnet leicht und dichte, graue Wolken bedecken den Himmel. Ein kalter Luftzug zieht vorbei und ich genieße es, auch im Sommer mal mit meinem Pulli gut gekleidet zu sein. Eine Jacke nehme ich nicht mit. Die Nässe des Regens ist mir genauso egal, wie die Temperatur. Genauer gesagt ist mir alles egal. Ich schließe mein Fahrrad aus und fahre los. Die Straßen sind rutschig. Die Reifen sind nicht sicher auf dem Asphalt und das ein oder andere mal komme ich gefährlich stark ins Schleudern. Obwohl es mir eigentlich herzlich egal wäre, wenn ich von der Spur geraten würde, reiße ich jedes Mal den Lenker wieder in die richtige Richtung. Völlig durchnässt komme ich beim Uni Campus an. Als ich im Hörsaal sitze und meine Kommilitonen sehe merke ich, dass ich die einzige bin, die bis auf die Zehenspitzen nass ist. Ich habe gar nicht gemerkt, wie es immer stärker geregnet hat. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass es mittlerweile nahezu unwettermäßig regnet. Mir ist es ziemlich gleich, dass ich total nass bin. Was mir nicht egal ist ist, dass mich alle anschauen. Ein kurzer Seitenblick. Ein Schmunzeln. Ein Schmunzeln, warum ich mir keine Jacke angezogen hab wahrscheinlich. Doch dieser Blick wühlt mich wieder auf. Die Leere breitet sich aus. Immer weiter. Ist das überhaupt möglich? Dass sich Leere noch mehr ausbreitet? Ist egal, denn es scheint so zu sein. Die Vorlesung zieht an mir vorbei. So wie die Wolken am Himmel.
Auf einmal stehen alle Studenten auf, packen zusammen und verlassen den Raum. Und das, obwohl ich nicht einmal mitbekommen hatte, dass es angefangen hat. Ich weiß nicht was ich die letzten Stunden getan habe. Ich weiß nur, dass nun auch in meinem Gedächtnis Leere ist.
In einer Stunde habe ich die nächste Vorlesung und es lohnt sich wirklich nicht, jetzt noch einmal in die WG zu fahren, bevor ich wieder in die Uni gehe. Also lasse ich mein Fahrrad stehen, laufe ein paar Meter durch die Kälte und komme in der U-Bahn Station an.
Es riecht muffig.
Es ist kalt.
Der Boden ist feucht.
Ich hasse diese Station.
Nach wenigen Sekunden rollt eine Bahn ein und ich steige in das Gedränge ein. Menschen drängen sich dicht an dicht. Es ist stickig und nass hier drin. Ich zähle die Minuten und Sekunden runter, bis ich hier wieder raus kann. Zum Hauptbahnhof brauche ich Gott sei Dank nur 2 Min und 26 Sekunden. Ich habe es genau gezählt, so oft wie ich Mittags hier entlang fahre ist das auch kein Wunder. 10... 9...
Zwei...  Eins.... Die Türen öffnen sich und ich stürze raus. Ich schnappe nach Luft und merke augenblicklich, dass es ein Fehler war. Hier riecht es nicht viel besser, als in der Uni Haltestelle. Ich atme aus und halte die Luft an, während ich so schnell wie es auf dem rutschigen Boden möglich ist, das Gebäude verlasse. An der draußen angekommen schnappe ich nach Luft. Es riecht nach nassem Asphalt, Abgasen und Regen. Es liegt ein muffiger Duft in der Luft. Trotzdem ist dieser deutlich angenehmer, als jegliche andere Luft, die ich in den letzten 10minuten geatmet habe. Ich bleibe stehen und schaue dem Treiben der Innenstadt zu. Die Autos rauschen an mir vorbei, Menschen tätigen Einkäufe. Unterhalten sich. Lachen. Das Leben zieht an mir wie ein Film vorbei und mit jedem Auto, das vorbeifährt, mit jedem Lachen eines Passanten, verliert die Welt ein wenig an Farbe, wird der Regen ein wenig egaler und meine Gefühle ein wenig leerer. Ich stehe. Und stehe. Und stehe immer noch. So lange, bis die Farben weg sind. Bis die Welt grau ist und nur noch Leere da ist. Die gut bekannte Leere. Die Autos, die Reklame. Die Straßenbahnen und Zugdurchsagen hallen an mir vorbei.
"Fremdkörper" schießt es mir durch den Kopf. Das ist es. Das ist das, was ich in dieser großen Welt bin. In dieser Masse an Menschen, Handlungen und Geräuschen. Ich fühle mich fehl am Platz. Deplatziert und überflüssig. Wo ich bin, passe ich nicht hin. Ich gehöre nirgens hin, wo ist mein Zuhause? Weder bei meinen Eltern, wo ich seit Monaten nicht mehr warm, noch in meiner WG. Auch in der Uni, damals im Gymnasium und in damaligen Vereinen, Teams und Klubs. Immer war ich dabei, aber nur von außen. Nie ganz drin. Immer halb dabei. Okay wenn ich dabei bin, aber auch nicht schlimm wenn nicht. Ich war einfach anders, gehörte nie dazu. Blicke von allen Seiten, die mich durchbohrten, weil ich anders war. So lange, bis ich in der Schule mit Hass Nachrichten, Kommentaren im Internet und Fotos aufwachte, in der Schule alleine rumlief und trotzdem Seiten Kommentare und Blicke kamen und ich abends wieder mit Schwällen von Nachrichten einschlief. In der Uni sollte alles anders werden. Und das wurde es auch. Aber die Narben bleiben einfach. Wer kennt mich denn schon? Wem kann ich denn schok vertrauen? Die Erkenntnis überkommt mich wie ein Schwall. Ich bin einfach überflüssig. Wer interessiert sich für mich? Und wer würde sich für mich interessieren, wenn ich nunmal nicht mehr da wäre? Beide Fragen - keiner.

hoping for sunlightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt