"Was siehst du?"
"Ich sehe ein Grab auf einem Friedhof. Ich sehe verwelkte Blumen und ein Kreuz."
"Was siehst du?"
"Ich sehe einen toten Menschen."
"Was siehst du?"
"Ich sehe das Grab von Maria Gutenbach. Geboren 1947, gestorben 2019. Sie ist 72 Jahre alt geworden. Darunter steht ein Spruch "Die Sonne sank, bevor es Abend wurde." Ich sehe ein Grab, auf dem die Blumen welken, ein Grab, um das sich niemand kümmert."
"Was siehst du?"
"Ich sehe die Zeit und ich sehe den Tod. Ich sehe meinen Tod, ich sehe den Tod von uns allen. Ich sehe den Existenzialismus, die Absurdität des Lebens, die Metapher des Sisyphos. Ich sehe Sisyphos einen Stein einen Berg hochrollen, obwohl er weiß, er wird wieder runterrollen. Ich sehe es ihn immer und immer und immer wieder tun. Ich sehe die Sinnlosigkeit des Leben und die Sinnlosigkeit des Todes."
"Was siehst du?"
"Ich sehe die Angst vor dem Tod, die lächerliche Angst davor, in Vergessenheit zu geraten. Alles gerät irgendwann in Vergessenheit."
"Was siehst du?"
"Ich sehe ein Grab. Darin liegt Maria Gutenbach. Ihr Körper liegt dort. Ich glaube nicht an ein Leben nach den Tod, das ist erbärmlich. Nicht in einem Paradies, aber ich sehe etwas anderes. Ich sehe Teilchen. Atome, Protonen und Quarks, vielleicht Strings. Maria Gutenbach ist nichts als Teilchen. Vielleicht ist da eine Seele, ich glaube aber nicht daran. Ich glaube an die Wissenschaft, die sagt, Teilchen sind unzerstörbar. Alle finden die Vorstellung, von Würmerm zerfressen zu werden so abartig. Aber ist es nicht eigentlich total die schöne Vorstellung, direkt wieder Teil des Ökosystems zu werden? Teil der Nahrungskette? Wenn das, was ich mal war in Tieren und Pflanzen weiterlebt? Wenn irgendein Teilchen, dass mal Teil meiner DNA war und mich ausgemacht hat, jetzt Teil eines Fuchses wird? Oder eines Baumes? Diese Vorstellung ist so viel realistischer als irgendein lächerliches Paradies außerhalb des Universums."
"Was siehst du?"
"Wieso fragst du das immer?"
"Sag mir, was du siehst."
"Ich sehe niemanden, der sich um das Grab kümmert. Hier ist niemand, der verhindert, dass die Blumen welken. Unter diesem Haufen Erde liegt eine Frau, die vergessen wird und niemand wird irgendwas dagegen tun."
"Was siehst du?"
"Das absurde Leben. Ich sehe uns alle dort liegen. Ich sehe uns alle vergessen. Ich sehe uns alle nicht mehr, weil wir alle verblassen werden. Aber mir ist das erstaunlich egal."
"Mir auch."
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Verblendete Welt.
Puisi"Was siehst du?" "Eine Gesellschaft, die rennt und rennt, vor sich selbst, weil sie sich selbst kaputtmacht und nicht ausbrechen kann."