"Du hast recht, wenn du sagst, dass alles sinnlos ist. Natürlich ist es das. Du bist sinnlos, du wirst sterben und nie wieder existieren. Und egal, was du versuchst, du wirst ein sinnloses Leben gehabt haben. Wenn du ein Bild malst, ist es sinnlos, wenn du etwas schreibst, etwas schaffst, es ist alles sinnlos."
Er stand auf und warf mit voller Wucht einen Stock in das Wasser vor ihnen. Dort lag ein Felsen, sie saßen an einer kleinen Klippe. Sie wusste gar nicht genau, wie sie hierhergekommen war.
"Diese verzerrte Selbstwahrnehmung ist so lächerlich. Die Natur schafft nichts hässliches, schau dich doch um, es ist alles perfekt und wunderschön!"
Sie zuckte etwas zusammen, seine Stimme war so laut, sie hallte durch den ganzen Wald.
"Ihr macht euch selbst kaputt mit diesem kranken System. Du bist realitätsfremd, Mädchen. Du lebst in einer Welt, die so weit entfernt von der Realität ist, dass du denkst, Schönheit hat einen Maßstab. Schau dich an, was soll an dir nicht perfekt sein?! Hab doch Respekt, hab Respekt vor dir selbst, versteh doch! Du respektierst doch auch sonst alles, jede Autorität. In Nordkorea respektieren sie eine Diktatur, die denkende Menschen umbringt, in China Menschenfolter, in Deutschland haben sie den Holocaust respektiert, warum könnt ihr nicht die Natur respektieren, warum nicht euch selbst? Warum versteht ihr nicht, dass es krank ist, zu denken, dass Schönheit etwas ist, was man an bestimmten Merkmalen erkennen kann?! Die Natur liegt in der Abweichung, das ist doch das Tolle an ihr!"
Sie weinte und schluchzte leise, er sollte nicht so schreien, sie fühlte sich so erdrückt von ihm. Er gestikulierte wild herum, schrie sie fast hysterisch an, seine Worte waren giftig, so hasserfüllt, so wütend.
"Hör auf zu weinen, Kleine. Du weißt, dass ich recht habe. Du bist klug, ich weiß, dass du klug bist."
Er griff nach dem Löwenzahn und riss ihn durch, warf ihn ebenfalls die Klippe vor ihnen herunter, dann hockte er sich wieder vor sie, griff hektisch in ihre Haare, zerrte sie achtlos nach hinten in ihren Nacken und sie schrie leise auf, schloss schmerzerfüllt ihre Augen. Das erste Mal heute hatte sie Angst vor ihm. Er kam ihr so nah, seine Finger zerrten wild an ihren Haaren, an ihrer Kopfhaut. Dann wurde seine Stimme ruhig. In ihr lag ein Spott, ein Spott von solchem Ausmaß, dass sie Gänsehaut bekam, weil sie sich fühlte, als würde er ihr damit die Haut von dem Körper reißen. Sie weinte bitterlich.
"Du bist die wichtigste Person, die du je treffen wirst, Kleine. Du bist die wichtigste Person in deinem Leben, schau dich an, heul' nicht rum, weil du natürlich bist, dein Körper kann Kinder gebären, verdammt, was willst du denn mehr? Was soll daran denn nicht ohnehin perfekt sein?!"
Er ließ sie los, stand auf und stolperte ein paar Schritte rückwärts.
"Eure Welt ist krank, Mädchen, eure Welt ist krank!", schrie er verzweifelt vor Wut, bevor er sich rückwärts die Klippe in den See fallen ließ, er fiel, schweigend, sie schrie auf, das einzige, was sie hörte, war ihr eigenes hysterisches Schreien, was durch den Wald hallte. Sie sprang auf, sah an der Klippe herunter, sah seinen Körper von den Felsen zerfetzt werden und sie schrie, schrie so laut wie sie konnte, bis sie nicht mehr konnte, bis sie hustete, bis ihre Stimme so wehtat, dass sie nicht mehr schreien konnte und nur verzweifelt, bitterlich weinend und wimmernd auf dem Waldboden lag und sich diese Fotos ansah, die, die er ihr gezeigt hatte.
"Was siehst du?", hallte es in ihrem Kopf wie ein niemals endendes Echo, als sie den Spiegel in der Hand hatte, ihre Wangen voller Tränen sah und bitterlich aufschluchzte.
Menschen waren so unfassbar komisch.
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Verblendete Welt.
Poetry"Was siehst du?" "Eine Gesellschaft, die rennt und rennt, vor sich selbst, weil sie sich selbst kaputtmacht und nicht ausbrechen kann."