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"Was siehst du?"

"Ich sehe den Sonnenuntergang. Einen in orange-pinken Farben getränkten Himmel, eine gelb leuchtende Sonne. Ich sehe Bäume, das satte, frische Grün der Blätter."

"Was siehst du?"

"Ich sehe unendlich viele Teilchen, die das Licht des Himmels in unterschiedlichen Wellenlängen auf meine Netzhaut reflektieren. Ich sehe ein Kunstwerk, was niemals ein Mensch malen könnte. Etwas, was außerhalb unseres Begreifens liegt. Ich sehe etwas, was unmöglich von Menschenhand geschaffen ist. Ich sehe den Zufall, das Universum bestimmt vom Zufall."

"Was siehst du?"

"Ich sehe etwas, was in der Art niemals ein Fotoapparat festhalten könnte. Etwas so wunderschönes, etwas fast schon magisches."

"Was siehst du?"

"Ich sehe den Himmel, ich sehe Farben, Lichter. Etwas, was die Natur uns geschenkt hat, Farben. Niemand begreift die Faszination dahiner. Der Himmel, den ich sehe, ist Alltag, es ist nichts besonderes, ich sehe ihn fast täglich. Darum verlieren die Leute die Faszination daran. Aber ich blicke in die wohl schönsten Farben, die die Natur uns gegeben hat. Niemand kann so detailgetreu und wunderschön malen wie die Natur."

"Was siehst du?"

"Ich sehe Tiefe. Ich sehe ein Meer, in das ich eintauche. Ich schwimme und tauche und tauche tiefer. Ich finde Planeten, ich finde Sterne, die so weit weg sind, dass wir sie niemals erreichen könnten, weil wir zu klein sind. Ich tauche ein in eine riesengroße Welt voller Licht, voller noch so kleinen Elektronen und Protonen, in eine klitzekleine Welt voller Spannungen, voller massiven schwarzen Löchern, die mit gewaltiger Kraft Masse an und in sich reißen. Schwarze Löcher, in denen physikalisch errechenbar die Zeit endet. Ich sehe Unglaubliches."

"Was siehst du?"

"Ich sehe die unendlich kleine Wahrscheinlichkeit, dass ich gerade hier stehe und all das begreife. Ich sehe all die Menschen, die kinderlos gestorben sind, weil sie die Pest hatten oder im Krieg umgebracht wurden. Und dann sehe ich, dass meine Vorfahren hätten diese Leute sein können, dass ich nur lebe, weil in Abermilliarden Jahren auf abermilliarden Zufällen basierender Evolution alles so verlaufen ist, dass ich lebe, dass ich so denke und so leben darf. Das Universum besteht aus vielen Konstanten, die nach dem Urknall entstanden sind, davon hätte eine um die 500ste Nachkommestelle anders sein müssen und es gäbe kein Leben auf Kohlenstoffbasis."

"Was siehst du?"

"Ich sehe so viele unendlich Zufälle. Und dann sehe ich mich in dieser Welt, in dieser verblendeten Welt, in der niemand diesen so magischen Himmel betrachtet. In der die Menschen so viel Schadstoffe in die Luft blasen, weil sie denken, sie sind mächtig oder schlau, weil sie süchtig nach Luxus und Konsum und Kapitalismus sind. Ich sehe eine Sich-Erwärmende Erdatmosphäre, die uns töten kann, wenn wir die Scheiße nicht zurückschrauben. Ich sehe eine Erde, in der 1/3 der Oberfläche unbewohnbar ist, weil es zu heiß ist, ich sehe all die wissenschaftlichen Fakten, die ignoriert und verspottet werden."

"Wein' nicht, Kleine."

Sie schluchzte.

"Sag mir, was du siehst."

Sie öffnete ihre Augen wieder, blickte nach oben in den Himmel. Die Sonne war untergegangen. Sie blickte in tiefes Blau.

"Wenn man lange genug in den Himmel starrt und sich vorstellt, man sei oben und würde auf das Universum herabsehen, fühlt man sich, als könnte man fliegen."

Verblendete Welt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt