"Was siehst du?"
"Ich sehe ein Mädchen mit blonden Haaren und grünen Augen. Ich sehe mein Spiegelbild."
"Was siehst du?"
"Ich sehe Unsicherheit. Ich sehe Sehnsucht. Ich sehe den Wunsch, auszubrechen, doch das Wissen, dass egal, was ich tue, da ist irgendwas, was ich kompensiere, irgendwas, in das ich mich reinsteigere. Ich sehe riesige Verwirrung."
"Was siehst du?"
"Ich sehe die Angst, belächelt zu werden."
"Wieso?"
"Weil ich immer belächelt wurde."
"Wieso?"
"Weil ich unsicher bin, weil ich mir einrede selbstbewusst zu sein, aber eigentlich ein einziges Opfer meiner Kompensation bin."
"Was siehst du?"
"Ich sehe Frust. Ich sehe suchende Augen, die kein Land finden, weil es kein Land gibt. Ich sehe ein Boot auf unendlichem, offenen Meer und ich sehe mich, überfordert mit den Segeln gegen den Wind steuern."
"Gibt es Land?"
"Ich habe noch keins gefunden."
"Gibt es Land?"
"Ich weiß es nicht. Weißt du es?"
"Was siehst du?"
"Ein Leben, welches nicht lebenswert ist, was man aber führt, weil unser Kopf im Laufe der Evolution gelernt hat, nicht mit sich selbst durchzudrehen. Wir haben uns Systeme auferlegt, um uns davon abzulenken, dass es sowieso alles sinnlos ist."
"Was siehst du?"
"Ich sehe wirre, fliegende Gedanken. Ich sehe Unwissenheit, verzweifelte Unwissenheit."
"Siehst du Hoffnung?"
"Ich sehe verwelkten Optimismus. Vielleicht ein wenig Hoffnung."
"Was siehst du, wenn du genau hinschaust?"
"Ich sehe Potenzial. Ich sehe mich an und da sind so viele Zweifel, aufgezwängt von Systemen, gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich sehe da so viel Trauer, so viel Überforderung, so viele unterdrückte, nie geweinte Tränen. Aber ich sehe mich an und ich sehe meine Gedanken, ich sehe sie zu selten. Ich sehe da den Selbsthass, aber ich ignoriere das Potenzial."
"Was siehst du?"
"Ich sehe in meine Augen. Ich sehe meine Haare, blond, leicht verknotet, nicht gekämmt, ich sehe meine Augen, grün, ich sehe meine Wangen und meine Lippen, mein Kinn und ich sehe meine Augenbrauen, Wimpern. Ich sehe ein verzerrtes Selbstbild, ein Selbstbild, dass auf meiner Einstellung basiert. Ich sehe einen Menschen, der nur Fehler sieht, weil er davon ausgeht, falsch zu sein."
"Findest du dich hübsch?"
"Kann man sich selbst hübsch finden?"
"Die Frage kannst du dir selbst beantworten, Prinzessin."
"Man findet sich selbst doch immer komisch, oder? Ist das bei allen so?"
"Der Mensch ist ein sehr bizarres Tier."
"Ich finde mich komisch, anders, weil ich nur mich so sehr kenne. Ich sehe in mir das Schlechte, Falsche, Weirde. Wir leben alle in unterschiedlich diagonal verzerrten Selbstwelten."
"Was siehst du?"
"Worauf willst du hinaus?"
"Schau dich an, du bist hübsch."
"Du kennst mich gar nicht."
"Was siehst du?"
Sie überlegte eine ganze Weile. Was wollte dieser komische Junge eigentlich von ihr?
"Kann ich dir was zeigen?"
Sie nickte unsicher, sah ihn an, auf seiner Nase hing eine schiefe und verbogene, runde Brille. Er stand auf, ging mit seinen nackten, dreckigen Füßen ein Stück weiter und pflückte einen Löwenzahn. Er setzte sich vor sie in den Schneidersitz. Sie schluckte.
"Was siehst du?"
"Ich sehe einen Löwenzahn, eine gelbe Blume, die irgendwann zu einer weißen Pusteblume wird."
"Was siehst du?"
"Ein Produkt der Natur. Eine Blume, die von Wasser, Sonne und Kohlenstoff lebt. Ein Lebewesen, dass nicht denkt, sondern nur existiert. Aber es ist wunderschön."
"Schau in den Spiegel, was siehst du?"
Sie dachte eine Weile nach, es war still.
"Ein Produkt der Natur. Einen anderen Zweig der Evolution."
"Was hat dieser Löwenzahn für einen wert?"
"Was sind Werte?"
"Was hat dieser Löwenzahn für einen Wert für sich selbst?"
"Was meinst du?"
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Verblendete Welt.
Poetry"Was siehst du?" "Eine Gesellschaft, die rennt und rennt, vor sich selbst, weil sie sich selbst kaputtmacht und nicht ausbrechen kann."