5. Kapitel: Geschichten von früher

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5. Kapitel: Geschichten von früher


Am nächsten Morgen wurde Draco recht unsanft von einem unüberhörbaren Klopfen an der Wohnzimmertür geweckt. „Garcons! Seid ihr wach und angezogen?", rief Stella von der anderen Seite, untermalt von nochmaligem Klopfen. Neben ihm stützte Louis sich gähnend auf die Ellbogen hoch. „Was ist denn los?"
Stella öffnete die Tür einen Spalt breit und steckte den Kopf hinein. „Frühstück ist los. Alle anderen sind schon aufgestanden, also raus aus den Federn!"
„Wenn's weiter nichts ist ..." Seufzend ließ Draco sich auf sein Kissen zurückfallen. „Wie spät ist es denn?"
„Kurz vor halb zehn", verkündete Stella und schob nach, „Ihr habt zehn Minuten, dann kommen Amélie und ich rein, Tisch decken."
Eine halbe Stunde später saßen sie zu siebt um den Frühstückstisch. Im Fernseher lief die live-Übertragung aus Paris, wo in wenigen Minuten die Militärparade beginnen würde. Zu Astorias offenkundiger Überraschung hatten die fünf Franzosen tatsächlich vor, die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag in der Hauptstadt im TV zu verfolgen. „Ihr wollt den ganzen Tag hier drinnen bleiben und ... andere Leute beim Feiern beobachten?", fragte sie völlig perplex. Draco konnte es ihr nachempfinden, für ihn war das Ganze genauso unverständlich. Im Gegensatz zu ihr hatte er jedoch schon einige Jahre in Frankreich hinter sich und kannte das Prozedere.
„Nicht den ganzen Tag", beruhigte Melodie Astoria, „nur bei den wichtigen Sachen. Die Parade, das Interview von Chirac und sowas."
„Das ist so ziemlich der ganze Tag", stellte Astoria fest. Die Antwort bestand in kollektivem Achselzucken. „Strandwetter ist sowieso nicht", behauptete Victor – und damit schien das Thema für die fünf abgeschlossen zu sein. Astoria warf Draco einen hilfesuchenden Blick zu, den er mit einem ebenso hilflosen Grinsen quittierte.


Eine Weile sahen sie gemeinsam fern, kommentierten den Ablauf der Parade, die Kommentare des Moderators und das Aussehen der Gäste am Straßenrand. Doch als die Parade beendet war und das Interview mit Chirac, dem Muggel-Präsidenten, anstand, suchte Draco Astorias Blick. „Kommst du mit raus?"
„Gerne." Seine Freunde – die Erfahrung hatte Draco in den letzten Jahren gemacht – hatten kein Problem damit, dass er ihr Interesse in die Feierlichkeiten nicht teilte, solange er sie machen ließ. Entsprechend sammelte er mit einem Schwung seines Zauberstabes die Reste des Frühstücks zusammen.
„Wo geht ihr hin?", wollte Melodie wissen.
Draco zuckte die Achseln. „An den Strand, vielleicht."
„Okay, dann bis dann."
„Bis später."
Astoria war bereits in die Küche vorgegangen, wo Draco sie am offenen Fenster stehend fand. „Es könnte wirklich ein bisschen kühl zum Baden sein", gab sie zu bedenken. Nachdenklich trat er neben sie. Der Himmel war bedeckt und es ging ein milder Luftzug. Angenehm zum Rausgehen, aber im kalten Wasser ...? Sie könnte rechthaben. „Was hältst du davon, wenn wir ein Stück die Klippen langgehen?", schlug er vor. Die Küstenlinie in der Umgebung war wundervoll, hohe Steilklippen wechselten sich mit steinigen Stränden ab.
„Okay", erwiderte Astoria.


Der Strand hinter dem Haus lag in einer kleinen Bucht, die auf beiden Seiten von Steilklippen begrenzt wurde. Suchend sah Draco sich um. Auf beiden Seiten führten in den Stein gehauene Treppen nach oben. Er erinnerte sich außerdem, dass es in der Nähe von Cayeux-sur-Mer einen Pfad direkt am Wasser entlang gab, der nur bei Ebbe trockenen Fußes begangen werden konnte – ob er bis hier her führte, wusste er jedoch nicht.
„Rechts oder links?", fragte er Astoria, unsicher, welche Antwort ihm lieber wäre.
Sie zuckte die Schultern. „Rechts."
Gemächlichen Schrittes wanderten sie zu den Treppen hinüber und begannen den Aufstieg. Draco, der hinter Astoria ging, machte sie auf mehrere Boote aufmerksam, die in weiter Entfernung auf dem Meer schipperten. „Sie sehen so winzig aus von hier", bemerkte sie, „wie Spielzeugboote." Draco nickte, obwohl sie es nicht sehen konnte. Das war auch einer der Faktoren, der ihn seit jeher am Fliegen faszinierte: wie klein die Menschen unter ihm, die Gebäude in der Ferne waren, wenn man sie aus luftigen Höhen betrachtete.
„Bist du schon mal hier gewesen, Astoria?", fragte er, als sie den Pfad auf den Klippen erreichten.
„Nein, nie", entgegnete sie, „aber ich war schon an der Kreideküste in Dover. Da hat man eine ähnliche Sicht."
„Wahrscheinlich. Ob du jetzt vor hier oder dort aufs Meer guckst ..."
Astoria lachte über seine Antwort. Der Wind bauschte den Rock ihres gemusterten Kleides und ließ ihre lockigen Haare tanzen. Draco fand, dass sie toll aussah in diesem Moment. Sommerlich und schön und frei.
„Ihr seid schon öfter hier gewesen, oder?", wollte sie wissen und unterbrach damit seine Gedanken.
„Die anderen, ja", antwortete Draco wahrheitsgemäß. „In den Ferien nach unserem Abschluss. Ich bin zum ersten Mal dabei."
„Und ihr kennt euch alle aus der Schule?"
„Nicht alle. Aber Melodie und Victor waren mit mir in Beauxbatons."
„Und der Rest?"
„Stella war auch dort, ein oder zwei Jahre über uns. Ich hatte nicht viel mit ihr zu tun. Sie ist nach ihrem Abschluss in Amerika gewesen und dann zurückgekommen, um Geschichte der Zauberei zu studieren."
„Geschichte der Zauberei?", unterbrach Astoria entsetzt.
Unwillkürlich lachte Draco über ihren geschockten Gesichtsausdruck. „So habe ich auch reagiert, als ich sie kennengelernt habe. Aber ... ich weiß nicht, vermutlich hassen wir es nur, weil es bei Binns so langweilig war. In Beauxbatons fand ich es sogar einigermaßen interessant. Wenn Stella immer bei solchen Lehrern Unterricht hatte ..."
Astoria zuckte die Schultern. „Ja, vielleicht hast du recht. Und woher kennst du sie?"
„Sie und Melodie sind schon ewig befreundet. Und wir belegen zusammen Mysteriumsgeschichte."
„Okay. ... Was ist mit Amélie?"
„Sie kommt aus der Schweiz und studiert auch an der Académie. Auch Zaubereigeschichte. Und Louis war auf einer Privatschule irgendwo im Südwesten von Frankreich. Wir sind zusammen in Arithmantik und Zaubertränke."
„Ganz schön bunt zusammengewürfelt", stellte Astoria fest.
Draco zuckte die Schultern. „Man gewöhnt sich dran. Und irgendwo hat das seinen Reiz. Du hättest mal Amélies Gesicht sehen sollen, als Victor ihr erklärt hat, dass ihr Make up ihre Haut gar nicht anhaltend bräunen kann. Und ..."
„Was? Warum das denn nicht?", unterbrach Astoria überrascht. Immerhin galten die Cremes und Lotions mit magischen Ingredienzen als höchst wirksam.
„Weil der Wirkstoff, der den Teint gleichmäßiger macht, speziell auf helle Haut abgestimmt war und damit den Bräunungseffekt verhindert hat", erklärte Draco.
„Das ... ist natürlich blöd", stellte Astoria halb nachdenklich, halb belustigt fest. Er fürchtete fast, sie würde ihn bitten, ihr Make up auf ähnliche Pannen zu überprüfen, und nahm ihr kurzerhand die Gelegenheit dazu, indem er seine ursprüngliche Aussage zuende führte: „Und andersherum - du wirst es nicht glauben, aber Amélie und Stella erzählen manchmal Sachen – wenn Binns das mal erwähnt hätte, hätte sein ganzer Unterricht viel mehr Spaß gemacht!"
„Zum Beispiel?"
„Hmmm ... nachdem Frankreich das Internationale Geheimhaltungsabkommen unterzeichnet hatte, gab es einen Zauberer – Bonheur, glaube ich -, der ..."
Während sie den steinigen Pfad entlangschlenderten, berichtete Draco Astoria von Details aus der – hauptsächlich französischen – Geschichte, die ihn ungemein interessiert hatten. Zu seiner Freude teilte Astoria sein Interesse an Kapiteln der Vergangenheit, mit denen sie sich wahrscheinlich nie zuvor beschäftigt hatte - in Hogwarts hatte immer Großbritannien im Vordergrund gestanden.
Zwischen den beiden entspann sich ein lockeres Gespräch, in dem auch endlich seine Neugier bezüglich der Quidditch-Liga zufriedengestellt wurde: In der gerade beendeten Saison hatten die Appleby Arrows überraschend vor seiner Lieblingsmannschaft, den Ballycastle Bats, gewonnen; die sonst so erfolgreichen Montrose Magpies lagen nur auf Platz vier.
„War es knapp für die Bats?", fragte er hoffnungsvoll.
Astoria schüttelte den Kopf: „Nicht wirklich. Sie hätten es theoretisch noch eine Weile reißen können, aber ab April haben sie alle Spiele verloren. Die Appleby Arrows haben es schon verdient."
Außerdem erfuhr er, dass sowohl Oliver Wood als auch Ginny Weasley professionell Quidditch spielten. „Marcus Flint war auch bis zum Winter dabei", fuhr sie fort, „aber dann ist er abgestürzt. Mehrere Knochenbrüche. Der kommt nicht wieder. Smith hat ihn ersetzt – du weißt schon, aus Hufflepuff."
Es waren tatsächlich einige, überlegte Draco, die es geschafft hatten. Am wenigsten wunderte es ihn wohl bei Wood, der schon in Hogwarts als übereifrig gegolten hatte, und bei Flint. Letzteren hatte er ein Jahr lang genaustens beobachtet und war ein weiteres in seiner Mannschaft geflogen – Flint besaß die richtige Mischung aus Talent, Ehrgeiz und Rücksichtlosigkeit, die ein herausragender Spieler brauchte. Sein Ausfall war sicher ein herber Verlust für seine Mannschaft, zumal Draco sich nicht vorstellen konnte, dass sie in Smith einen ansatzweise vergleichbaren Ersatz gefunden hatte.
Irgendwann führte der Weg bergab und der Ort Cayeux-sur-Mer kam in Sicht. Etwas außerhalb lag ein von Hecken umzäuntes Grundstück mit einem eleganten eingeschossigen Haus und einem gepflegten Garten – so zumindest hatte Draco das Ferienhaus seines Vaters in Erinnerung. Er reckte den Hals, um einen besseren Blick zu bekommen, doch die Hecke stand hoch und viel mehr als ein Stück Dach konnte er nicht erkennen.
Der Weg mündete bald nach dem Ortseingang auf die Hauptstraße, welche direkt zum Marktplatz führte. Dort standen Buden, doch viele Händler waren bereits am Abbauen. Draco warf einen Blick auf seine Armbanduhr, nur um überrascht festzustellen, dass es schon fast um eins war. Gerade, als er eine Bemerkung zum Mittagessen machen wollte, seufzte Astoria neben ihm. „Riechst du das?"
„Was?" Über dem ganzen Markt lag ein verführerischer Duft nach Zucker, Süßkram, Quiche und Bratwurst, doch konnte er nicht identifizieren, was genau Astorias Aufmerksamkeit erregt hatte.
Sie deutete auf einen Stand wenige Meter links von ihnen. „Warme Waffeln mit Eis und Kirschen! Es gibt nichts köstlicheres!"
„Okay", erwiderte Draco, „keine Ahnung, ich hab's noch nie probiert."
„Bei Merlins Unterhosen", stellte Astoria fest, „dann wird es aber Zeit! Komm, ich lade dich zum Mittag ein."

Eine Hexe in ZivilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt