6. Kapitel: Wie ganz normale Menschen

20 1 0
                                    

6. Kapitel: Wie ganz normale Menschen

Dracos Meinung nach glich der Bal populaire in den kleinen Städten wie Ault einem Volksfest, zu dem man tatsächlich „irgendwas" anziehen konnte. In seinem Fall war das eine helle Hose und ein kurzärmliges, blaugraues Hemd. Er warf einen kurzen Blick in den Spiegel, fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar und war ausgehfertig. Zehn Minuten. Höchstens. Und Victor und Louis ging es ähnlich.
Die Damen, musste Draco fairerweise zugeben, brauchten allerdings ebenfalls unterdurchschnittlich wenig Zeit, um sich fertigzumachen – eine halbe Stunde vielleicht. Die drei Männer hatten mit wesentlich mehr gerechnet. Alle vier sahen sehr hübsch aus in ihren Kleidern und mit den offenen Haaren, perfekt für eine entspannte Sommernacht.
„Können wir gehen?", fragte Victor und nahm seine Amélie bei der Hand. Als niemand protestierte öffnete er schwungvoll die Haustür. „Dann mal los."


Das Fest fand auf einer Wiese außerhalb von Ault statt. An einer Schmalseite war eine große, in den Nationalfarben angestrahlte Bühne aufgebaut worden. Als sie eintrafen, spielte eine fünfköpfige Band eine Mischung aus Folk und Klezmer. Auf der Freifläche davor tanzten mehrere Paare unterschiedlichen Alters. Am Rand der Wiese und in der Mitte reihten sich Bude an Bude; zwischen verschiedenen französischen Spezialitäten wurden Handarbeiten angeboten. Gegenüber der Bühne, am anderen Ende der Wiese, drehte sich ein Karussell. Über all dem lag eine entspannte Volksfestatmosphäre.
„Schau mal da!", rief Stella plötzlich, „Ein Feuerspucker!"
„Was? Wo?!" Und im nächsten Moment waren sie und Melodie verschwunden. Draco hatte es kommen sehen, dass sie sich hier verlieren würden, aber dass es so schnell gehen würde, hatte er nicht erwartet. Er warf einen Blick über die Schulter. Victor und Amélie begutachteten einen Stand mit Holzarbeiten, Louis und Astoria standen noch neben ihm. „Hier riecht es schon wieder so gut", stellte sie gerade fest und schnupperte verzückt.
„Ja, von da drüben", stellte Louis fest, „da gibt's Merguez."
„Da gibt's was?"
„Merguez", wiederholte Draco, „scharf gewürzte Wurst."
„Aha", erwiderte Astoria, „klingt interessant. Das merke ich mir für später." Sie hakte sich rechts und links bei den beiden Männern unter und zog sie mit sich: „Lasst uns ein Stück rumgucken."
Verhungern, stellte Draco fest, würden sie an diesem Abend sicher nicht. Im Gegenteil, er war sich nicht sicher, ob er es schaffen würde, von allem zu probieren, was ihn anlachte. Da gab es die bereits gesehenen Merguez im Baguette, Scampi, Quiche und Crêpes, aber auch Käse und Schinken, dazu Cidre, Rotwein, Weißwein und Champagner, Fischsuppe und -
„Lavendeleis ...", las Louis vor. „Na ja, wer's braucht."
Sie probierten sich durch die verschiedenen Getränke, indem sie brüderlich die kleinste Portion untereinander teilten. Draco spendierte eine Tüte gebrannter Mandeln. An einem Stand mit Merguez trafen sie schließlich Melodie und Stella wieder.
„Wo habt ihr denn die anderen beiden gelassen?", wollte Melodie wissen. Louis machte eine vage Geste, die den gesamten Platz einschloss: „Irgendwo da. Die tauchen schon wieder auf." Womit er recht behalten sollte; sie hatten ihr Abendessen noch nicht ganz verputzt – Astoria befand Merguez für durchaus genießbar -, als die zwei Vermissten zu ihnen stießen. Amélie hatte eine künstliche Blume im Haar stecken, die, wie sie erzählte, Victor für sie geschossen hatte.


Die Franzosen zog es als nächstes zum Boule, doch weder Draco noch Astoria verspürten das Bedürfnis, sich ihnen anzuschließen. An beiden war der Reiz dieses Muggelspiels vorbeigegangen und obwohl Draco sich bei seinen wenigen Partien in der Vergangenheit gar nicht so schlecht angestellt hatte, schloss er sich ohne zu zögern Astoria an, die ihre Runde an den Buden entlang noch beenden wollte. Eine Weile schauten sie einem Portraitmaler bei der Arbeit zu und später fanden sie einen Vorhang mit einem Abbild der Steilküste, welchen Astoria unbedingt ihrer Schwester mitnehmen wollte.
„Tanzt du mit mir?", fragte Draco, als sie ihren Rundgang beendet hatten und wieder vor der Bühne standen. Inzwischen stand da eine andere Band, die französische Chansons spielte, die er nicht kannte. Astoria lächelte ihn an: „Gerne", und sie reichte ihm eine Hand und ließ sich zwischen all die tanzenden Paare führen. Er schlang einen Arm um ihre Taille, zog sie zu sich heran, lauschte auf den Takt und begann, sie zu dirigieren. Er hatte seit Jahren nicht getanzt - seit dem Weihnachtsball in der vierten Klasse nicht mehr, denn dann kehrte der Dunkle Lord zurück und Abendgesellschaften rückten in den Hintergrund -, aber die Schritte waren auf Abruf bereit in seinem Kopf geblieben. Astoria folgte seinen Anweisungen leichtfüßig; wie er hatte sie tanzen von Kleinauf gelernt. Wenn sie sich drehte, wehten ihr Rock und ihr Haar um sie herum, und mit der Zeit trat eine leichte Röte auf ihre Wangen. „Du siehst toll aus heute Abend", sagte Draco irgendwann, als sie sich zu ihm zurückdrehte und ihre Hand wie selbstverständlich auf seine Schulter legte wie schon so oft an diesem Abend. Sie lächelte und zupfte seinen Kragen glatt. „Du auch, Draco." Und dann stellte sie sich mitten auf der Tanzfläche auf Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Lass uns gehen."

Eine Hexe in ZivilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt