Ich stehe da, habe angehalten. Die Menschen umfließen mich wie das Meer einen Fels in der Brandung. Auch die Zeit fließt vorbei. Ich stehe da. Ich habe Zeit. Zeit - ein wertvolles Gut. Immer wenig, nie genug. Alle eilen um mich herum. Sie wollen nicht zu spät kommen. Die Zeit rennt ihnen davon. Oder rennen sie vor der Zeit weg? Leben in der Vergangenheit in dem Glauben, dass die Gegenwart sie nicht einholen kann. Früher oder später wird sie sie doch einholen.
Andere leben in der Zukunft um die Gegenwart auszuschalten. Aber sie lässt sich nicht ignorieren. Alle rennen vor dem Tod. Niemand will von ihm eingeholt werden. Alle haben zu kurz gelebt, haben noch nicht alles geschafft, haben noch nicht genug erlebt, sind noch nicht genug gereist. Man eilt, möchte nichts verpassen, nicht zu spät sein. So viel noch zu erleben, so viel noch zu sein. Ein Treffen, ein Meeting, eine Verabredung, ein Termin. Die Zeit innezuhalten ist verschwendete Zeit, nicht sinnvoll genutzte Zeit, nicht mehr zurückzubekommen. Muss noch mehr schaffen - ein voller Terminplan - überall zu spät, alles zu viel.
Ich stehe da. Ich habe Zeit. Die Menschen hetzen vorbei. Große, hastige Schritte, ein gehetzter Blick auf die Umgebung, ein kurzes Schielen auf die Uhr mit der Erkenntnis zu spät zu sein. 'Habe meine Bahn verpasst, jammerschade. Darf mich nicht noch mehr verspäten, habe keine Zeit auf die nächste Bahn zu warten, muss einen anderen Weg finden, muss den Bus nehmen, darf ihn nicht auch noch verpassen.' Ein plötzlicher Richtungswechsel begleitet von einem Zusammenstoß, einem Fall. 'Darf nicht auf dem Boden liegen, ist nicht im Terminplan, darf mich nicht ausruhen, habe keine Zeit.' Ein schnelles Aufrappeln, eine hastig gemurmelte Entschuldigung. Die Schritte beschleunigen sich, fast laufende Schritte. 'Darf den Bus nicht auch noch verpassen.' Unzufriedenes Schnauben, aufstampfen mit dem Fuß, ungeduldige Gesichtsausdrücke, ein Blick auf die Anzeigetafel. 'Wann kommt er endlich? Fünf Minuten sind zu lang, brauche ihn jetzt gleich, darf nicht untätig einstehen, muss irgendwas tun.' Ich stehe da und starre mit entrücktem Blick ins Leere. Bekomme böse Blicke von den vorbeilaufenden Passanten, werde angerempelt. Ich stehe auf ihrem Weg, störe sie beim Laufen, störe ihren Terminkalender, ihre Routine, bin ein Hindernis, nicht eingeplant, unerwünscht, nutzlos. Alles ist wie immer, ein typischer Alltag, nur ich nicht. Sie werfen mir Blicke zu, verschiedene Blicke, abwägend, mitleidig, ungeduldig, Herzens, böse. 'Was steht sie denn da? Muss sie nicht auch irgendwohin eilen? Kommt sie nicht auch zu spät? Ist mit ihr alles in Ordnung? Bestimmt hat sie Probleme. Vielleicht psychische? Jemand sollte die Polizei rufen, oder nach ihren Eltern fragen, aber ich habe keine Zeit. Ich muss los. Wird schon jemand anderes machen.' Ich stehe da. Beobachte die Menschen, schiebe sie in Schubladen, Stelle mir ihre Geschichte und Identität vor.
Sie erinnern mich an Fluchttiere. Rennen davon, folgen ihrem Selbsterhaltungstrieb. Aber wovor flüchten sie und wohin? Das ist egal! Hauptsache weg, flüchten, sich der Situation entziehen, reißaus nehmen. Ein Ort ist gut genug, solange es keinen besseren Ort gibt. Ich stehe da. Die Zeit rennt mir davon, doch ich nehme es gelassen. Sie fließt unaufhörlich weiter, immer in einem stetigen Strom. Sie hält nie an und wird nicht langsamer oder schneller, nur unsere Empfindungen zu ihr ändern sich. Alles was passiert ist, ist vorbei, man kann es nicht ändern, nicht rückgängig machen, die Zeit nicht zurück drehen. Alles ist geschehen, vinito, zuende. Der Rubikon wurde überschritten, die Würfel sind gefallen, Entscheidungen wurden getroffen. Es wurde gesiegt und verloren, besetzt und ausgeharrt. Das Einzige, was uns übrig bleibt ist, aus der Geschichte zu lernen. Jedoch können wir die Zukunft gestalten, sie schreiben und durch unsere Entscheidungen lenken. Dafür müssten wir in der Gegenwart leben und uns einen Moment Zeit zum Entscheiden nehmen.
Ich stehe da und schaue dem Sekundenzeiger der großen Uhr bei seinen Umläufen zu. Während meiner Gedanken ist es ruhiger geworden, doch nun flammt der Lärm wieder auf. Eine Durchsage erreicht mein Ohr. Mein verspäteter Zug wird in zwei Minuten in den Bahnhof einlaufen. Ich gehe auf die Plattform und verliere mich in der Menschenmenge. Die Türen öffnen sich und die Meute stürmt in den Zug voller gestresster Gesichter. Durch den Zug sind wir nun alle zu spät.
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Wohin mit den Gedanken?
RandomKurze Ausschnitte und Geschichten, die im langweiligen Unterricht oder in einer sonnigen Wochenendstunde entstanden sind.