8. Die offene Tür

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Als ich die Augen aufschlug, starrte ich gegen die goldene Decke, von der ein Kristall-besetzter Kronleuchter hing. Die Kristalle leuchteten, als würden sie das Licht in einer Umarmung mehr begrüßen, als es so passiv nahm. Die Farben, die im strahlenden Tageslicht leuchteten, waren ein Reichtum, den nur die Natur bringen kann, eine andere Art von Glanz als die goldenen Pools von Straßenlaternen. Es war in diesem Moment irgendwie mehr als Licht und Moleküle, als wären sie zusammen etwas Größeres, als sie jemals allein sein könnten.
Es vergingen Minuten, in denen ich einfach nur die Kristalle im Sonnenlicht anstarrte.
Dann legte ich den Kopf schief. Verwirrt, und mehr als das, setzte ich mich auf und sah mich um. Ich war in Asgard, in meinen Gemächern, trotzdem hatte ich das schleichende Gefühl, irgendwo anders zu sein. Es fühlte sich so an, als würde irgendetwas an mir zehren, mir sagen, ich gehörte hier nicht hin.
Ich schüttelte gedankenverloren den Kopf, ehe ich begann, mich daran zu erinnern, was passiert war.
Alles, was mir einfiel, war ein loses: Würmer. Viele Würmer. Und Loki. Aber ich war mir nicht ganz sicher, ob er nicht auch zu den Würmern gehörte, also dachte ich nicht weiter darüber nach, sondern schüttelte erneut meinen Kopf, wie um meine wirren Gedanken neu zu sortieren, und schlug die Bettdecke beiseite.
Meine Füße waren sauber und glatt - der Dreck war verschwunden.
Wie lange und tief hatte ich geschlafen, dass mir jemand die Füße gewaschen hatte?
Als Nächstes glitt mein Blick zu meiner Kleidung hinüber. Auch die waren anders. Anstatt mein vorheriges, leichtes, rotes Schlafkleid mit den Spaghettiträgern und den Cardigan zu tragen, umhüllte mich ein knielanges, elfenbeinfarbiges Nachthemd aus viel teurerem und wärmeren Stoff und die Ärmel gingen bis zu meinen Handgelenken. Warum hatte man mich umgezogen?
Mit gerunzelter Stirn stand ich auf. Der Boden fühlte sich unter meinen nackten Füßen so kalt im Gegenteil zur warmen Matratze an, dass ich bei jedem Kontakt unwillkürlich zusammenzuckte.
Dann erst bemerkte ich die Frau, die an einem Schminktisch saß und ... ich glaubte, sie war gerade dabei, Cremen und Öle ordentlich hinter-und aneinander zu reihen - sie schien gar nicht bemerkt zu haben, dass ich wach war. Sie war kleiner als die meisten, ründlicher als die anderen Asen, aber immer noch hübsch. An ihrem Leib trug sie eine Art Sommerkleid in verschiedenen Grüntönen, die mich an Wälder und Wiesen erinnerten. Ein Dienstmädchen, stellte ich überrascht fest. Ich hatte eigentlich darauf bestanden, dass man mir keine Bediensteten zuteilte, aber im Moment war ich ganz froh, dass jemand da war, den ich fragen konnte, was los war.
Ich räusperte mich leise, aber laut genug, dass die Frau mich hörte. Sie rauschte herum und ein sanftes Lächeln zierte ihr freundliches Gesicht, welches von aschblonden Locken umrahmt wurde.
"Oh, Ihr seid wach, Lady Aria", frohlockte sie und deutete auf ein Kleid, das sorgsam über die Lehne eines roten Samtsessels gelegt worden war. "Ich habe mir die Freiheit genommen, etwas aus dem Schrank für Euch bereit zu legen."
Etwas überrumpelt, stieß ich ein "Danke" aus. "Und Ihr müsst mich wirklich nicht so ansprechen, Ihr könnt mich ruhig duzen", fügte ich mit einem leichten Lächeln hinzu, wie ich auch die anderen darum gebeten hatte. Abgesehen davon, dass ich "Ihr" etwas zu hochgestochen fand, war ich erst sechzehn, was das alles noch seltsamer machte. Nicht mehr lange, dachte ich, dann bin ich siebzehn.
Die Frau sah mich mit großen Augen an, dann neigte sie den Kopf. "Es wär mir eine Ehre. Und du kannst mich ebenfalls duzen."
Ich nickte, ehe ich nach ihrem Namen fragte.
"Ich heiße Eira", antwortete die Frau, die nicht älter als dreißig aussah, aber Asen alterten um vieles langsamer, weshalb ich mir nicht ganz sicher war, wie alt sie wirklich war. Ob alle Asen so alt wurden, wie das asische Göttergeschlecht? Vermutlich nicht - sonst müsste das Reich ja irgendwann überquellen vor Leben, wenn die Alten nicht starben und die Kinder weiterhin geboren wurden. Ich nahm an, dass sie trotzdem etwas langsamer alterten, als normale Menschen.
"Wenn du willst, helfe ich dir mit dem Kleid", bot Eira an, aber ich schüttelte mit dem Kopf. "Das wird nicht nötig sein, aber trotzdem danke."
"Natürlich, Mylady."
Mylady. Ob ich mich jemals so an diesen Begriff gewöhnen würde, dass es irgendwie seltsam sein würde, wenn ich wieder auf die Erde kam? Nicht, dass ich mich noch daran gewöhnte, jeden mit "Ihr" anstatt von "Sie" anzureden ...
"Kann ich dir noch was bringen? Kekse vielleicht? Oder willst du auf das Mittagessen warten, das in einer Stunde im Thronsaal serviert wird?"
Bei den Gedanken an Essen knurrte ihr Magen laut auf und auch Eira schien das nicht zu entgegen. Sie lachte. „Das deute ich mal als Ja für die Kekse." Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Zimmer und schloss behutsam die Doppeltür hinter sich. Eigentlich hatte ich danach fragen wollen, was überhaupt passiert war, oder wie lang ich geschlafen hatte, doch das musste wohl vorerst warten.
Ich drehte mich um und fuhr behutsam über den weichen Stoff des Kleides, welches Eira mir bereitgelegt hatte. Es war schön, mit feinen goldenen Ranken, die sich wellenartig durch den Ausschnitt bohrten, aber ein Detail löste glatt Panik in mit aus. Das Kleid war in einem hellen Türkis. Genau wie das, welches meine Mutter als Kind in meinem Traum getragen hatte. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wer das andere Mädchen gewesen war, aber das war mir auch egal.
Die Farbe des Kleides sorgte dafür, das Galle in mir aufstieg, weil ich mich plötzlich an die Unterwelt und an das geistige Überbleibsel meiner Mutter erinnerte. Am liebsten hätte ich das Kleid, das so hochwertig war, das es für einen Menschen unvorstellbar viel gekostet haben müsste, mit meinen bloßen Händen zerrissen. Ich musste mich zusammenreißen, das Kleid unbeschädigt zu lassen. Es wäre auch unrespektvoll gewesen, das Kleid abzulehnen, deshalb nahm ich mein momentanes Nachthemd und zog es über meinen Kopf, als die Tür plötzlich aufschwang und wieder zufiel. Vor Schreck kreischte ich auf und schlang die Arm um meine fast völlig entblößten Körper.
Loki lächelte.
Ich versank so in Scham, dass ich spürte, wie meine Ohren zu glühen begannen. Dann spürte ich, wie mein Blut zu brodeln begann. Nicht vor Scham. Vor Wut.
Ich versuchte gar nicht erst, meine Stimme zu zügeln, als ich ihn anfuhr: "Geht's noch?! Es gibt etwas, das sich Privatsphäre nennt, weißt du? Und bevor man in ein Zimmer kommt, klopft man! Falls es dir irgendwie entgangen sein sollte."
Der letzte Teil war so von Sarkasmus getränkt, dass Loki tatsächlich blinzelte.
Dann grinste er.
ER GRINSTE.
Ich hätte ihm liebend gern eine geklatscht. Aber weil mich das vermutlich mein Leben gekostet hätte, behielt ich meine Hand dort, wo sie war; über meine Brüste gelegt - obwohl sie nicht völlig unbedeckt waren. Den Göttern sei dank, dass man mir auch einen BH angezogen hatte. Andernfalls hätte ich nicht gewusst, was geschehen wäre. Vermutlich wäre ich auf der Stelle tot umgefallen.
"Ich habe gehört, dass du aufgewacht bist, und konnte nicht widerstehen, dir einen kleinen Besuch abzustatten", erklärte er und zwinkerte, was mich kein kleines bisschen aus der Fassung brachte. Kein kleines, winziges, Mini-Bisschen.
"Du scheinst deine vorübergehende Freiheit wohl sehr zu genießen", bemerkte ich spitz. Die rote Farbe wich allmählich aus meinem Gesicht.
Loki schmunzelte. "Das tu ich in der Tat."
Er winkte anschließend mit der Hand, als wollte er rasch das Thema wechseln. "Leider geht es gerade nicht um mich" - was für eine Überraschung - "es geht um ... etwas anderes. Aber das besprechen wir am besten, wenn du mehr als das da trägst." Er deutete auf meine Unterwäsche. Erneut schoss mir Hitze ins Gesicht, weshalb ich mich genauso schnell abwandte, das Kleid vom Sessel nahm und ins Ankleidungszimmer huschte. Die Tür verschloss ich natürlich. Nur um ganz sicher zu gehen.
Rasch zwang ich mich in das türkisfarbene Kleid und schwor mir zugleich, nie etwas der gleichen Farbe anzuziehen. Anschließend trat ich wieder heraus, mein Haar ließ ich ungekämmt und wirr. Ich hatte später noch Zeit, mich darum zu kümmern.
Loki hatte es sich inzwischen auf dem Sessel bequem gemacht und musterte mich von haben bis unten, eher er mit einem abschätzigen Blick schloss: "Die Farbe steht dir nicht."
Ich war ganz derselben Position, trotzdem fauchte ich: "Ich kann mich nicht daran erinnern, nach deiner Meinung gefragt zu haben."
Loki grinste wieder, diesmal mehr süffisant als spöttisch. "Weißt du, eigentlich solltest du mir dankbar sein."
"Dafür, dass du ohne zu klopfen in mein Zimmer geplatzt bist?"
"Dafür, dass ich dich hergebracht habe, nachdem du in meiner Bibliothek in Ohmacht gefallen bist."
Ich zog die Brauen hoch. „Soweit ich mich erinnere, warst du es, der mich bewusstlos gezaubert hat." Ich wusste nicht, wie ich es sonst bezeichnen sollte.
Loki zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich musste es tun. Du standest kurz vor einem Nervenzusammenbruch, Schätzchen."
Obwohl die Worte einen honigsüßen Beiklang hatten, entging mir die Schärfe und Ernsthaftigkeit seiner Worte nicht.
„Wie dem auch sei", fuhr er fort, „du wirst in Zukunft wohl allein am Tisch essen müssen. Thor und seine wahrlich wundervoll nervigen Gefährten müssen außerhalb von Asgard ein paar Angelegenheiten erledigen. Du weißt schon, Kriege und so schlichten."
Kriege, die Loki zu verschulden waren.
Ich biss mir auf die Zunge, um mir den Kommentar zurückzuhalten.
Stattdessen fragte ich: „Was ist eigentlich mit mir?"
Loki musterte mich verschlagen. „Du musst schon genauer werden, Halb-Menschlein. Es ist nämlich vieles an dir, was fragwürdig ist."
Ich verdrehte die Augen. „Was ist wegen der Sache mit der Totenwelt? Ich habe nämlich immer noch diese ..." Ich stockte, als ich merkte, wem ich das erzählte. Ich sollte mich lieber an Frigga wenden, oder warten, bis Thor wieder zurückkehrte.
Aber Loki schien bereits zu wissen, worum es ging, denn er beendete meinen Satz völlig unverblümt. „Älpträume."
Ich nickte langsam. „Ja."
Er lehnte sich weiter im Sessel zurück, als würde gleich eine Geschichte folgen, da ertönte ein Klopfen. Es war ein zartes, fast schüchternes Klopfen. Ich wusste, dass es sich um Eira handelte, noch bevor sie hineintrat.
Sie lächelte, als sie mit einem Tablett voll Kekse und einer Tasse auf mich zu ging, blieb aber plötzlich stehen. Ihr Blick schweifte zu der Gestalt auf meinem Sessel. Ich glaubte sogar, die Arme zittern zu sehen.
„Ich bitte vielmals um Verzeihung, Pr- Mylord", ihre Stimme zitterte zweifellos. Mir war auch nicht entgangen, wie Loki geblinzelt hatte, als sie ihn beinah Prinz und dann doch Mylord genannt hatte. Ich war mir nichtmal sicher, ob Mylord eine passende Anrede war; Vorübergehend freigelassener Gefangener hätte meiner Meinung nach besser gepasst. Um vieles besser sogar. Arschloch hätte es natürlich auch getan.
„Schon gut, Eira", meinte ich mild lächelnd und deutete auf den Tisch. „Du kannst das Tablett einfach dort abstellen."
Sie nickte rasch, fast schon mit ein wenig Dankbarkeit in ihren Augen, stellte das Tablett ab und verschwand so schnell aus dem Zimmer, dass ich es nur grün aufblitzen sah, bevor die goldene Tür zufiel.
Ich wollte mich gerade dem Tablett zuwenden und die Tasse mit heißer Schokolade nehmen, dessen betörender Geruch mir in die Nase stieg und mein Magen zum seufzen brachte, als ich merkte, dass die Tasse weg war.
Ich wirbelte zu Loki herum.
Er saß immer noch auf dem Sessel. In seiner Hand ruhte eine gold ummantelte Tasse mit kunstvollen Schnörkeln und eingeritzten Bildern, die eine eigene Geschichte erzählten. Erst jetzt viel mir auf, wie sehr ich mich nach Farbe und etwas Leinwand sehnte. Ich hatte so lang nicht mehr gemalt ... ich glaub, seit dem Gemälde von Loki nicht mehr. Und jetzt saß er genau vor mir.
Mit meiner heißen Schokolade, an der er soeben schlürfte. Seine Augen blitzten vergnügt.
"Schmeckt gut."
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und nahm trotzig einen Schokokeks, an dem ich knabberte.
"Ich hoffe die heiße Schokolade ist vergiftet", murmelte ich, auch wenn ich mal vermutete, dass Eira kein Gift darein getan hatte.
"Glücklicherweise ist sie es nicht. Sonst würde ich dir jetzt nicht von der Totenwelt-Sache erzählen können."
Da war ja noch was ...
"Und das wäre?"
"Naja, ich will dein kleines, halb menschliches Hirn nicht überlasten, also werde ich alles ganz genau erklären." Loki deutete auf den zweiten Sessel, der neben seinem stand. Ich hatte mich bisher ganze Zeit gegen den Tisch gelehnt gehabt.
"Es ist also besser, du setzt dich."
Generell widerstrebte es mir, seiner Aufforderung zu folgen, aber er hatte vermutlich recht. Ich hatte genug vom Stehen, also nahm ich das Tablett mit und ließ mich auf den Sessel fallen, wobei mir fast die Kekse runter gefallen wären. Ich war allerdings so hungrig, dass ich sie auch vom Boden gegessen hätte. Still und heimlich trauerte ich immer noch der heißen Schokolade nach.
Dann begann Loki mit seiner Erzählung.

Aria Stark - Awakening of the phoenixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt