5. An der Schwelle des Todes

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Als wir den Saal, welcher von Frigga häufig zum Zaubern genutzt wurde, betraten, schlug mir der intensive Geruch von Kräutern, Rauch und Kerzenwachs entgegen. Ich brauchte auch nicht mehr als eine Sekunde, um Aria zu entdecken:
Sie saß mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl, der von einem Schutzkreis aus kostbaren Obsidianstaub eingeschlossen war, welcher gegen äußere Einflüsse schützen sollte. Bevor ich über die Schwelle trat, packte Thor mich harsch am Arm. ,,Wehe du wagst es, Aria etwas anzutun!", zischte er mit bedrohlichen Unterton, ich könnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Dennoch versicherte ich ihm: ,,Keine Sorge, ich halte mich an die Vereinbarung. Ich hole Aria zurück und erlange dafür ein halbes Jahr meine Freiheit."
,,Du darfst dich nur im Palast aufhalten, vergiss das nicht", warf Frigga ein, die mich mit einem gezwiespaltetem Blick musterte.
Ich neigte den Kopf zum Zeichen meiner Einverständnis.
Dann trat ich über den schwarzen Staub hinweg und kniete mich vor die sitzende Aria. Obwohl ihre Lider geschlossen waren, zuckten ihre Augen hin und her, ich konnte ihren rasanten Herzschlag mühelos wahrnehmen. Noch bevor ich begann, warf ich einen kurzen prüfenden Blick zu Frigga und Thor. Vor allem Thor fixierte mich wie ein Jäger seine Beute, nur um vieles stärker.
Ich atmete kurz ein und aus, dann nahm ich ihren Kopf in die Hände und schloss ebenfalls meine Augen.

Als ich sie im psychischen Sinne wieder öffnete, verkniff ich meine Augen und blinzelte mehrmals, um mich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen. Sobald ich etwas erkennen konnte, musterte ich meine Umgebung und stellte fest, dass ich auf einer Wiese stand. Ein Paar Meter weiter fielen Klippen in die Tiefe. Das laute Brechen den Wellen und der säuselnde Wind gehörten zu den ersten Geräuschen, die ich vernahm, ehe sich dann auch langsam zwei Stimmen "manifestierten". Die Stimme, die nicht die Arias war, gehörte zu einer Frau, die der Rotblonden doch recht ähnlich sah: Ihr goldblondes Haar hatte einen markanten Rotstich, die Augen waren ein leuchtendes, helles Blau. Darüber hinaus trug die Frau - zweifellos Arias Mutter - ein langes Kleid, welches zwischen verschiedenen Rottönen variierte. Von einem hellen Feuerrot bis zu einem dunklen Blutrot.
Aria hingegen trug übliche asgardische Kleidung: ein leichtes, graues Kleid mit wenigen, silbernen Details, die einen starken Kontrast zum warm leuchtenden rotblond ihrer Haare darstellten. Die Genannte schien auf ihrer Mutter gerade eine Frage zu stellen, als sie mich entdeckte.
Eisiges Blau traf auf dunkles Grün.
Für einen Moment - so kurz er auch war - begann die Zeit still zu gehen. Die wenigen Blätter, die der Wind aufgewirbelt hatte, blieben in der Luft hängen, die wehenden Röcke von Mutter und Tochter verharrten in ihre Position. Als ich ein paar Schritte auf Aria zugehen wollte, fühlte es sich an, als würde ich durch zähflüssigen Sirup waten. Ein leises ,,Aria", verließ meine Kehle.
Dann setzte die Zeit urplötzlich wieder ein, als wäre nichts gewesen, und Aria sah mich verwirrt an. ,,Loki?"

Sichtwechsel

Entgeistert starrte ich zu dem schwarzhaarigen Gott der Lügen. Was machte er hier?! War er nur reine Einbildung? Er konnte doch unmöglich hier sein, oder?!
Auf mein verwundertes ,,Loki?" und meinen verdatterten Blick hin, drehte Vanadís sich zu Loki um. Augenblicklich legte sich ein Schatten über ihr Gesicht.
,,Aria!", rief Loki mir zu und kam näher. Erst jetzt fiel mir auf, dass Loki leichte Augenringe unter den Augen hatte, die vermutlich von seiner Einkerkerung kamen. ,,Wach auf, Aria!" Loki, der nur noch wenige Meter entfernt von mir war, befand sich plötzlich so weit weg, dass ich nur seine dunkle Silhouette sehen konnte.
Vor Schreck biss ich mir auf die Zunge, ehe ich fragend zu meiner Mutter sah. ,,Wie ... was?" Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war gerade eben passiert? Ich verengte angestrengt die Augen zu Schlitzen und versuchte Loki's Silhouette zu verfeinern. Es sah so aus, als würde er auf mich zu rennen. Doch anstatt sich mir zu nähern, wirkte es fast so, als würde er sich nur weiter entfernen. ,,Mom, was ist hier los?", wollte ich an Vamadís gewandt wissen. ,,Gar nichts, Liebling."
Das Lächeln auf ihrer Lippen wirkte so falsch, dass man es ihr unmöglich hätte abkaufen können.
,,Jetzt ernsthaft ..." ,,Es ist alles in Ordnung, Kleines", schnitt sie mir das Wort ab, wobei sie mich mit einem strengen Blick bedachte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken - und das lag nicht nur an der aufkeimenden Angst in mir. Nein, es fühlte sich an, als würde es von einer Sekunde auf die nächste eiskalt geworden sein. Als ich meine Mom weiterhin musterte, fiel mir auf, dass ihre Augen nicht mehr aussahen, wie die Spiegelung eines klaren Sommerhimmels, sondern völlig fehlten. Ich starrte in zwei schwarze Augenhöhlen.
Erschrocken taumelte ich zurück. ,,Mom?", entfuhr es mir. Im Hintergrund hörte ich Loki meinen Namen rufen, doch ich verdrängte es.
,,Was hast du denn?" Der glockenhelle Klang ihrer Stille war nun kratzig und hinterließ eine Gänsehaut auf meinen Armen, wie wenn man mit Fingernägeln über eine Kreidetafel kratzte. Auch ihre Haut war plötzlich blasser - so blass, dass man die Adern hindurch schimmern sehen konnte. Ich blinzelte ein paar Mal, doch ihr Aussehen sah nach wie vor verändert aus. Sie sah aus wie ... wie eine Tote.
Aber das war sie doch auch; tot.

Aria Stark - Awakening of the phoenixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt