Teil 1

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Schon seit ungefähr einem halben Jahr wohnte meine Stiefschwester Zoey in Köln, um dort zu studieren, doch die Zeit erschien mir sehr viel länger als nur sechs Monate. Wir hatten uns immer gut verstanden, wenn wir auch nicht gerade das engste Verhältnis gehabt hatten. Doch jetzt wo sie nicht mehr mit beim Mittagessen saß, wenn ich von der Schule nach Hause kam, fehlte sie mir. Sie schien viel mit ihrem Studium zu tun zu haben und hatte nie wirklich Zeit mit uns Telefonate zu führen oder eine gelegentliche Nachricht zu schreiben.
Umso überraschter war ich, als meine Eltern beim Abendessen begannen über ihre Ferienpläne zu reden.
„Hör mal, Schatz", begann meine Mutter, „Es ist nicht mehr lange bis zu den Herbstferien."
„Zum Glück!", unterbrach ich sie scherzend. Sie schmunzelte.
„Also", fuhr sie fort, „Dein Vater und ich hatten uns die Ferien etwas anders als sonst vorgestellt. Eigentlich fahren wir drei ja immer zu dritt in den Urlaub, aber du bist schließlich auch schon ein halber Erwachsener und willst bestimmt mal deine eigenen Pläne in den Ferien in die Tat umsetzen. Wir haben uns darüber einige Gedanken gemacht und sind zu einem Schluss gekommen, deshalb..."
Um dem Roman, der gerade druckreif aus dem Mund meiner Mutter gequollen kam, ein Ende zu setzen, fragte ich: „Was willst du mir sagen, Mama?"
„Nun ja, wir dachten daran, dass wir zu zweit Urlaub machen und du vielleicht die Ferien bei Zoey verbringst", erklärte sie, „Weil wir nicht wollen, dass du zwei Wochen lang alleine bist."
Ich war positiv überrascht. Normalerweise wäre ich nicht gerade begeistert, bei jemand anderem die gesamten Ferien zu verbringen, aber bei Zoey würde ich gerne in den Herbstferien bleiben. Einerseits hatte ich sie eine Ewigkeit lange nicht mehr gesehen und andererseits hatte ich sie nie für ganz unattraktiv gehalten.
„Hat sie denn schon zugesagt?", erkundigte ich mich, bevor ich mich zu früh freute.
„Ich habe sie vorhin angerufen", erklärte mein Vater mit dem Mund voller Kartoffelbrei, „Sie sagt, sie muss ein paar Sachen fürs Studium erledigen, aber ansonsten passt sie gerne auf dich auf."
Als wäre es nahezu unbedeutend, nickte ich, doch innerlich stahl sich ein breites Grinsen über mein Gesicht. Ganze zwei Wochen würde ich bei Zoey verbringen, nur wir beide. Besser hätte es nicht kommen können.

Am Freitagabend vor den Ferien packte ich alles, was ich brauchte, in meinen schwarzen Koffer. Klamotten, Zahnbürste und Sonstiges. Mir fiel erst zu spät auf, dass ich wohl besser einen größeren Koffer hätte nehmen sollen. Doch mir fehlte der innere Antrieb, den gesamten Inhalt des Koffers noch einmal auszuräumen. Schließlich schaffte ich es doch, den Deckel mit Mühe zuzudrücken.
Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich stellte den Wecker auf meinem Nachttisch auf 7:30 Uhr, machte das Licht aus und schloss meine Augen.

Anders als erwartet, weckten mich die ersten Lichtstrahlen des Sonnenaufgangs anstatt der laute Ton des Weckers. Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit. Es war 7:03.
Da ein wenig zeitlicher Spielraum wohl nicht schaden würde, machte ich mich auf den Weg zur Dusche. Ich schaltete das Radio im Bad ein.
„-eher kältere Temperaturen mit bis zu 5 Grad", begann der Moderator die Wettervorhersage vorzulesen. Ich sollte also besser meine Winterjacke mitnehmen, um mich gegen den scheinbar frühzeitigen Winter zu rüsten.
Abgetrocknet schlüpfte ich in meine Jeans und in meinen grauen Pullover, bevor ich ins Wohnzimmer ging. Meine Eltern waren schon lange abgereist, ihr Flug war um 5:45 gewesen.
Ich sammelte mir aus allen Schränken und Schubladen der Küche ein Frühstück zusammen. Mit meinen doch sehr limitierten Erfahrung, was die Kochkunst angeht, machte ich mir ein Spiegelei, dass ich von beiden Seiten anbriet. Dazu rührte ich mir mit den Überresten der Cornflakes aus der Vorratskammer und Jogurt ein Müsli. Ich genoss mein Frühstück, schließlich hatte ich ja alle Zeit der Welt.
Die Zeiger zeigten genau 8 Uhr, als ich meine Winterjacke anzog, meinen Rucksack schnappte und mich mit meinem Rollkoffer auf den Weg zum Bahnhof machte. Es waren nur einige hundert Meter, die ich laufen musste, also setzte ich mir Kopfhörer auf und hörte etwas Musik, während ich durch die leeren Straßen lief. Ich schien heute die einzige Person mit Plänen in dieser Stadt zu sein. Doch der Gedanke, dass nur mir alleine heute so eine Reise bevorstand, gefiel mir.
Zum Glück hatte ich auf den Wetterbericht gehört, sonst wäre ich wahrscheinlich als Eisklotz an der Bahnstation angekommen.
Der ICE fuhr früher ein als angekündigt, also hielt sich meine Wartezeit im tolerablen Bereich. Alles lief genau so, wie ich es mir am Vorabend ausgemalt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis ich meinen Platz gefunden hatte. Scheinbar war Köln gerade nicht das beliebteste Reiseziel, denn nur ungefähr jeder zehnte Platz war besetzt. Auch die Sitze in meiner Reihe waren leer, also rückte ich ans Fenster. Für einen Sitzplatz mit schöner Aussicht nahm ich gerne ich Kauf, vielleicht von später hinzusteigenden Leuten von meinem Platz verscheucht zu werden.
Es waren noch ganze 8 Minuten bis zur Abfahrt, die ich noch herumsitzen musste. Schon nach weniger als einer Minute übernahm die Langeweile meine Gedanken. Ich sah mich um und musterte die wenigen Leute, die im Zug saßen. Ich fragte mich, was ihr Grund war, diesen Zug zu nehmen. Besuchten sie eine entfernte Verwandte? Fuhren sie regulär zu ihrem Arbeitsplatz?
Ich konnte nur raten. So gerne ich es auch gewusst hätte, aus ihren Gesichtern ließ es sich nicht ablesen. Ich wusste nicht, wer diese Personen waren, jedoch galt das auch andersherum. Niemand wusste, dass ich zu meiner Stiefschwester Zoey fahren würde, um dort die Ferien zu verbringen. Diese Namenlosigkeit löste in mir ein wohliges Gefühl der Sicherheit aus.
Der Zug setzte sich endlich in Bewegung und erwachte zum Leben. Mit der wärmenden Decke der Anonymität schaute ich aus dem Fenster und sah, wie der Zug den Bahnhof verließ.
Während der Zug mit beeindruckender Geschwindigkeit die Schienen entlang preschte, betrachtete ich die Welt, die in Windeseile an mir vorbeizog.
Dabei musste ich daran denken, wie sich Zoey wohl auf dieser Fahrt gefühlt hatte, als sie ausgezogen war. Ich zumindest hatte das Prinzip, dass Kinder, wenn sie alt genug sind, scheinbar ausziehen müssen noch nie gemocht. Als müsste man sich beweisen und sich als fähig zeigen in der wilden Natur zu überleben. So etwas war doch in der heutigen Zeit vollkommen überflüssig. Viele sprachen immer vom flügge werden, aber um frei zu sein, muss man nicht sein Nest verlassen. Wenn etwas gut war, warum sollte man davon loslassen?
Doch daran mochte ich jetzt noch nicht denken. Lieber wollte ich die Fahrt genießen, die meiner Meinung nach für immer hätte weitergehen können. Es entspannte mich, die verschiedenen Landschaften zu betrachten, im Wissen, die nächsten zwei Wochen Ferien zu haben. Doch schneller als erwartet wurde als nächster Halt Köln angekündigt. Ich setzte mir meinen Rucksack auf und nahm den Griff meines Koffers in die rechte Hand und machte mich, während der Zug zum Stillstand kam, auf den Weg zum Ausgang.

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