Teil 9

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Geräuschlos ließ sich die schwere Holztür öffnen, vor die ich geführt worden war. Ich trat ein und schloss die Tür rasch wieder, als wäre ich in einen Tigerkäfig getreten, aus dem die Raubtiere nicht entkommen durften. Hinter einem Bildschirm sah ich einen blonden Scheitel.
„Setz dich."
Mit bedachten Schritten näherte ich mich dem hölzernen Schreibtisch und ließ mich langsam auf einem Stuhl davor nieder. Meine Hände blieben auf den Lehnen, als müsste ich jeden Moment bereit sein zu fliehen.
Der Monitor wurde zur Seite geschoben.
„Hey, schön dich kennenzulernen!"
Freudig streckte sie die Hand aus. Zaghaft gab ich ihr meine.
„Hallo."
„Ich bin Anna Guns, aber das wusstest du bestimmt schon."
Sie lachte.
„Du hast doch sicher auch einen Namen, oder?"
„Äh, Conrad. Feltmann."
„Ah-ja."
Sie notierte etwas auf einem Zettel. Direkt bemerkte ich, wie nett sie war, jedoch löste das mehr Unbehagen in mir aus als ich Vertrauen zu ihr aufbaute. Unter dieser glänzenden Fassade lag mit Sicherheit ein anderes Gesicht.
„Also, Conrad, ich habe gehört, dass du ein böser Junge warst."
Sie grinste und kniff mir in die Nase.
„Du bist aber nicht gerade einer von der gesprächigen Sorte."
Ich schwieg.
„Vielleicht willst du mir ja genau erzählen, was da eben los war. Wer weiß, eventuell habe ich das ganze falsch verstanden, hm?"
„Nein, Sie haben das schon richtig verstanden."
„Ja, alsoo-", sprach sie mit mir wie mit einem Kleinkind, „Warum bist du denn hier? Zum Windeln testen ja wohl eher weniger."
Sie grinste wieder.
„Ist es etwa etwas Persönliches? Bin ich das Problem?"
Ironisch betroffen legte sie eine Hand auf ihr Brustbein.
„Das Problem ist, was Sie mit den Menschen da draußen anstellen", sprach ich.
„Oh, ich sehe, der Protestgeist der jungen Leute ist in gutem Zustand."
„Aus gutem Grund. Das, was Sie machen, ist unmoralisch."
„Ich bin also eine richtige Schwerverbrecherin? Wodurch mache ich mich denn so strafbar?"
„Ist das nicht offensichtlich? Die Menschen, die Ihre Produkte nutzen sind vollkommen verändert. Sie stehlen Leuten ihre Persönlichkeit und das für Ihren Profit!"
„Mein Schätzchen, wer sagt denn etwas von Persönlichkeit stehlen?", fragte sie ruhig.
„Na, ihre Windeln programmieren überschreiben sozusagen die Gehirne von ihren Nutzern."
Ich sprach nicht mehr mit der gleichen Entschlossenheit wie vor einigen Augenblicken.
„Ich weiß wirklich nicht, was du meinst. Die Leute kommen alle hierher und wählen aus, wie ihr Charakter verbessert werden soll."
Ich erstarrte einen Moment.
„Und warum tragen einige Leute Schnuller? Wollen Sie die Menschheit mental wieder zu Babys machen?"
„Nunja, die Neuvernetzung von Gehirnstrukturen mit dem einst vertrauten Gefühl einer Windel reaktiviert öfter Kindheitserinnerungen, dadurch kommt bei einigen nunmal das Kind in ihnen wieder zum Vorschein, ist aber natürlich alles nur temporär."
Auf meine Antwort wartend sah sie mich an.
„Sie lügen doch. Das stimmt doch alles nicht!"
„Doch, mein Schätzchen, das ist die Wahrheit."
Einen Ellenbogen stützte sie auf die Stuhllehne.
„Was hattest du denn gedacht? Dass ich alle Menschen wieder zu Babys mache und die Weltherrschaft an mich reiße?"
Ihr Lächeln galt offenkundig der Abwegigkeit dieses Gedankens. Sie wartete meine Antwort ab, doch ich sagte nichts.
„War's das? Ist das alles, mein kleiner Rebell?"
Ich war wirklich ein Idiot, hätte ich doch zumindest ein wenig recherchiert oder die Dokumente von vorhin aufmerksam durchgelesen.
Fast erwartete ich, dass sie gleich laut auflachen würde, doch das tat sie nicht.
Ohne einen Laut von mir zu geben, saß ich dort, wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen war. Der feste Boden, auf dem ich gestanden hatte, war mir unter den Füßen weggerissen worden. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.
Stolz, einen Aufrührer so leicht abgeschüttelt zu haben, aber auch mitfühlend, sah mich an. Die Frau, die ich eben noch so gefürchtet hatte.
„Ich will dir nicht zu nahe treten, aber ich glaube, ich war in deinem Alter ganz genauso."
Beide Hände legte sie auf ihren Schreibtisch.
„Es sollte alles beim gleichen bleiben und sich nie etwas ändern. Immer jung, immer unabhängig, immer frei. Aber so ist es leider nicht. Plötzlich steht man in der Erwachsenenwelt und man ist kein Kind mehr. Am Alten festzuhalten kann aber viel schädlicher sein, als loszulassen.
Ich kann verstehen, dass es befremdlich ist, wenn sich alles um einen herum auf einen Schlag verändert und wenn plötzlich alle Windeln tragen ist das natürlich eine große Veränderung, wenn auch eine zuerst albern erscheinende."
Anna schmunzelte kurz, bevor sie wieder ernst wurde.
„Aber mit meinen Produkten will ich doch keineswegs dazu beitragen - im Gegenteil. Ich möchte Menschen ein Stück ihres Kindseins zurückgeben. Eine Zeit, in der man sich keine Gedanken machen muss, was andere denken. So eine Welt wäre doch schön, oder?"
Anna lächelte verständnisvoll.
„Mit den Windeln kann man eben die Person sein, die man sich schon immer gewünscht hat sein zu können. Du kannst dir aussuchen, ob du eine selbstbewusste Person bist und ob du ein ruhiger oder extrovertierter Typ bist, mein Gott, du kannst dir sogar aussuchen, wie stark dein sexuelles Verlangen ist."
Einen Augenblick waren wir still.
„Und nun?", fragte ich.
Anna holte tief Luft.
„Auch wenn das nicht ganz deine Absicht war, bist du ja immerhin als Tester in dieses Gebäude getreten."
Sie sah mich an.
„Aber es liegt letztendlich an dir das zu entscheiden."
Ich sah zu ihr auf.

Eine neue Welt - Eine ABDL-GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt