Teil 2

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Im starken Kontrast zum beinahe leeren Zug waren die Menschenmassen am Bahnhof kaum ertragbar. Es war schwierig, aus dem Überfluss aus visuellen und auditiven Informationen die entscheidenden herauszufiltern. Jeder in der Menge verfolgte nur sein eigenes Ziel, ohne Rücksicht auf den anderen zu nehmen.
Als ich endlich die letzte Rolltreppe nach oben nahm, fühlte ich mich wie von einem Monster ausgespuckt. Ich war nunmal nicht an das Leben in der Großstadt gewöhnt, ich kannte aus meiner Heimatstadt nur ruhige Gassen und nette Geschäfte. Mit der Navigation in einer so großen Stadt würde ich mich auch noch vertraut machen müssen, doch fürs Erste war Google Maps das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte. Ich durchsuchte den Nachrichtenverlauf zwischen Zoey und mir. Da stand es: Gerberstraße 21
Ich tippte die Adresse ein und machte mich mit dem Blick auf die Karte auf den Weg.
Ich konnte den Sehenswürdigkeiten und hohen Gebäuden kaum Aufmerksamkeit schenken, denn jedes kurze Aufblicken vom Bildschirm kostete mich meistens, einmal falsch abzubiegen. Schon auf der Hälfte der Strecke war mir klar, dass das die wohl längsten sechs Kilometer meines Lebens sein würde. Das mir unvertraute Wirrwarr aus Straßen, Wegen und Gassen schien immer weiter zu wachsen, während ich lief, bis ich endlich das Straßenschild gefunden hatte.
Ich las die Hausnummern, während ich langsam den Bürgersteig entlangging.
13, 15, 17, ... 21.
Entgegen meiner Erwartungen lag eine kleine Bäckerei an einer Straßenecke vor mir. Erst nach einigen Augenblicken bemerkte ich die schmale Holztür weiter rechts. Daneben waren zwei Klingelschilder. Das eine war bereits vergilbt und hatte mit Sicherheit viele Regengüsse miterlebt. Das andere hingegen sah einladend und neu aus.
Ich klingelte. Nach einigen Sekunden kam es durch die Sprechanlage: „Feltmann."
„Hallo, ich bin's, Conrad", sagte ich.
„Ah, komm rein", sagte Zoey einladend.
Das Schloss summte laut und die Tür sprang auf. Ich zog meinen Koffer mit hinein, der durch den engen Flur sehr sperrig wurde. Die knarzenden Treppenstufen kam Zoey nach unten gestürmt. Sie hatte sich ein ganzes Stück verändert, seitdem sie ausgezogen war. Ihre gelockten braunen Haare, waren jetzt nur noch schulterlang. Sie trug einen weiten Strickpullover aus dunkelroter ausfransender Wolle. Ihre weite Hose konnte man fast für den Bestandteil eines Pyjamas halten. Sie war aus dünnem Stoff hergestellt und mit bunten Mustern verziert. Ich hatte sie nicht einmal zu Hause in solchen Klamotten gesehen.
„Hey, wie gehts?", begrüßte sie mich und umarmte mich mit ihrem kratzigen Pulli, „Alles gut gelaufen auf der Fahrt?"
„Jaja, mir gehts gut", gab ich zurück, „Sind ja schließlich Ferien."
Zoey lachte.
„Komm", sagte sie, „Ich helfe dir schnell."
Ohne mir Zeit zum Antworten zu geben, schnappte sie mein Gepäck und hievte es die Holztreppe herauf. Ich ging ihr hinterher. Sie stieß die Tür zu ihrer Wohnung auf.
„Willkommen in meinem Reich", sagte sie mit einem ironischen Hauch von Klischee. Ich sah mich erstaunt um. Wir standen im Wohnzimmer, in dem aber neben einem Esstisch mit zwei Stühlen auch eine Ecke mit Sofas, Sitzsäcken und eine Stehlampe untergebracht waren. Außerdem thronte ein riesiger Fernseher auf einem niedrigen Regal vor der Sitzgruppe.
Es war deutlich, dass nicht auf ein bestimmtes Farbschema geachtet wurde, sondern Zoey alles in ihr zu Hause aufgenommen hatte, was sich anbot. Der gesamte Raum war riesig und erinnerte eher an ein Atelier, als an eine Studentenwohnung. Geschuldet war dies wahrscheinlich den Backsteinmauern und großen Fenstern, die sich in der Ecke hinter den Sofas von einem halben Meter über dem Boden bis unter die Decke erstreckten. So hatte man einen guten Blick auf die Kreuzung, an der das Gebäude lag. Es wunderte mich, dass Zoey so eine gute Wohnung hier in Köln erwischt hatte. Als hätte ich gefragt, erklärte sie: „Ich arbeite unten drunter in der Bäckerei, zwar fällt mein Gehalt etwas knapper aus, aber dafür muss ich mich nicht um die Miete kümmern. Cool, nicht wahr?"
„Allerdings", sagte ich.
„Eigentlich ist es hier nie so ordentlich", gestand sie während sie sich, die Hände in die Seiten gestemmt, im Raum umsah, „Ich habe nur für dich aufgeräumt."
Ich schmunzelte.
„Die Mühe hättest du dir gar nicht machen müssen", erklärte ich, „Bei mir sieht es auch nicht gerade so vorbildlich aus."
„Keine Sorge", gab Zoey zurück, „In spätestens drei Tagen ist hier wieder alles beim Alten."
„Na dann...", sagte gespielt erleichtert.
„Komm, ich zeig' dir mal das Zimmer."
„Bekomme ich ein eigenes Zimmer?", fragte ich erstaunt.
„Nicht ganz", erklärte sie, „Ich wollte dich nicht dazu zwingen auf der harten Couch zu schlafen, also kannst du mit mir im Bett schlafen, wenn es dir nichts ausmacht. Platz genug ist auf jeden Fall."
„Ja, danke, kein Problem", antwortete ich mit einer Spur der Nervosität in meiner Stimme.
„Ok, dann ist ja gut", sagte sie. Sie zögerte kurz.
„Oh, mir fällt gerade ein, ich muss noch eine Freundin anrufen", wechselte sie das Thema.
„Oh, in Ordnung", sagte ich, „Ich lege mich mal aufs Sofa, dann kannst du hier telefonieren."
Ich schloss hinter mir die Tür und ging über den knarzenden Holzboden zur Sitzecke.
Ich ließ mich auf die Couch fallen, die statt nachzugeben laut aufquietschte. Zoey hatte absolut recht, es war wahrscheinlich unmöglich auf einem so unbequemen Schlafplatz die Augen zuzumachen.
Die bunten Kissen, gegen die ich mich lehnte, waren zwar ein wenig staubig, aber relativ weich. Ich schnappte mir eine der Zeitschriften, die zerknickt zwischen anderen Magazinen auf dem Glastisch vor dem Sofa lag.
Die Themen waren nicht ungewöhnlich und fast alle ereignislos, auch wenn das Blatt mit allen Mitteln versuchte, es anders darzustellen. Während ich Zoey dumpf im Nebenzimmer telefonieren hörte, blätterte ich gelangweilt durch die dünnen und bereits verknitterten Seiten, überflog die meisten Artikel nur, bis eine Überschrift meine Aufmerksamkeit erregte. Der Zeitung entsprechend, wirkte der Titel nicht außerordentlich seriös, dennoch weckte dieser mein Interesse.
„Gewickelt modisch unterwegs: Werden Windeln zum neuen Modetrend?"
‚Was für ein aufgeblasener Schwachsinn', dachte ich mir sofort. Doch aus irgendeinem Grund las ich weiter.
„Windeln soll nicht länger Kleinkindern und Menschen mit Inkontinenz vorenthalten sein, so lautet das Motto der Modekette „Wathos".
Ich könnte hören, wie Zoey sich am Telefon verabschiedete. Ohne viel nachzudenken riss ich den Artikel aus der Zeitung heraus und knäulte ihn in meine Hosentasche. Zoey kam wieder aus dem Zimmer. Sichtbar nachdenkend ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.
„Ich müsste ein paar Sachen besorgen und eine Freundin von mir würde mitkommen", erklärte sie, „Willst du hier bleiben oder auch mitkommen?"
Die Langeweile hatte mich heute schon genug geplagt, es war jetzt bestimmt genau das Richtige, etwas zu tun und nicht nur herumzusitzen.
„Klar, gerne", sagte ich.
„Nimm am besten ein bisschen Geld mit, vielleicht willst du ja auch was kaufen", sagte sie.
Ich tippte auf meine Hosentasche.
„Habe ich schon", sagte ich kurz.
„Gut, dann los", sagte sie und zog schon ihre dicke Felljacke und ihre Winterstiefel an und war schon beinahe auf dem Weg nach unten.
„Warte", sagte ich, „Läuft das jetzt auf das Besorgen von ein paar Sachen oder auf eine Shoppingtour hinaus?"
Während Zoey schon die Treppen hinunterlief drehte sie sich zu mir um.
„Beides."

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