Teil 5

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Als ich aufwachte, lag auf meinem Kopf ein kalter Waschlappen und die Decke war mir bis unter das Kinn gezogen. Es war schön bequem und bis auf ein wenig Kopfschmerzen ich fühlte mich entspannt. Ein wenig mehr Schlaf könnte wohl nicht schaden. Gerade wollte ich die Augen wieder schließen, als mich plötzlich die Ereignisse von vorhin wie ein Ziegelstein trafen. Panik durchströmte meinen Körper. Sofort sah ich mich um, um zu sehen, wo Zoey war. Ich drehte meinen Kopf Richtung Bad, als ich von dort einige Geräusche hörte.
Langsam lehnte ich mich nach vorne, um einen Blick zu erhaschen. Stück für Stück richtete ich mich auf und spähte um die Ecke. Abwartend sah ich ins Badezimmer.
Plötzlich Fußschritte.
Sofort legte ich mich wieder ins Bett und zog mir die Decke bis unter die Nase, als würde sie mir Schutz bieten. Unwissend, was ich erwarten sollte, krallte ich meine Finger in den Stoff der Daunendecke. Was sollte ich tun? Meine Gedanken stockten und mir war unklar, wie ich mit der Situation umzugehen war. Auch wenn diese Person genau aussah wie Zoey, war sie im Inneren doch ein Fremder. Ein Unbekannter.
Ich überlegte, was ich tun sollte. Hier zu bleiben erschienen mir keine Option zu sein. Ich strengte mich an.
Ein Gedanke schoss durch meinen Kopf: weglaufen.
Schon das erste Hindernis könnte meinen Plan zum Scheitern verurteilen, denn bevor ich irgendetwas tun konnte, musste ich an der offenen Badezimmertür vorbei. Mit angehaltenen Atem und gespitzten Ohren lauschte ich aufmerksam. Eine gefühlte Minute wagte ich mich nicht zu rühren und lag mit weit offenen Augen unter der Decke. Noch viel lauter als die gedämpften Geräusche aus dem Bad hörte ich meinen Herzschlag in den Ohren. Ich durchdachte meinen Plan. Plötzlich überkam mich der Pessimismus. Ich hatte doch gar keine Chance. Allein das knarzende Holz würde mich schon bei den ersten Schritten verraten. Bis zum Treppenhaus zu gelangen erschien unmöglich. Sollte ich es doch lieber lassen? War es vielleicht doch nicht das Risiko wert? Entmutigt sank ich noch tiefer in mein Kissen und wollte innerlich aufgeben. Ich atmete langsam aus.
Doch die Götter schienen es gut mit mir zu meinen, zumindest zog ich diesen Schluss aus dem, was ich aus dem Bad hören konnte. Zuerst kleine, dann größere Tropfen, die auf dem Fliesenboden aufkamen.
Zoey hatte die Dusche angestellt.
Mein Herz, das sich gerade erst wieder beruhigt hatte, begann wieder laut zu schlagen. Das war meine Chance. Meine einzige Chance. Das durfte ich auf keinen Fall versemmeln. Noch einen kurzen Moment wartete ich ab, wagte es kein Geräusch zu machen. Das klappernde Geräusch des Duschvorhangs, wie er zur Seite und wieder zurückgezogen wurde.
Das war mein Startsignal!
Ich warf die Decke beiseite, sprang aus dem Bett und rannte ins Wohnzimmer. Von meinen Klamotten zog ich nur das nötigste an, Jeans, Pulli, Socken. Alles saß schief, doch darauf kam es nicht an. Ich schnappte meinen Rucksack vom Sofa und zog hastig meine Jacke über. Meine Winterschuhe band ich nicht einmal, bevor ich die Treppen hinuntereilte.
Ich stürmte stolpernd den Flur entlang und öffnete schwungvoll die Tür zur Straße. Bereit zum Rennen aber ohne Plan stand ich da. Mist! Ich hätte mir vorher wirklich mehr Gedanken machen sollen. Eher aus dem Bauchgefühl als aus einer rationalen Entscheidung heraus machte ich mich schnellen Schrittes zur nächstgrößeren Straße auf. Natürlich wusste ich, dass Zoey noch nicht einmal die Dusche verlassen hatte, dennoch wollte mich die Erwartung nicht loslassen, jeden Moment Schritte hinter mir zu hören, gefolgt von einer kalten Hand auf der Schulter. Meine Schritte beschleunigten sich.
An einer Straße angekommen warf ich nach links und rechts einen scharfen Blick. Da! Eine Bushaltestelle. Egal wohin, Hauptsache weg.
Ich wartete auf einem der Sitze an der Sitze. Wie kalt dieser war, kümmerte mich weniger, das Warten war meine eigentliche Angst. Nervös wippte ich mit meinem Bein auf und ab.
Ein Bus hielt an der Haltestelle und ohne viel Nachzudenken stieg ich ein.
„Wohin?", fragte der Fahrer.
Ich warf einen Blick auf die Endstation auf der Leuchttafel.
„In die Zöglerstraße."
„Erwachsener oder Kind?"
„Erwachsener."
„2,50 € bitte."
Ich griff in meine Hosentasche. Zuerst die linke, dann die rechte. Ein heißer Schauer durchlief meinen Körper. Ich hatte mein Portmonee vergessen. Hektisch durchwühlte ich all meine Jackentaschen nach Kleingeld. Ein paar 20- und 50-Cent Münzen und viel Kupfergeld.
„Junge, wenn du das Geld nicht hast, dann geh wieder", sagte der Busfahrer ungeduldig.
„Ich hab's gleich", erwiderte ich, ohne zu wissen, ob das die Wahrheit war. Klimpernd legte ich den Münzhaufen auf die metallene Zahlfläche.
Der Fahrer stöhnte auf und begann das Geld einzusortieren.
„Da fehlen sieben Cent."
So ein Mist, das durfte doch nicht wahr sein!
Auf dem vordersten Sitz saß ein Mädchen in meinem Alter.
„Entschuldigung, könntest du mir ein paar Cent leihen?", fragte ich so freundlich, wie es mir der Stress erlaubte. Schmerzhaft langsam sah sie von ihrem Handy auf.
„Wozu brauchst du die denn?", fragte sie.
„Ist für mein Ticket", erklärte ich gehetzt.
Nun fuhr mich der Fahrer wieder an.
„Ich habe echt keine Zeit für deine Aktion hier! Entweder du hast jetzt das Geld oder du lässt uns mit deinem Theater in Ruhe und verschwindest."
Ich sah das Mädchen mit flehendem Blick an. Sie rollte nur ihre Augen, griff in ihre Hosentasche und drückte mir zehn Cent in die Hand. Ich legte es sofort dem Busfahrer vor die Nase.
„Na endlich", sagte er genervt und gab mir das Ticket.
Gegenüber von dem Mädchen war noch ein Platz frei, also setzte ich mich dort hin, gerade noch rechtzeitig, bevor der Fahrer das Gaspedal durchtrat und den Bus beinahe zum Abheben brachte.
Erleichtert atmete ich aus und sah aus dem Fenster. Mein Herzschlag beruhigte sich wieder.
„Wohin fährst du denn?"
Ich sah zum Mädchen.
„Ist kompliziert"
Sie warf einen schrägen Blick auf mich.
„Ich finde, du könntest mir ruhig mal sagen, warum du so ein Theater gemacht hast, immerhin hättest du ohne mich eine halbe Stunde auf den nächsten Bus warten müssen."
Ihre erwartungsvollen Augen lächelten mich an.
„Naja", begann ich, „Also meine Stiefschwester hat sich irgendwie komisch verhalten. Sie ist sonst eigentlich nie so, keine Ahnung..."
„Und?", fragte sie neugierig, „Deshalb fliehst du praktisch vor ihr?"
Sie lachte.
„Man sollte sich ja besser aus der Gefahrenzone begeben, bevor die Situation eskaliert."
Mit einem neckenden Grinsen lehnte sie sich zu mir nach vorne.
„Also, die Wahrheit bitte."
Ich zögerte. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, war meine Geschichte alles andere als glaubhaft, ja sogar lächerlich. Aber was sollte ich denn sonst sagen?
„Sie hat so ein neuartiges Produkt ausgetestet und irgendwie hat sie das verändert."
„Und was war das?", fragte sie neugierig, als würde sie mit einem Kleinkind sprechen.
„Ich weiß auch nicht genau, ich glaube, es waren so ... Inkontinenzprodukte."
Anders als erwartet füllte nicht ihr lautes Auflachen den Bus, stattdessen machte sich Stille breit. Ihr Lächeln verschwand.
„Meinst du diese Windeln?", fragte sie mit gesenkter Stimme.
„Ähm, ... ja", erwiderte ich ebenfalls mit leiser Stimme.
Sie dachte sichtbar nach. In ihren Augen spiegelten sich plötzlich die gleichen Gefühle wie meine wider.
Sie sah zur Seite aus dem Fenster, als würde sie nachsehen, ob wir beobachtet würden.
„Weißt du", sagte sie, „Meine Mutter verhält sich auch seit ein paar Tagen seltsam. Sie ist so dauerfreundlich und..."
Sie suchte nach den passenden Worten.
„Sie ist wie ausgetauscht."
Das Mädchen sah mich besorgt an und schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte.
„Trägt deine Mutter denn auch die gleichen Windeln?"
„Weißt du, bei uns ist es mit dem Geld immer ein wenig knapp. Meine Mutter tut, was sie kann, damit es uns gut geht. Eines Tages hat sie uns erzählt, sie testet ein neues Produkt für eine Firma aus, wofür sie natürlich bezahlt würde."
Sie holte tief Luft.
„Sie wollte ja nur das Beste für uns und ein wenig dazuverdienen, aber hätte ich gewusst, was das mit ihr anstellt, hätte ich das niemals zugelassen."
Sie seufzte.
„Das Beste ist es wohl, wenn ich einfach mit ihr rede."
In Gedanken an Zoey zog sich in mir alles zusammen. Es war wahrscheinlich gar keine gute Idee, mit ihr zu reden.
„Vielleicht solltest du das lieber lassen", riet ich ihr.
„Wie meinst du das?"
„Ich denke, du solltest jetzt lieber nicht mit ihr reden."
„Seit wann kannst du mir sagen was ich zu tun und zu lassen habe? Ich kenn' dich ja kaum."
„Ich meine das ja nicht böse, es ist nur zu deinem eigenen Schutz."
„Schutz? Vor meiner eigenen Mutter?"
Sie sah mich ungläubig an.
„Ich bin mir ja selbst nicht sicher, aber die Windeln scheinen den Charakter einer Person komplett auszutauschen, quasi zu überschreiben. Wer weiß, wie sich deine Mutter noch verändert hat. Wir können keinem trauen, der diese Produkte genutzt hat. Die sind alle unberechenbar. Das ist jetzt ein Fremder! Jemanden den du nicht kennst!"
Eingeschüchtert von meinen Worten, schwieg sie. Sie presste die Lippen aufeinander und eine Träne rollte ihre Wange herab, die sie schnell wieder mit dem Ärmel wegwischte.
Meine Wortwahl war wohl doch etwas hart gewesen. Sanft legte ich meine rechte Hand auf ihr Knie.
„Tut mir leid, das wollte ich nicht."
Sie schniefte.
„Schon in Ordnung, du hast ja recht."
Sie sah aus dem Busfenster.
„Und was jetzt?", fragte sie. Ich überlegte, denn ich wusste es auch nicht.
„Ich hab eine Idee", sagte sie.
Ich hörte gespannt zu.
„Meine Tante lebt hier in der Nähe. Wir müssten nur noch ein paar Stationen weiterfahren."
„Aber woher wollen wir wissen, ob sie nicht auch diese Windeln trägt?", wollte ich besorgt wissen.
„Ganz sicher nicht. Die kauft nur Ökozeug und sowas. Würde sie Windeln tragen wären die höchstens aus Stoff."
Ich lächelte. Sie sah mit ihren immer noch nassen Augen hoch in meine Augen und lächelte ebenfalls. Sie streckte ihre Hand aus und ließ sie in meine fallen.
„Ich bin übrigens Marie."
Wir sahen beide aus dem Fenster.
„Conrad."

Wir waren an der Haltestelle angekommen.
„Von hier aus müssen wir zu Fuß gehen", sagte Marie laut, beinahe übertönt vom Aufheulen des Busses.
„Sind aber höchstens 400 Meter. Komm schon."
Nebeneinander liefen wir durch die immer schmaler werdenden Straßen, die schließlich nur noch Gassen waren, bis wir vor einer kleinen Tür standen.
Marie drückte auf die Klingel.

Eine neue Welt - Eine ABDL-GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt