Teil 10

1.9K 17 0
                                    

Die Sonne stand bereits tief und warf ich goldenes Licht auf mich, als ich durch die Vordertür wieder ins Freie trat. Es war Abend, doch fühlte es sich wie ein warmer Fühlingsmorgen an. Ich schloss die Augen und ließ die Atmosphäre einwirken. Mein ganzer Körper fühlte sich fantastisch an. Ich atmete wieder aus und öffnete die Augen. Die Leute liefen genauso wie vorher mit schnellen Schritten durch die Straßen und schienen kaum auf ihre Umwelt zu achten. Mir aber entging kein Detail. Ich nahm jeden Flügelschlag einer Taube und jeden erfrischenden Windzug wahr. All die Farben, die vorher immer blasser geworden waren, strahlten wieder in voller Pracht. Die Stadt war eine Uhr und ich konnte plötzlich an den Zeigern drehen. Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich war so vollkommen.
Ein paar Schritte entfernt lud eine Bank zum Hinsetzen ein, also nahm ich Platz. Erst jetzt bemerkte ich wieder die weich polsternde Windel unter meinem Hintern. Es war, als wären Windeln schon lange Teil meiner Kleidung, als hätte ich sie schon seit Jahren getragen.
Ich seufzte. Ich könnte gerade noch einmal die Augen zumachen. Dort hatte ich höchstens zwei Stunden geschlafen und das neben einigen anderen Testern. Doch scheinbar war das genug Zeit für die Windel um zu funktionieren. Man hatte mir noch einen Schnuller mitgegeben, wie einem Kind eine Packung Gummibärchen beim Arzt, doch den hatte ich vorerst in meine Hosentasche gesteckt.
Mit einem Lächeln sah ich auf die hohe Glasfront des Gebäudes, in der sich die Abendsonne reflektierte. Genau in diesem Moment kam eine junge Frau aus dem Eingang heraus. Sie war das Selbstbewusstsein in Person. Stolz lief sie in ihrer Lederhose, die ihre Kurven mehr als betonte. Doch auch ihren Windelpo konnte man deutlich darunter erkennen. Sie jedoch schien das nicht im Geringsten zu stören, sie trug ihre Windel mit einer solchen Selbstsicherheit, als würde sie die Blicke der Leute genießen.
Ich schmunzelte nur, denn dieses Gefühl war mir gerade nicht unvertraut.
Auf eine bestimmte Art war ich aufgeregt. Auf die gleiche Weise, wie wenn man sich etwas Neues kauft und es kaum erwarten kann es auszuprobieren. Immerhin bedeutete die Entscheidung, die ich gefällt hatte, viel Veränderung. Gute Veränderung.
Bei diesen Gedanken schlich sich erneut ein feines Lächeln auf meine Lippen.
„Hey!"
Überrascht sah ich zu meiner Seite. Marie stand vor mir.
„Hey!", begrüßte ich sie herzlich.
Sie fiel mir um den Hals und drückte mich fest. Einen kurzen Moment stand alles still, bis wir wieder die Arme voneinander Schultern nahmen. Stolz daran gedacht zu haben, streckte sie ihre Hand mit meinem Rucksack zu mir.
„Super, den hätte ich glatt vergessen! Du bist einfach die Beste!"
Etwas verlegen konnte Marie doch nicht anders, als etwas zu grinsen.
„Moment, ich setze ihn dir auf."
Behutsam streifte sie die Gurte über meine Schultern.
„Hmmm", merkte Marie an.
„Was denn?", wollte ich wissen und versuchte Marie über meine Schulter anzugucken.
Sie trat näher an mich heran und musterte mich anschließend von oben bis unten.
„Benutzt du plötzlich ein anderes Duschgel als sonst?"
Ich runzelte die Stirn.
„Das bei deiner Tante war ohne bestimmten Geruch. Was soll denn sein?"
„Du riechst ganz anders als sonst."
Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Wahrscheinlich nur Büromief."
„Ist aber ein ganz bestimmter Duft, irgendwoher kenne ich das."
Maries Augen wurden groß.
„Du hast dich doch nicht von denen anfassen lassen, oder?"
In einer beruhigenden Geste legte ich meine Hand auf ihre Schulter. Doch Marie betrachtete meine Hand, als wäre diese eine giftige Spinne, bereit ihr ins Gesicht zu springen.
„Marie, es gibt da ein paar Dinge, die ich deshalb noch mit dir besprechen muss. Das alles ist ein wenig anders, als du vielleicht denkst."
„Haben die dich etwa gezwungen diese scheußlichen Windeln anzuziehen?"
Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
„Marie, bitte lass uns das in Ruhe besprechen. Diese ganze Sache ist gar nicht so schlimm, wie sie scheint."
Ungläubig schüttelte sie nur den Kopf.
„Marie, bitte hör mir zu, die Menschen werden gar nicht unfreiwillig verändert, man sich das selber aussuchen."
In ihren nassen Augen konnte ich lesen, dass jede Erklärung zu spät kam. Sie hatte ihr Urteil schon gefällt.
„Und woher weißt du das so genau?", fragte sie mit hoher Stimme und wartete flehend auf die Antwort, dass es nicht die Wahrheit war. Mein langer Blick war mehr als genug, um ihr das Gegenteil zu sagen. Sie blickte zu Boden. Eine zarte Träne kullerte ihre Wange hinab. Tröstend wollte ich sie in die Arme nehmen, sie drückte mich zurück.
„Bitte tu das nicht", sagte sie, so bestimmt wie sie konnte.
„Aber Marie-"
„Bitte fass' mich nicht an."
Befremdet wich ich zurück.
„Marie, es bin doch immer noch ich, Conrad. Dein Conrad."
„Blödsinn! Ein Fremder bist du, so hat Conrad es gesagt!"
„Marie, du verstehst das ganz falsch", wollte ich sie beruhigen, „Die Windeln tauschen den Charakter einer Person nicht aus, es ist eher wie eine Erweiterung, verstehst du?"
Wieder schüttelte sie widerstrebend den Kopf.
„Du bist doch ebenso verändert wie alle anderen auch! Warum sollte ich dir jetzt glauben?"
„Ich kann es dir unmöglich beweisen. Du musst mir einfach vertrauen."
„Ich habe dir vertraut. Ich bin immer deinen Ratschlägen gefolgt. Ich habe all das mitgemacht. Und jetzt betrügst du mich einfach so?"
Sie sah mich mit scharfen Blicken an und musste sich sichtlich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
„Ich glaube, ich habe mehr als genug Gründe, um das jetzt selber in die Hand zu nehmen."
Mit nassen Augen, aber zugleich entschlossener Miene wandte sie sich von mir ab und ehe sie auch nur 30 Meter gelaufen war, war die schlanke Figur mit den lockigen Haaren bereits mit der Menge verschmolzen. Mit angehaltenem Atem sah ich in die Richtung, in die sie verschwunden war. Ich musste irgendetwas tun, ich konnte doch nicht untätig bleiben! Doch die Ketten der Emotionen zogen von allen Seiten an mir und ich konnte keinen Schritt vor oder zurück machen.
Noch nie hatte ich mich auf einen Schlag so einsam und verloren gefühlt. Und noch nie hätte ich gerne die Zeit zurückgedreht.
Doch ich wusste genau, wohin ich jetzt musste.

Eine neue Welt - Eine ABDL-GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt