Teil 7

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Am nächsten Morgen wachte ich mit einem starken Kaffeegeruch in der Nase auf. Ich sah auf das Sofa. Die Wolldecke, die letzte Nacht als Bettdecke gedient hatte, war bereits wieder ordentlich zusammengelegt und von Marie war keine Spur.
Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und erhob mich von der Matratze. Gähnend streckte ich meine Glieder und macht mich, der Quelle des Kaffeedufts nach, auf den Weg in die Küche.
An dem kleinen Holztisch mit zwei Stühlen saßen Marie und ihre Tante, beide mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Ihre Blicke erinnerten an die von zwei feinen Damen, die gerade beim Teetrinken gestört worden waren.
„Hat es die Schlafmütze auch endlich geschafft?", neckte Marie mich, „Es tut mir leid, aber es gibt nur zwei Stühle und wer zuerst kommt, malt zuerst, also musst du wohl auf dem Boden frühstücken."
Beide lächelten verschmitzt.
„Schon gut, ich brauche nur eine kalte Dusche und ein wenig frische Luft um aufzuwachen", erwiderte ich wohlgesonnen.
„Ich darf doch das Bad benutzen?", versicherte ich mich.
„Fühl die wie zu Hause."
Ich nickte und machte mich auf Richtung Badezimmer.
„Aber in der Dusche wird nicht gepinkelt!"
„Tante Evelin!"
Ich lächelte nur und schloss die Tür hinter mir. Meine inzwischen nicht mehr allzu frischen Klamotten faltete ich ordentlich und legte die auf die Heizung vor dem Fenster. Unten auf der Straße erblickte ich eine Frau. Sie war wohl ebenfalls eine Testerin, ihre Silhouette war nicht zu verkennen. Ein junger Mann neben ihr schien ebenfalls eine Windel zu tragen. Dann erblickte ich ein Mädchen, etwa in meinem Alter, deren Hosenbund den weißen Rand ihrer Windel ebenfalls nicht verdeckte. Mein Blick wanderte immer schneller von Person zu Person und immer mehr Windeln entdeckte ich. Niemals konnten das alles nur Tester sein. Nicht wenige hatten sogar einen Schnuller im Mund. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück und zog rasch die Vorhänge zu.
Nach diesem Anblick hatte ich eine kalte Dusche mehr als nötig. Doch während das eisige Wasser auf meine Schultern prasselte, waren meine Gedanken immer an einem anderen Ort. So viele Dinge gingen mir durch den Kopf, dass es mir schwerfiel, nicht den roten Faden zu verlieren. Zuerst dachte ich daran, wie ich dem ganzen ein Ende setzen könnte, aber diese Aufgabe war schier unmöglich. Wie sollte ich das überhaupt anstellen? Einfach das Firmengebäude finden und „Hallo" sagen? Das würde wohl kaum funktionieren. Sollte ich das tatsächlich versuchen, bräuchte ich einen wasserfesten Plan.
„Wie lange willst du denn noch das Bad besetzen?"
Marie klopfte an der Tür.
Ich hatte ganz vergessen, wie lange ich schon geduscht hatte. Hastig drehte ich das Wasser ab und sprang aus der Dusche.
„Sorry, ich bin gleich fertig."
Ich nahm eines der Handtücher aus dem Schrank und trocknete mich ab. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich gar keine frischen Klamotten dabei hatte. Ohne eine andere Wahl zog ich mir wieder die gleichen Klamotten an und schloss das Bad auf.
Marie stand vor mir mit genervtem Blick.
„Ich mache mir hier schon fast in die Hose."
Sie stürmte ins Bad und schloss eilig die Tür hinter sich.
„Tut mir leid", sagte ich abwesend.
Mit immer noch nassen Haaren setzte ich mich auf das Sofa. Aus Gewohnheit zog ich mein Handy aus der Tasche.
‚12 verpasste Anrufe'
Noch bevor ich mein Smartphone entsperrte, wusste ich bereits, von wem diese Anrufe kamen, was mir aber nur mehr Angst bereitete.
Mit der Hoffnung den Gedanken zu verdrängen, öffnete ich Google und tippte auf die Suchleiste.
„Wathos Firma Standort"
Erstaunlicherweise war sie zu Fuß nur etwa eine halbe Stunde entfernt. Am liebsten hätte ich mich sofort auf den Weg gemacht, doch erst jetzt fiel mir ein, dass ich es noch gar nicht mit Marie besprochen hatte, geschweige denn jegliche Art von Plan zu haben.
Sie kam gerade wieder aus dem Bad und bürstete im Laufen ihre Haare.
„Hey Marie", begann ich. Sie blieb stehen.
„Hm?"
Mit einer unauffälligen Geste deutete ich zum Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren. Zusammen warfen wir einen Blick durch den Spalt. Es dauerte einen Moment, bis Marie verstand und sich die Hand vor den Mund schlug. Die Angst in ihren Augen war unverkennbar.
„Wenn meine Tante das sieht, bekommt sie doch einen Herzinfarkt."
Nach einigen Sekunden löste sie sich wieder aus ihrer Starre.
„Schnell, auch die anderen Vorhänge zu."
Wir eilten von Fenster zu Fenster und zogen Rasch ein Vorhang nach dem anderen zu. Dann standen wir uns wieder gegenüber.
„Und jetzt?", fragte Marie ängstlich.
Ich kratzte meine Nase.
„Ich weiß es nicht."
Nervös sah Marie erst in die Küche dann zu den Fenstern. Sie suchte verzweifelt nach einer Lösung. Sie brauchte einige Anläufe, um eine Frage zu stellen.
„Wie, also...
Wie dachtest du....
Was sollen wir denn jetzt machen? Wenn sich bald nichts ändert wird sie es sowieso erfahren."
Wild gestikulierte sie mit den Händen. Ich sah zuerst auf den Boden, dann zu Marie.
„Deswegen sollten wir etwas unternehmen."
„Aber was denn, ich meine-"
Sie stockte.
„Du willst das doch nicht etwa alleine versuchen?"
Doch genau das war mein Plan. Es war zu erwarten, dass Marie weniger als glücklich darüber sein würde.
„Können wir nicht einfach die Polizei dafür rufen?"
„Die haben wohl Wichtigeres zu tun, als einer Firma für Inkontinenzprodukte hinterherzuspionieren. Dazu brauchen die ja erst einmal etwas gegen die in der Hand. Beweise. Beweise, die ich liefere."
„Und wie willst du das anstellen?"
Ich fuhr durch meine Haare.
„Ich könnte mich als Tester ausgeben. So komme ich ins Gebäude und mit Sicherheit auch an einige Informationen. Die sind ja schließlich der Schlüssel."
Maries Blick war voller Sorgen.
„Und was ist, wenn das nicht klappt?"
„Das passiert schon nicht, das weiß ich, in Ordnung?"
Akzeptierend nickte sie zart.
„Ich schaff' das schon", sagte ich und legte eine Hand auf ihre Schulter.
Marie widersprach mir nicht. Stattdessen sah sie mir mit großer Sorge als auch mit viel Stolz tief in die Augen. Ich erwiderte ihren Blick. Wir beide wussten, dass diese Aktion nicht ungefährlich sein würde. In unseren Augen spiegelte sich wider, wie viel wir füreinander empfanden und wie sehr wir darum fürchteten, es zu verlieren. Unsere Blicke sprachen mehr als tausend Worte jemals hätten ausdrücken können. Unsere Gesichter näherten sich langsam und ihre Lippen landeten auf den meinen. Ich legte meine Arme auf ihre Schultern und sie tat es mir nach. Am liebsten hätten wir für immer so verweilt. Jetzt schien alles so perfekt, jede Sorge schien wie weggeblasen. Doch wir lösten uns und landeten wieder auf dem Boden der Realität.
Wieder sah sie mir besorgt in die Augen.
„Und wann willst du gehen?"
Ich selber musste mich kurz sammeln, bevor ich sprach.
„Je früher, desto besser."
Hinnehmend nickte sie mit dem Blick auf dem Boden. Sie atmete ein.
„Nagut. Ich kümmer' mich so lange um Tante Evelin."
Ich lächelte.
„Ich pack' das schon."
„Und was ist, wenn das alles vorbei ist?"
„Dann ist der Spuk hoffentlich vorbei. Niemand trägt mehr Windeln, deine Tante bemerkt erst gar nichts davon und wir können wieder nach Hause."
Dabei musste ich wieder einmal an meine Stiefschwester denken. Innerlich betete ich, dass die alte Zoey da noch irgendwie drinsteckte. Dann könnte man sie bestimmt auch zurückgewinnen. Doch ich verdrängte den Gedanken schnell wieder.
An der Haustür umarmten wir uns noch einmal lange und innig.
„Viel Glück!", rief Marie mir noch hinterher und winkte.
Marie rief: „Ich hole dich dann ab, schick einfach eine Nachricht!"
Ich streckte beide Daumen in die Höhe, während ich um die Ecke bog und winkte ihr noch einmal zu, bevor ich sie nicht mehr sehen konnte.

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