Kapitel 27

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„Grace, alles was wir wollten, war dich zu beschützen."

„Gia war verrückt."

„Es passierte als ihr beide drei wart. Sie hat versucht dich mit einem Kissen zu ersticken und wir waren gezwungen sie wegzugeben."

„Du kanntest Gia nicht. Sie war zu allem fähig."

Die Stimmen meiner Eltern hallten in meinem Kopf, wie unerträgliche Echos. So, als würde man einen gehassten Song in Dauerschleife hören müssen.

Ich wusste nicht mehr genau wie viel Uhr es gewesen war, als ich aus unserem Haus gestürmt war, über meine Schulter geschrien hatte, dass sie mir ja nicht folgen sollten, ich mir mein Skateboard geschnappt hatte und die Straße heruntergerast war. Ich war mit einem Tunnelblick den Berg heruntergefahren und wäre bei einer scharfen Kurve fast mit einem Auto zusammengestoßen.

Jetzt saß ich im Skatepark. Keine Ahnung wie lange ich schon hier war. Jedenfalls verriet mir ein Blick auf mein Handy, dass es bereits vier Uhr war. Ich saß oben auf der Havepipe und starrte zum Meer. Meine Tränen waren aufgebraucht. Ich befand mich wohl eher im Schockzustand, weil ich keine Ahnung mehr hatte, was ich glauben sollte.

Ich hatte tatsächlich eine Schwester gehabt - einen Zwilling... Und jetzt war sie tot - ermordet worden...

Mit diesem Gedanken kam ich nicht klar. Wie konnten meine Eltern mir nur so etwas verschweigen?! Das würde ich ihnen nie verzeihen können - niemals.

Gianna war verrückt gewesen, hatte Mom gesagt. Was war schon verrückt? Hatte nicht jeder Mensch seine Macken? Und überhaupt, wie konnte Mom so etwas behaupten? Ich meine, Gianna war drei gewesen! - Ein Kleinkind! Wie kann man nur zu seinem eigenen Kind sagen, es wäre verrückt?

Die größte Frage in meinem Kopf war allerdings warum ich mich nicht an Gianna erinnern konnte. Gut, wir waren drei gewesen, aber ich hatte mal gehört, dass Zwillinge verbunden waren. Warum also konnte ich mich nicht an sie erinnern? Ich hielt inne und überlegte angestrengt. Zum ersten Mal in meinem Leben fragte ich mich: Was ist meine erste Erinnerung? Was war meine jüngste Erinnerung, an die ich mich entsann?

Plötzlich tauchte ein Bild vor mir auf, wie ich mit Mom eingequetscht in meinem ehemaligen Kinderbettchen saß und sie mir Cinderella vorlas. Doch es lag kein zweites Mädchen mit genau dem gleichen brauen Haaren und den grünen Augen wie ich sie besaß, mit uns im Bett. Da waren nur Mom und ich, so wie ich geglaubt hatte, dass es immer so war - bis jetzt. Ich hatte eine Schwester gehabt. Einen Menschen, mit dem ich mir die Gebärmutter geteilt hatte. Zwei genetisch identische Embryonen mit den gleichen Erbanlagen. Ein seltenes Geschenk der Natur. Nicht mit ihr aufgewachsen zu sein, war wie ein Stich in meinem Herzen. Dass wir keine Zeit gehabt hatten uns kennenzulernen, hinterließ einen klaffende Wunde, die sie nie mehr würde schließen können. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr Gianna kennenzulernen, unsere gemeinsame Zeit nachzuholen, denn sie war tot.

Ich würde meine Schwester Gianna Morris nie kennenlernen.

Ich würde sie nie umarmen können.

Ich würde nie mit ihr sprechen können.

Ich würde nie in mein Spiegelbild blicken können.

Unsere Ketten würden nie zusammenfinden.

Eine Leere erfüllte mich, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Die Worte meiner Eltern wollten mir nicht aus dem Kopf gehen. Meine eigene Schwester hatte mich mit einem Kissen ersticken wollen. Das glaubte ich nicht. Ein dreijähriges Kind wäre dazu nicht in der Lage. Das war Schwachsinn. Hatte Mom verzweifelt nach einer Notlüge gesucht? Kein Mensch in diesem Alter wusste wie man tötete, erst recht nicht was der Tod überhaupt bedeutete. Wie hätte Gianna mit drei Jahren wissen sollen, wie man jemanden erstickt? Du kanntest Gia nicht. Sie war zu allem fähig, drangen die Worte von Mom an die Oberfläche.

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