dreiundzwanzig

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"Ich wollte dich vor vielem schützen, genauso wie dein Vater. Aber wir haben einfach zwei verschiedene Ansichten, wie wir dich schützen wollten. Mit deinem Brief hast du mir in vielen Dingen die Augen geöffnet. Es gibt Dinge, die kann ich nicht verhindern und es gibt auch Dinge, zu denen kann dich keiner zwingen. Nächstes Jahr bist du mit der Schule fertig und dann wirst du dein eigenes Leben leben. Der Gedanke ist seltsam, mir das vorzustellen, weil es mir so vorkommt, als hätte ich dich erst letztes Jahr geboren. Du bist eigentlich mein kleiner Minnie bist, der gerade erst anfängt zu laufen... Und jetzt bist du  schon bald volljährig und dieser Gedanke macht mir Angst, weil die Zeit einfach so schnell vergangen ist." Dann schwieg sie, weil sie wusste, dass sie so langsam mit der eigentlichen Sprache herausrücken sollte. Doch für sie fühlte es sich an, wie eine Niederlage, die sie einstecken musste, Seungmin dies zu erklären, weil sie es selbst noch ziemlich mitnahm. Ihr Wunsch, ihren Sohn in einer heilen Familie groß zu ziehen, war geplatzt. Mit jedem Tag begriff sie es immer mehr, dass es ihrem Sohn viel eher geschadet hatte, als dass es ihm half und daran würde sie noch eine ziemlich lange Zeit zu nagen haben. Aber von nun an wollte sie alles richtig machen und dem Brünetten wenigstens schöne, letzte Monaten in ihrem neuen Zuhause schenken. 

"Dein Vater konnte es nie wirklich akzeptieren, dass sein einziger Sohn homosexuell ist und dadurch hat er mir immer eingeredet, welche Nachteile es für dich haben kann, obwohl es für mich kein großes Problem ist. Ich stand immer hinter dir und hab' dich verteidigt, damit er sich nicht zu sehr aufspielt. Nur der Mann kannte meine Schwachpunkte zu gut und hat mich dadurch zu seiner Marionette gemacht, dass ich nicht einmal mehr so richtig mitbekommen hab', wie ich dir geschadet habe... Er wollte dich von Hyunjin fernhalten, hat Gründe gesucht, die gegen ihn sprechen, obwohl ich nie etwas gegen dich hatte." Entschuldigend blickte sie zum Größeren, der nur leicht lächelte, doch stumm blieb. "Wir sind im Streit auseinander gegangen. Eigentlich wollte ich die Sache klären, aber er bleibt hartnäckig. Wenn er zu seinem Bruder geht, können wir deine Möbel und auch deine restlichen Sachen holen. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen, deswegen... Ich will Hyunjins Familie keine Umstände machen, aber wäre es möglich, dass er die nächste Woche auch noch bei euch bleiben könnte? Ich hab kein Geld mehr, um überhaupt noch etwas an Möbeln zu kaufen, worauf er schlafen könnte. Ich selbst schlaf' auf der Couch und weil der Großteil meines Geldes immer in das Café ging, hab ich nie wirklich viel Geld gehabt."
"Das ist kein Problem!", meinte Hyunjin, "Meine Eltern lieben ihn, als wäre es ihr eigener Sohn und sie werden definitiv nichts dagegen haben, wenn er ein paar Tage länger bleibt."

Dankbar lächelte Seungmins Mutter und warf ein Blick durch den Raum. Es war ihr unangenehm, dass sie Seungmin nicht wieder bei sich aufnehmen konnte, schließlich war es ihre Aufgabe, ihr Kind zu beschützen und ihm ein schönes Zuhause zu geben. Doch was sollte sie anderes machen? Wenn Hyunjins Eltern nichts dagegen hatten, dann musste sie sich vorerst keine Sorgen darüber machen. Irgendwann würde sie sich bestimmt dafür revanchieren können. Denn das war absolut nicht verständlich gewesen. 

"Soll ich euch die Wohnung zeigen? Also eigentlich gibt's nicht groß etwas zu zeigen, weil sie viel kleiner ist, als das Haus, aber das war die Günstigste, was ich mir leisten konnte und was frei war. Und fürs Erste wird es sicherlich reichen. Da bin ich mir sicher." 

Nickend stand die Beiden auf und folgten ihr. Irgendwie freute sich Seungmin sogar darauf, auf den neuen und doch kurzen Lebensabschnitt, der anstand. In ihm wuchs die Hoffnung, dass es doch für eine Weile ruhig werden würde und er einmal durchatmen konnte. Eben bis er auf eigenen Füßen stand und sein Leben zusammen mit Hyunjin meistern würde. Aber dafür musste er erstmal die Schule schaffen, ein Stolperstein in seinem Leben. 

"Das ist dein Zimmer. Es ist zwar nicht ganz so groß, wie im Haus, aber es ist das größte Zimmer der ganzen Wohnung. Ich möchte, dass du dich wohlfühlst und dich nicht so eingeengt fühlst."
"Mama, ich hätte auch mit einem kleinen Zimmer leben können...", maulte der Brünette und begann mit schmollen. 
"Ach, das ist halb so wild. Mir ist es ganz recht, du dich wohlfühlst. Immerhin hab ich dir für einige Zeit das Gefühl genommen. Sieh es als Wiedergutmachung oder so etwas..." 

So wurde ihnen der Rest der Wohnung gezeigt, auch wenn es nicht sonderlich viel zu zeigen gab. Die Zeit war dennoch fortgeschritten, sodass es anfing draußen zu dämmern und es Zeit war, für die Beiden zu gehen. Im Großen und Ganzen war Seungmin doch froh gewesen, wie sich das Blatt gewendet hatte und wieder einmal konnte er nur zu gut verstehen, wieso seine Mutter so gehandelt hatte. Umso glücklicher war er, dass er seinen Vater so schnell nicht mehr sehen würde. Denn um ihn würde er wohl in den nächsten Monaten einen riesengroßen Bogen machen, wenn er auch nur seinen Namen hörte. 

"Ach ja, Hyunjin..." Mit großen Augen musterte der Angesprochene die kleine Frau, wusste nicht so ganz, was nun kommen würde. "Willkommen in der Familie, weil ich das nie gesagt habe und wir einen ziemlich holprigen Start hatten. Aber ich bin froh, dass du Seungmin glücklich machst und ihn immer zur Seite standest."
"Natürlich", kicherte er, zog die Hand des Jüngeren in seine eigene, während dieser peinlich berührt zu Boden starrte und am liebsten im Boden versinken wollte. "Und das werde ich auch weiterhin tun. Ich liebe ihn und möchte nur das Beste, damit es ihm gut geht." Zufrieden lächelte sie und verabschiedete sich dann schweren Herzens von ihnen. Auch wenn sie viel lieber weiter mit ihnen gesprochen hätte. 

"Du bist echt peinlich", beschwerte sich der Jüngere, dessen Wangen mehr als nur rot geworden waren, als sie den Fahrstuhl betraten und die Türen sich geschlossen hatten. Hyunjin musste erneut grinsen.
"Ich liebe dich." Während Seungmins Rücken an der Metallwand heftete und er ihn mit glitzernden Augen betrachtete, weil ihn die Worte gerade mehr als die Welt bedeuteten, konnte es der Ältere es sich nicht nehmen lassen sich an der Querstange abzustützen, seinen Freund somit einzugrenzen und ihm keine Sekunde später seine Lippen aufzudrücken. All seine Liebe steckte er in den Kuss, der recht schnell leidenschaftlich wurde und selbst der Gong des Fahrstuhls sie nicht lösen konnte. Erst als Seungmin seinen Kopf etwas zurückzog und ihm wenig später die Tränen in die Augen schossen, weil froh war, dass ihm die Last von den Schultern genommen wurde, realisierten sie, dass sie bereits im Erdgeschoss angekommen waren. 

"Ich liebe dich auch, Hyunjin... so sehr"

𝗗𝗲𝗲𝗽 𝗗𝗶𝘃𝗲 ✧ SEUNGJINWo Geschichten leben. Entdecke jetzt